Die große Seele

Die Weisheit des Mahatma Gandhi

Ausgewählt und übersetzt
von Martin Kämpchen

Insel Verlag

Inhalt

Vorwort

»… damit du nicht unruhig wirst« Ratschläge für den persönlichen Alltag

Das gute Leben unter den Menschen

Das geistige Gesetz

Leben aus der Wahrheit

Gewaltlosigkeit

Politik und religiöses Leben

Universales Leben

Quellennachweis

Vorwort

Dieser »indische Fakir«, wie Churchill ihn in zorniger Herablassung nannte, dieses krummbeinige Männlein mit glattrasiertem Kopf, mit Knollennase und knielangem Lendenschurz hat sich dem Bewußtsein des letzten Jahrhunderts tiefer eingeprägt als viele seiner strahlenden Helden und viele seiner Finsterlinge.

Inzwischen sind 150 Jahre seit der Geburt von Mohandas Karamchand Gandhi vergangen, und doch endet kein Jahr, in dem nicht ein bedeutendes Buch über den Mahatma erscheint, das in Indien breit diskutiert wird. Seine Ideen bleiben Zündstoff; er hat heftige Gegner und ebenso heftige Fürsprecher. Das liegt, meine ich, an seiner Radikalität, die jeder im tiefsten Innern für wahr und notwendig hält, zu der sich aber nur wenige bekennen wollen. Zu fest sitzt die Bequemlichkeit im Handeln.

Faszinierend an Mohandas Karamchand Gandhi sind weniger sein politischer Erfolg und seine sozialen Reformideen. Am Ende seines Lebens hatte er zwar sein Ziel, die politische Unabhängigkeit Indiens, erreicht, doch zu einem unannehmbar hohen Preis: der von Massakern begleiteten Teilung seines Landes in Indien und Pakistan. Seine sozialen Ideen wurden von späteren Generationen beschworen, doch niemals auf breiter Basis ausgeführt. In seiner Heimat erhielt Gandhi den Ehrennamen »Mahatma« (Große Seele), doch erstarrte sein Andenken zur Ikone. Wer ihn öffentlich angreift, wird mit Empörung überhäuft, doch wer ihn in allen Dingen nachzuahmen versucht, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Die eingeschworenen »Gandhianer« gelten als eine Sekte von Gestrigen, die nicht den Mut hatten, sich von neuen Problemen und neuen Erkenntnissen herausfordern zu lassen.

Nein, faszinierend an M. K. Gandhi ist ebendiese Radikalität, mit der er an das Gute (er würde sagen, an das »Göttliche«) im Menschen glaubte und in seinem Leben diesen Glauben bis in seine letzten Konsequenzen praktisch umsetzte. »Ich bin kein Mystiker. Ich halte mich für einen praktischen Idealisten« (EW. S. 238), sagte er von sich selbst. In diesem scheinbar paradoxen, äußerst spannungsreichen Begriff des »praktischen Idealisten« zeigt sich der hohe moralische und geistige Anspruch, den er an sich und an seine Gefolgsleute stellte: Seine Ideale sollten nicht nur Ideale bleiben. Wenn der Mensch grundsätzlich gut ist, dann können die Ideale in die Praxis umgesetzt, gelebt, werden.

Einen zentralen Glaubenssatz baute er auf diesem Fundament auf: daß Gott sich unter den Menschen als »Wahrheit« (Satya) offenbart. Wahrheit bedeutet nicht nur eine faktische Richtigkeit, kein statisches Prinzip, sondern sie ist eine dynamische Kraft, die den Menschen und alle anderen Lebewesen und den gesamten Kosmos durchwirkt. Der Mensch hat die Wahl: Er kann sich gegen sie stellen oder aber in diese Wahrheitsdynamik einschwingen und ein Teil von ihr werden. Wer das Letztere wählt, bedarf der geduldigen Einübung, die vor allem auf Herzensreinheit und Selbstlosigkeit zielt. Nach dieser Vorbereitung kann der Mensch sein gesellschaftliches wie privates Leben nach der Wahrheit ausrichten, er wird jemand, der Satyagraha (das »Festhalten an der Wahrheit«) übt.

Der bedeutendste Anspruch, den Gandhi aus einem solchen Leben ableitet, ist, in allen Lebenssituationen die Gewaltlosigkeit (Ahimsa) zu bewahren und durchzusetzen. Dieser Anspruch ist wiederum kein bloßes statisches Gebot, sondern bedarf einer ständigen wachen, selbstkritischen Prüfung der eigenen Gedanken, Gefühle, Worte und Handlungen. Gewaltlosigkeit ist nicht nur Abwesenheit jeglicher Gewalt, sondern ist, positiv gewendet, praktische, lautere Nächstenliebe angesichts von Haß, Feindseligkeit, Lüge, Lauheit und Gleichgültigkeit. Mahatma Gandhi hat selbst immer wieder auf die Nähe seines Glaubens zur Bergpredigt hingewiesen.

In seinem radikalen Glauben an das Gute und Göttliche im Menschen hat Gandhi während der Unabhängigkeitsbewegung Indiens gegen die Engländer diese Idee der Gewaltlosigkeit in eine Methode zur Konfliktlösung geformt. Durch sie hoffte Gandhi, jegliche Gegner und Menschen in allen Konfliktsituationen zum Guten, zum Frieden zu bekehren. In den Gegnern wollte er dieses Gute ansprechen; er wollte durch resolute Gewaltlosigkeit die Gegner beschämen (denn Scham bezeugt den guten Kern im Menschen). Sobald die Gegner das Gute in sich selbst gewahr werden, gewissermaßen ihre eigene »Wahrheit« erkennen, lassen sie von der Gewalt ab und bekehren sich zu einer gewaltfreien, friedlichen Lösung des Konflikts. Auf diesem Glauben basierend, wollte Gandhi sämtliche Konflikte, die Kriege zwischen Nationen, die Fehden zwischen Menschengruppen sowie die Unstimmigkeiten zwischen zwei Menschen, einer friedlichen Lösung zuführen. Entweder hat die Wahrheit eine solche Kraft zur Konfliktlösung, oder sie ist nicht die Wahrheit! Aus allen Texten dieses Bändchens spricht der Geist dieser Überzeugungen.

M. K. Gandhi wurde 1869 in Gujarat, einer Provinz im Nordwesten Indiens, geboren, wurde in Indien und England augebildet und ging später als Anwalt nach Südafrika. Dort arbeitete er unter den indischen Einwanderern und begann im Kampf gegen ihre Diskriminierung seine Methode des gewaltlosen Widerstandes zu erproben. 1915 kehrte Gandhi nach Indien zurück, um dort den Kampf um die Unabhängigkeit aufzunehmen. 1947 wurde Indien frei, ein knappes halbes Jahr später, im Januar 1948, starb der Mahatma durch die Kugeln eines Mörders.

Der Einfluß Gandhis ist unterschwellig in der europäischen Friedensbewegung und zuletzt im gewaltlosen Abschied vom Kommunismus in Osteuropa spürbar gewesen. Wir wissen, daß Martin Luther King und Nelson Mandela von Gandhi beeinflußt waren. Zeit seines Lebens ist Gandhi ein unentwegter Schreiber gewesen: Er verfaßte Artikel für seine eigenen Zeitungen und ungezählte Briefe. Sein Werk wird in den neunzig schweren Bänden der Gesamtausgabe bewahrt. Ein winziger Prozentsatz dieses Werkes ist bisher in deutscher Übersetzung erschienen.

Dieses Buch bietet neue Übersetzungen von zum größten Teil nicht ins Deutsche übersetzten Texten an. Alle Texte Gandhis haben einen historischen Anlaß; viele sind schnell hingeworfen und entsprechend gedanklich und sprachlich unausgefeilt, oft handelt es sich um Mitschriften seiner Ansprachen und Interviews. Die Schwierigkeit unserer Auswahl war, repräsentative, von ihrem historischen Anlaß ablösbare Stellen zu finden, die unmittelbar zu uns heutigen Menschen in Europa sprechen.

Ich hoffe, dieses Bändchen kann zeigen, wie notwendig Mahatma Gandhis Gedankengut und Lebensbeispiel weiterhin sind. Zu einer Zeit, in der unsere Gesellschaft in Gefahr ist, ins Fahrwasser von Rechtspopulisten zu geraten, die oberflächliche, bequeme und zudem menschenverachtende Lösungen anbieten, kann uns Gandhis radikale Ehrlichkeit und politische Humanität als Richtschnur gelten.

Santiniketan (Indien)

Martin Kämpchen

»… damit du nicht unruhig wirst«

Ratschläge für den persönlichen Alltag

Ich schicke dir von Zeit zu Zeit nützliche Gedanken wie diese, damit du nicht unruhig wirst.

EW. S. 180

Ich bitte niemanden, mir nachzufolgen. Jeder sollte der eigenen inneren Stimme folgen. Wer unfähig ist, die innere Stimme zu hören, sollte es dennoch nach bestem Gewissen versuchen. In keinem Fall soll man andere nachäffen.

EW. S. 254

Aber ich weiß, wenn wir in Augenblicken der größten Schwäche in Gott vertrauen, macht er uns irgendwie stark.

My dear Child. S. 37

Nur das vollste Vertrauen und vollkommene Reinheit und äußerste Demut befähigen uns, die richtige Wahl zu treffen.

My dear Child. S. 61

Wenn wir auf Gott vertrauen, sollten wir uns nicht sorgen, so als hätten wir einen vertrauenswürdigen Wächter vor unserer Tür. Und wer kann ein besserer Wächter sein als Gott, der sich niemals verweigert. Es genügt nicht, daß wir Gott Loblieder singen oder ihn mit dem Verstand kennen. Wir müssen ihn im Innern fühlen. Und zwar so wirklich fühlen wie Schmerz oder Freude. Dann brauchen wir nicht mehr [über Gott] zu rechten. Wer kann uns durch Argumente unsere Erfahrung nehmen? Das schreibe ich, weil ich möchte, daß du absolut frei von Sorgen und Ängsten seist.

My dear Child. S. 89

Das Gefühl folgt den Impulsen des Herzens. Es kann uns leicht fehlleiten, es sei denn, wir halten das Herz rein. Es ist wie wenn man ein Haus und alles darin sauber hält. Das Herz ist die Quelle, aus der das Wissen über Gott fließt. Wenn die Quelle verseucht ist, hilft kein Gegenmittel. Und wenn deren Reinheit gesichert ist, ist nichts weiter nötig.

My dear Child. S. 91

Das Kreuz besitzt zweifellos eine universale Anziehungskraft, sobald du ihm eine universale Bedeutung gibst und nicht die enge, von der man oft in allgemeinen Gesprächen hört. Doch braucht man, wie du sagst, die Augen der Seele, um diese Bedeutung betrachtend zu erfahren.

My dear Child. S. 100

Ich wünsche mir, daß du im vollkommenen Frieden lebst, sogar wenn alles zu mißlingen scheint.

My dear Child. 102

Selbstverneinung kann nur echt sein, wenn sie Freude bringt, nicht Trauer, niemals Zorn.

My dear Child. S. 104

In diesem Augenblick ist es deine eindeutige Pflicht, jenen zu gehorchen, die Verantwortung für dich übernommen haben. Du darfst dich ihnen nur dann widersetzen, wenn sie deutlich deinen spirituellen Fortschritt behindern.

My dear Child. S. 23 f.

Wer die Arbeit verrichtet, die sich einem ungewollt anbietet, ohne sich zu sorgen und mit gesammelter Aufmerksamkeit, der kann nicht anders, als in Frieden mit sich zu sein.

CW LXV. S. 39 f.

Wer sich bemüht, selbst in kleinen Dingen sorgfältig zu sein, wird sich genau so bei großen Dingen verhalten. Denn die Meinung, wer nachlässig in kleinen Dingen sei, könne bei größeren sorgfältig sein, ist ein Irrtum.

CW LXV. S. 61 f.

Anstatt abstrakte Fragen zu besprechen, sollten wir den Rat des Dichters befolgen, der sagt: »Laßt uns den heutigen Tag nützlich verbringen, wer weiß, was der morgige Tag bringt.«

EW. S. 34

Der Weg zu echter Reue führt über den festen Entschluß, sich zukünftig nicht mehr die Hände mit Schlechtem zu beflecken. Wenn du jemals wieder fehlgehst, solltest du es sogleich bekennen. Es ist menschlich, zu irren. Es ist darum normal, Fehler zu machen, das ist in sich keine ernste Sache. Die Gefahr liegt darin, den Fehler zu verbergen. Wenn ein Mensch sich der Unwahrheit bedient, um seinen Fehler zu verbergen, begeht er eine weitere Torheit. Wer [auf diese Weise] einen Fehler nach dem anderen begeht, kann sich sehr schaden. Wer ein Geschwür am Körper hat, kann den Eiter herausdrücken. Doch wenn das Gift nicht herauskommt und es sich im Körper ausbreitet, kann der Mensch sogar sterben. Dasselbe gilt für jemanden, der eine Sünde begeht und sie nicht bekennt.

EW. S. 208

Ein Sünder mag viele Sünden begehen, doch wenn er sie im letzten Augenblick ernstlich bereut, wird Gott ihm vergeben.

EW. S. 208

Wenn der Geist gründlich gereinigt ist, wird der Körper auch gesund sein. Ein Sprichwort heißt: Wenn der Geist rein ist, fließt der Ganges an der eigenen Haustür vorbei. Mit anderen Worten, wenn der Geist ausgeglichen und sattvisch[1] ist, muß der Körper ebenso werden.

EW. S. 207

Es gibt einen ständigen Konflikt zwischen Schicksalsfügung und menschlicher Bemühung. Die menschliche Bemühung besteht darin, das nachteilige Schicksal zu überwinden oder in seiner Wirkung zu verringern. Wer kann sagen, welches von beiden wirklich siegt? Wir wollen darum unsere Bemühung fortsetzen und den Rest Gott überlassen.

EW. S. 184

Wir sollen über niemanden urteilen. Gewiß bewundere ich deine Fähigkeit zu tätiger Nächstenliebe. Doch bist du vorschnell und hitzig. Wenn du diese beiden Mängel ablegst, kannst du deine Fähigkeit zu tätiger Nächstenliebe verdoppeln.

EW. S. 184 f.

Deine Liebe sei grenzenlos. Wenn du Geduld übst und nicht verzweifelt aufgibst, wirst du letztendlich siegen. Du darfst nicht leicht mit deiner Arbeit zufrieden sein.

EW. S. 187

Vertrauen hat keinen Platz bei einer Sache, die mit dem Verstand erfaßt werden kann. Darum solltest du mich korrigieren, wenn ich nicht sämtliche Fakten kenne und deshalb falsche Schlüsse ziehe.

EW. S. 188

Wir machen allerlei Pläne und fassen viele Entschlüsse, und nach einiger Zeit erinnern wir uns nicht einmal an sie. Alle solche Gedanken sind geistige Unkeuschheit. So wie jemand seine körperliche Kraft durch die gewöhnliche Unkeuschheit vergeudet, ebenso vergeudet er seine geistige Kraft durch geistige Unkeuschheit. So wie körperliche Schwäche den Geist beeinflußt, so beeinflußt geistige Schwäche auch den Körper. Darum habe ich dem Gelübde der Keuschheit (Brahmacharya) eine so breite Bedeutung gegeben und halte sogar müßige Gedanken für eine Verletzung.

EW. S. 202 f.

Du scheinst zu glauben, daß äußere Tätigkeiten uns daran hindern oder darin beeinträchtigen, Fortschritte in der Selbstreinigung zu machen. Meine Erfahrung ist gegenteilig. Ohne innere Reinigung kann man nicht im Geist der Loslösung arbeiten. Daraus folgt, der Grad innerer Reinigung kann wesentlich von der Reinheit unserer Arbeit abgelesen werden. Wer also versucht, innere Reinheit zu erlangen, ohne zu arbeiten, erliegt sehr wahrscheinlich einer Selbsttäuschung.

EW. S. 203

Wir träumen immer weiter über die vielen Dinge, die wir tun möchten, hätten wir nur die Zeit dazu. Wir bekommen nur eine viertel oder halbe Stunde oder nur ein paar Minuten freie Zeit. Darum sagen wir uns: »Was nützt uns das, wir haben jetzt nicht genug Zeit.« So träumen wir immer weiter, und die goldenen Möglichkeiten entgleiten uns.

EW. S. 205

Was für ein Narr ist in unseren Augen jemand, der zehn Pfund braucht und doch die paar Schillinge vernachlässigt, die er regelmäßig erhält. Und dennoch handeln wir genau wie diese Person. Wir bedauern, daß wir keine Zeit bekommen. Doch wir vergeuden die müßigen Minuten, die uns im Laufe des Tages zufallen.

EW. S. 205

Wenn sich ein Mensch erschöpft fühlt und nicht fähig ist, seine Arbeit fortzusetzen, dann ist das beste Heilmittel, sich hinzulegen und zu schlafen und, wenn möglich, eine Woche im Bett zu bleiben. Das ist die beste Methode, die verlorene Energie zurückzugewinnen, vor allem die mentale Energie. Denn während des Schlafes bekommt das Gehirn vollkommene Ruhe, und die Gehirnzellen, die während der aktiven Arbeit verzehrt werden, regenerieren sich durch die Blutzufuhr.

EW. S. 205

[Gewissen] ist eine Qualität oder ein Zustand, der durch mühevolle Einübung erreicht wird. Eigensinn ist nicht Gewissen. Ein Kind hat kein Gewissen. Eine Katze folgt nicht ihrem Gewissen, wenn sie Mäuse fängt. Sie gehorcht ihrer Natur. Ein Gewissen ist die reife Frucht strengster Disziplin. Verantwortungslose Jugendliche, die niemals auf jemanden oder auf etwas gehört haben, außer auf ihre Instinkte, besitzen kein Gewissen. Aus demselben Grund trifft das auch auf viele Erwachsene zu.

EW. S. 210

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