Valentin Z. Markser Karl-Jürgen Bär

Seelische Gesundheit im Leistungssport

Grundlagen und Praxis der Sportpsychiatrie

Impressum

Dr. med., M. A. phil. Valentin Z. Markser

Institut für Sportpsychiatrie

Cleverstraße 32a

50668 Köln

valentin.z.markser@netcologne.de

Prof. Dr. med. Karl Jürgen Bär

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Jena

Philosophenweg 3

07743 Jena

karl-juergen.baer@med.uni-jena.de

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Schattauer

www.schattauer.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Adobe Stock/Christophe Schmid

Lektorat: Dipl.-Psych. Mihrican Özdem

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-43206-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11066-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20380-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vorwort

»Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt«

(Friedrich Schiller)

Über die seelische Gesundheit im Leistungssport wird in den öffentlichen Medien selten berichtet. Unterbrochen wird dieses Desinteresse durch sensationsträchtige Dopingfälle, Gehirnverletzungen, Suchtprobleme oder Suizide der bekannten Sportler. Im Laufe der Vorbereitung zu diesem Buch haben wir uns viele Gedanken darüber gemacht, wie man das Thema am besten darstellt. Wir wollten vermeiden, in die Reihe der sensationsfreudigen Berichterstatter aufgenommen zu werden, die bei jedem Scheitern und persönlichen Katastrophen von Sportlern die Medien dominieren, aber den alltäglichen unspektakulären Belastungen und Sorgen der Sportler keine Aufmerksamkeit widmen.

Unser Ziel ist es vielmehr, die im Leistungssport immer größer werdenden seelischen Belastungen zu beschreiben. Die Vorträge mit dem Titel »Was wir von den Leistungssportlern lernen können« erfreuen sich, besonders in den Wirtschaftskreisen, zunehmender Beliebtheit. Wir wollen die Vortragsreihen durch die Frage »Was wir über die Sportler wissen sollten« ergänzen. Dabei wollen wir nicht über die geheimen verdrängten Schattenseiten des Sports schreiben, sondern unseren Teil zur Aufklärung über die seelische Gesundheit in diesem Bereich beitragen. Mit unserer Arbeit wollen wir mithelfen, die seelische Gesundheit der Athleten über die Karriere hinaus zu verbessern und die Faszination des Sports zu erhalten. Das fortgesetzte Schweigen über das Thema schadet den Athleten und letztlich dem gesamten Leistungssport.

Die deutsche Olympiamannschaft ist bei den Olympischen Winterspielen in Südkorea im Februar 2018 von vielen Sportmedizinern, Sportwissenschaftlern, Physiotherapeuten, Sportpsychologen und auch von katholischen und evangelischen Seelsorgern betreut worden. Bereits seit 1972 sind sie dem deutschen Olympiateam zugehörig. Wir sind überzeugt, dass sie alle eine hervorragende und wichtige Arbeit für die Athleten leisten. Aber wir sind auch der Meinung, dass es Zeit ist, im 21. Jahrhundert für die seelische Gesundheit der Athleten und Trainer nicht nur zu beten, sondern mit Hilfe einer medizinischen wissenschaftlichen Disziplin aktiv dafür zu sorgen.

Die seelischen Belastungen sind, genau wie die körperlichen Beanspruchungen, ein fester Bestandteil des Leistungssports geworden. Psychische Störungen sind nicht nur Einzelschicksale, sondern werden durch die oft täglichen massiven sportspezifischen Belastungen mit verursacht. Die sportlichen Erfolge tragen dazu bei, die Gefahren für die seelische Gesundheit zu verdecken.

Trotz der anhaltenden gesellschaftspolitischen Bedeutung, des riesigen öffentlichen Interesses und der immer stärker werdenden Wirtschaftskraft des Sports gibt es überraschend wenig wissenschaftliche Studien zu diesem Thema. Als wir uns entschieden haben, dieses Buch zu schreiben, waren wir uns der schwierigen Aufgabe bewusst. Wir sollten über etwas schreiben, was es gar nicht geben soll, und eine medizinische Disziplin vorstellen, die angeblich nicht gebraucht wird. Wir wussten von den Sportlern, dass die seelischen Belastungen ein fester Bestandteil des Leistungssports sind und dass eine wissenschaftliche Disziplin für die seelische Gesundheit im Leistungssport dringend gebraucht wird. Wir haben uns schließlich für das Buch entschieden, um die Diskussion über das Thema in der Öffentlichkeit anzuregen und der Forschung auf dem Gebiet neue Impulse zu geben.

Die Tatsache, dass Sportpsychiatrie als medizinische Disziplin mit organisierter Ausbildung erst am Anfang ihrer Entwicklung steht, war für uns ein Grund mehr, das Buch zu schreiben. Der Aufbau der Sportpsychiatrie mit ausreichenden ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen wird vermutlich genauso viel Zeit in Anspruch nehmen wie die Aufklärung über die seelische Gesundheit, wie der Abbau der Stigmatisierung von psychischen Störungen und die Übernahme von Selbstverantwortung der Sportler in diesem Bereich. Zudem sind wir davon überzeugt, dass wir eine eigene medizinische Disziplin mit dem Schwerpunkt für die seelische Gesundheit im Leistungssport brauchen. Ähnlich wie sich Sportmediziner, Sportorthopäden, Sportwissenschaftler und Physiotherapeuten um die körperliche Gesundheit bemühen, brauchen wir Sportpsychiatrie, die gemeinsam mit den Sportpsychologen, Mentaltrainern, Karriereberatern und Coaches um den Erhalt der seelischen Gesundheit zum Ziel hat.

Psychiatrie und Psychologie werden auch außerhalb des Sportbereichs oft verwechselt und kaum voneinander unterschieden. Sportpsychologen und sportpsychologische Experten haben ein psychologisches oder sportwissenschaftliches Studium und anschließend eine sportpsychologische Weiterbildung absolviert. Sportpsychiater haben Medizin studiert, eine Facharztausbildung absolviert und eine sportpsychiatrische Weiterbildung gemacht. Angewandte Sportpsychologie nutzt, nach Definition der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie, wissenschaftlich fundierte Methoden, um die psychischen Leistungsvoraussetzungen von Athleten und Trainern nachhaltig zu optimieren. Dabei stützen sie sich auf die physische und psychische Gesundheit als Grundlage für jede positive nachhaltige Leistungsentwicklung. Darüber hinaus beschäftigt sich die Sportpsychiatrie mit der Erhaltung der seelischen Gesundheit bei Sportlern und Trainern, trägt langfristig zur Leistungsoptimierung bei und unterstützt dadurch die Arbeit der Sportpsychologen und der Mentaltrainer.

Wir sind überzeugt, dass es aufgrund der allgemeinmedizinischen, psychiatrischen, neurologischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Grundausbildung keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin besser gelingen kann, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Allerdings brauchen wir dazu neben der allgemeinpsychiatrischen auch eine sportpsychiatrische Zusatzqualifikation, um die sportspezifischen Bedingungen und seelischen Belastungen besser zu erkennen und die seelische Gesundheit über die Karriere hinaus erhalten zu helfen.

Wir haben uns bemüht, das Buch so zu schreiben, dass es auch für die interessierten Leser ohne medizinische Vorbildung weitgehend verständlich ist. Neben den im Sportbereich tätigen Berufsgruppen und Beschäftigten sind es vor allem die Sportlerinnen und Sportler selbst, die wir mit dem Buch für das Thema der seelischen Gesundheit gewinnen wollen. Aus Angst, als unwissenschaftlich zu gelten, scheuen Fachleute oft einfache und allgemeinverständliche Darstellungen. Wir meinen aber, dass die allgemeinverständliche Sprache und Einzelfalldarstellungen dazu bestens geeignet sind, das Thema dem sportinteressierten Publikum näherzubringen und zur Diskussion, Vertiefung und Erforschung anzuregen. Am Ende jedes Kapitels haben wir die Literaturstellen zur Vertiefung und zum Nachschlagen aufgeführt. Wir halten es für wichtig, auch Aussagen der Sportler in Interviews der öffentlichen Medien als wichtiges Material zum Thema aufzunehmen.

Des Weiteren denken wir, dass die Sportler ermuntert werden können, mehr Verantwortung für die Erhaltung der seelischen Gesundheit zu übernehmen. Dies wird nur gelingen, wenn sie mehr über die Risiken für die seelische Gesundheit im Leistungssport wissen. Vielleicht ist die Aufklärung darüber der wichtigste Grund und ein Beitrag, den wir mit diesem Buch leisten können.

Wir hätten gern beim Schreiben eine echte geschlechtergerechte Sprache gewählt. Es ist uns ein großes Anliegen, auch die Sportlerinnen im Leistungssport anzusprechen. Oriana Fallaci (1979, S. 14) stellte einmal fest, dass Gott ebenso gut eine Frau sein könnte und »dass die Sünde nicht an dem Tag entstand, als Eva einen Apfel pflückte: an dem Tag wurde eine wunderbare Tugend geboren, die Ungehorsam heißt.« Wohlwissend aber, dass wir eine Sprachtradition und -verirrung in diesem Buch nicht werden korrigieren können, kommen wir nicht umhin, die übliche männliche Anrede zu benutzen und ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Frauen mitgemeint sind. Wir werden jedoch wo immer möglich neutrale Begriffe verwenden. Vielleicht gelingt es uns im Rahmen einer möglichen Neuauflage, diese in einer aufgeklärteren Sprache herauszugeben.

Das Buch könnte zudem allen sportinteressierten Psychiatern als Anregung dienen, Sportpsychiatrie als medizinische Disziplin für die seelische Gesundheit im Leistungssport weiterzuentwickeln. Aufgrund der sportspezifischen Besonderheiten reichen die allgemeinpsychiatrischen Kenntnisse nicht aus, um eine angemessene Diagnostik, Behandlung und Prävention in diesem Bereich gewährleisten zu können. Deshalb würden wir uns freuen, wenn das Buch auch als Ausgangspunkt einer systematischen und qualifizierten Ausbildung in der Sportpsychiatrie dienen könnte.

Und zuletzt ist es uns ein großes Anliegen, mit diesem Buch den zweiten Themenkreis eines neuen wissenschaftlichen Gebiets der Sportpsychiatrie vorstellen zu können. Mit dem bereits bei Schattauer erschienenen Buch »Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen« stellen wir mit dem Band »Seelische Gesundheit im Leistungssport« das gesamte Behandlungs- und Forschungsgebiet dieses jungen und sich entwickelnden medizinischen Schwerpunktes dar.

Damit sei auch schon angedeutet, dass wir dieses Buch nicht als Endpunkt, sondern als Beginn einer langen Entwicklung sehen. Wir würden uns besonders freuen, wenn wir von den Sportlern selbst Kritik, Anregungen und Erfahrungsberichte erhielten, um unseren Blick zu erweitern und das Thema voranzubringen.

Die Welt verändert sich durch den technischen Fortschritt und die Globalisierung immer schneller. Und die Sportwelt auch. Viele alte Strukturen müssen angepasst werden. Auf die rasanten Entwicklungen im Leistungssport brauchen wir neue Antworten. Sportpsychiatrie ist aus unserer Sicht eine davon.

Unser Dank

Unser Dank gilt vor allem den vielen Sportlern und Trainern, mit denen wir gearbeitet haben und ohne die das Buch nicht hätte entstehen können. Außerdem und ganz besonders gilt er Frau Helen Nothnagel, die uns mit großem Engagement, Wissen und Übersicht geholfen hat, das Buch in der jetzigen Form entstehen zu lassen. Danken wollen wir auch Frau Karla Butz für ihre aufopfernde Unterstützung. Unseren Kollegen Petr Günsberg, Alexander Cherdron, Werner Pohlmann und Anna Markser danken wir für Anregungen und kritische Einwände. Besonderer Dank gilt auch Dr. Peter Kästner und seiner Frau, Dr. Rosemarie Kästner, für ihre Unterstützung.

Besonderer Dank gilt weiter den Kolleginnen und Kollegen aus dem Referat für Sportpsychiatrie bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) für anregende Diskussionen und allen sportmedizinischen und sportpsychologischen Kolleginnen und Kollegen, die uns mit ihren Erfahrungen geholfen haben, das Buch zu schreiben.

1 Seelische Gesundheit und mentale Stärke im Leistungssport

»Im Sport sind 90 Prozent mental, der Rest ist Kopfsache.«

(Robert Harting, 2016)

Die Bedeutung des Sports

Es gibt viele Versuche, den(1) Sport(1)(1) zu definieren und die Faszination des Sports zu verstehen. Zwei wesentliche Elemente, die dabei häufig genannt werden, sind die Bewegung und die Beziehung des Sportlers zu seinem Körper. So verstanden, beginnt der Leistungssport(1) schon in der frühesten Kindheit. Mit einem enormen Bewegungsdrang, der Freude am eigenen Körper und den sich weiterentwickelnden körperlichen Fähigkeiten entdecken Kleinkinder sich selbst und die Welt. Die unermüdlichen Trainingsversuche, einen Gegenstand zu greifen und ihn zu schleudern oder die Wege schneller zu laufen, die Enttäuschungen beim Misslingen und der innere Kampf gegen den Wunsch aufzugeben, werden nach Daniel Begel, einer der Autoren des ersten Buches der Sportpsychiatrie aus dem Jahre 2000, von den Leistungssportlern später wiederholt und systematisch weiterentwickelt. Dabei versuchen die Kleinkinder, ihre Eltern und Bezugspersonen zu beeindrucken und diese dazu zu bewegen, ihre körperlichen Anstrengungen zu kommentieren. Die Eltern werden somit nicht nur zu den ersten Zuschauern und Fans, sondern auch zu leidenschaftlichen Trainern und oft unerbittlichen Schiedsrichtern. Die gesamte Laufbahn eines Leistungssportlers(1) mit täglichen Trainingseinheiten und regelmäßigen Wettkämpfen kann sozusagen als Zeitraffer der persönlichen Entwicklungsgeschichte angesehen werden. Als Zuschauer identifizieren wir uns mit den Sportlern und werden durch sie an unsere eigenen kindlichen Versuche und Anstrengungen als »Leistungssportler« erinnert.

Zudem stellt Sport seit Jahrhunderten eine willkommene Ablenkung von der täglichen mühsamen Arbeit und den Auseinandersetzungen mit der oft unbequemen Wirklichkeit dar. Ein Teil der großen Faszination des Leistungssports(1) kann auch heute dadurch besser verstanden werden.

Der Mensch kann sich im Spiel frei fühlen und seinen Fantasien nach seinen Regeln freien Lauf lassen. Wer erinnert sich nicht gern an die eigene Kindheit und die weltvergessenen Spiele mit den imaginären Objekten. Der Philosoph Herbert Marcuse (1977, S. 16) erkannte die Faszination des spielenden Menschen: »In einem einzigen Ballwurf des Spielenden liegt ein unendlich größerer Triumph der Freiheit des Menschenwesens über die Gegenständlichkeit als in der gewaltigsten Leistung der technischer Arbeit.« Im heutigen Leistungssport ist das Spielerische zwar ein wesentlicher Bestandteil der werbepsychologischen Vermarktungsstrategien, aber im Alltag der Athleten ist das Spiel immer weniger frei und immer mehr Arbeit.

In den gesellschaftskritischen Theorien wird eine weitere Erklärung für die staatliche Unterstützung(1) der Verbreitung des Leistungssports diskutiert. Unter dem Slogan »Brot und Spiele« (panem et circenses) verstand der Satiriker Juvenal schon im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die politische Strategie der römischen Kaiser gegenüber dem Volk. Um Unruhen zu verhindern und von politischen sowie wirtschaftlichen Problemen abzulenken, wurde nicht nur Getreide ausgegeben, sondern auch die kostenlosen Zirkus- und Gladiatorenspiele angeboten.

In seiner Autobiografie beschreibt Thomas Bernhard (2009, S. 61), warum dem Sport zu allen Zeiten und von allen Regierungen die größte Bedeutung beigemessen wurde: »Wer für den Sport ist, hat die Massen auf seiner Seite, wer für die Kultur ist, hat sie gegen sich.« So verwundert es nicht, dass die wachsenden Angebote an Sportveranstaltungen oft die politischen und sozialen Themen aus der medialen Berichterstattung verdrängen.

Leistungssport – ein Teil der Leistungsgesellschaft

Der Leistungssport ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil unserer Leistungsgesellschaft(1). Seine politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen werden immer komplexer. Die Jagd nach Weltrekorden ist auch Ausdruck des Imperativs der Wirtschaftsordnung in der westlichen Kulturgesellschaft. In der Weigerung, Grenzen zu respektieren, steige nach Richard Shusterman (2008, S. 74) auch die »Nachfrage nach ständig wachsender Stimulation, immer mehr Geschwindigkeit und Information«.

Weltrekorde werden immer schneller erzielt, es wird immer mehr Geld in die trainingswissenschaftliche Forschung investiert, die Siegesprämien und Gehälter der erfolgreichen Sportler brechen immer neue Rekorde, die Wirtschaftskraft der Sportindustrie wächst seit Jahrzehnten, und immer mehr Regierungen übernehmen die Steuerung des systematischen Dopings als nationale Aufgabe. Laut Ahlert (2013) machte die ermittelte sportbezogene Bruttowertschöpfung(1) für das Jahr 2008 3,3 % der gesamtwirtschaftlichen deutschen Bruttowertschöpfung aus, vergleichbar mit dem deutschen Fahrzeugbau. Etwa 6,6 % des gesamten Konsums entfiel auf Sportdienstleistungen, Tendenz steigend. Das Endspiel im American Football Superbowl 2016 wurde in 180 Länder direkt übertragen und von etwa 120 Millionen Menschen verfolgt. 30 Sekunden Werbespot kosteten 5 Millionen Dollar. Im Sportbetrieb kann man schnell und und vor allem sehr viel Geld verdienen. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens A. T. Kearney (Knupfer, 2014) wuchs in England der sportbezogene Umsatz zwischen 2009 und 2013 etwa viermal schneller als die Wirtschaftsleitung und 7 % stärker als das Bruttoinlandsprodukt der meisten Länder auf der Welt.

Um die Dimensionen der marktwirtschaftlichen Mechanismen des Sportbetriebs(1) besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich die abgeschlossenen Werbeverträge mit den Spielern Michael Jordan, LeBron James, Tiger Woods oder Cristiano Ronaldo anzuschauen. Dem Fußballer Cristiano Ronaldo wurde 2015 in einem Werbevertrag auf Lebenszeit eine Milliarde Dollar zugesichert. Laut der Berechnung des Wirtschaftsmagazin Forbes hat er bereits in einem Jahr nach dem Vertragsabschluss durch Werbepräsenz in den sozialen Medien, wo das Logo im Foto oder Video sichtbar war, dem Unternehmen eine Summe von etwa 500 Millionen Dollar eingespielt. Damit hätte er bereits in einem Jahr die Hälfte der ihm zugesicherten Summe dem Unternehmen zurückgezahlt.

Aber nicht nur die wirtschaftliche und politische Bedeutung des Sports(1) nimmt massiv zu. Gleichzeitig werden sportwissenschaftliche Trainingsmethoden mithilfe der technischen Hilfsmittel weiterentwickelt, und die Techniken der mentalen Wettkampfvorbereitung kommen immer früher und immer effektiver zum Einsatz. Es gibt heute kaum eine ambitionierte Jugendabteilung oder ein Sportinternat von großen Sportvereinen, die ohne Vermittlung mentaler Techniken auskommen, um die Leistung der Kinder und Jugendlichen zu optimieren. Die Folgen für die seelische Gesundheit im Leistungssport(1)(1) sind enorm, denn nicht nur körperliche, sondern auch seelische Belastungen nehmen immer mehr zu. Dies alles bedeutet nicht, dass der Leistungssport an sich gesundheitsschädigend ist. Es drängt uns aber zunehmend zu der Einsicht, dass neben der körperlichen auch die seelische Gesundheit im Leistungssport immer wichtiger wird und deutlich mehr Beachtung verdient.

Gesundheit ist nicht das Ziel des Leistungssports. Auch wenn dies von Werbepsychologen gern verkaufsträchtig behauptet und benutzt wird. Die Gesundheit wird im Leistungssport vielmehr stillschweigend und ungefragt vorausgesetzt. Im Gesundheitssport(1) lernt man die Grenzen der körperlichen und seelischen Belastungen zu erkennen und zu respektieren. Ein entscheidendes Merkmal des Leistungssports ist dagegen der ständige Versuch, die körperlichen und die seelischen Grenzen zu überschreiten.

Die seelische Gesundheit und die seelischen Erkrankungen(1) im Leistungssport wurden bislang wenig beachtet und wissenschaftlich unzureichend untersucht. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie können gesucht werden in der Neigung der Zuschauer, Sportler zu idealisieren, in der Neigung der Sportler, die zugeschriebenen idealisierten Rollen bereitwillig anzunehmen, aber auch in den wachsenden wirtschaftlichen Interessen der Vereine und Verbände. Unterstützt wird dieser Umstand durch das im Leistungssport weitverbreitete und von den meisten dort tätigen Berufsgruppen noch immer vertretene Vorurteil, dass es eine Art Selektion gäbe, wonach sich im Leistungssport nur mental und seelisch starke Sportler durchsetzen und es demzufolge auch keine seelischen Erkrankungen im Leistungssport geben kann. Dies erklärt auch den weitgehenden Verzicht auf systematische wissenschaftliche Untersuchungen und das Fehlen der qualifizierten Betreuung auf diesem Gebiet. 

Die protektive Wirkung der regelmäßigen körperlichen Aktivität auf die seelische Gesundheit(1) ist mittlerweile wissenschaftlich gut untersucht und belegt. Die Ergebnisse lassen sich jedoch nicht einfach auf den Leistungssport übertragen, bei dem das Ziel nicht die Gesundheit, sondern das Erreichen einer bestimmten sportlichen Leistung ist. Mehr Sport bedeutet eben nicht zwangsläufig einen Zugewinn an körperlicher und auch nicht an seelischer Gesundheit. Immer mehr Studien lassen den Schluss zu, dass die protektive Wirkung(1) des Breitensports durch die anhaltenden seelischen Belastungen(1) im Leistungssport aufgehoben zu sein scheint und die seelischen Störungen bei Leistungssportlern denen der Gesamtbevölkerung entsprechen. Zusätzlich kann man beobachten, dass die seelischen Störungen aufgrund des anhaltenden und massiven Zusammenspiels der körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen eine sportspezifische Ausprägung(1) erfahren. Manche Sportarten weisen damit ein erhöhtes Risiko für bestimmte seelische Störungen auf und können durch die üblichen klinischen Klassifikationsinstrumente nur unzureichend oder sehr spät diagnostiziert werden.