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Frauke Burkhardt

Jung, verliebt, im Rampenlicht

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Kapitel 1

Es war ein verregneter Märzabend in Berlin. Das Licht der Laternen spiegelte sich in den Pfützen der zugeparkten Straßen rund um die Columbiahalle, die bis zum letzten Platz gefüllt war. Das Publikum wartete auf seinen Star, den britischen Newcomer Tico. Ungeduldig rief es nach ihm. Doch er ließ sich nicht blicken. Sein Manager betrat die Bühne, entschuldigte sich für die Verzögerung. „Es gab ein organisatorisches Problem. Die Show beginnt in wenigen Minuten.“ Er rannte zurück zur Künstlergarderobe, trieb Tico zur Eile an. „Mach voran, lange bleiben die Leute nicht mehr ruhig.“

„So sorry, Ben“, murmelte der Popstar, der sich bemühte, Deutsch zu sprechen.

„Warum bist du überhaupt so spät gekommen? Du wusstest doch genau Bescheid.“

„Ich noch was zu erledigen hatte, das länger war, als ich dachte“, erklärte Tico.

„Und das konnte nicht bis morgen warten?“

Tico sagte nichts, aber ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.

Morgen wird bestimmt noch schlimmer für mich. Er ermahnte sich selbst. Show must go on.

Er zupfte sein Jackett zurecht, fuhr sich ein letztes Mal durch sein gestyltes blondes Haar. Schon auf dem Weg zur Bühne, wo seine Band spielte, hörte er das Publikum seinen Namen rufen. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Fest umklammerte er das Mikrofon.

Ich darf die da draußen auf gar keinen Fall enttäuschen.

Als er ins Rampenlicht trat, schwoll das Gebrüll und Gekreische noch mehr an. Tico sah neben schmachtenden Blicken auch etliche Kameras auf sich gerichtet. Adrenalin pur für den Zweiundzwanzigjährigen, dessen schlanke Figur durch enge, elastische Kleidung betont wurde. Tico verharrte einige Sekunden.

Mein großer Traum. Aber wie lange kann ich ihn leben?

Er verdrängte die Gedanken, konzentrierte sich auf die Show.

Tico tanzte und sprang zu den Rhythmen der Musik auf der Bühne herum, begrüßte etwas atemlos seine Fans. „Good evening, Berlin! Seid ihr gut drauf?“

Zustimmender Jubel erklang.

„Seid ihr gut drauf?“, wiederholte er, eine Hand ans Ohr haltend.

„Ja!“, dröhnte es aus dem Publikum.

„Ich will machen great Show, aber ihr mir helfen müsst!“

Die Zuschauer applaudierten, trampelten mit den Füßen. Tico lächelte erleichtert, der Funke war übergesprungen. Er begann die Performance mit seinem Hit Ghost Dance. Die Masse grölte lautstark mit, dazwischen immer wieder Rufe: „Tico, we love you!“

In den nächsten zwei Stunden fegte der Popstar wie ein Wirbelwind über die Bühne, glänzte aber auch mit gefühlvollen Balladen, sprach dabei mit dem Publikum. „Music mich gerettet. Bin safe nun.“

Sein Lampenfieber war verflogen, es gab nur noch ihn und die Menge, die wie hypnotisiert von seiner Show zu sein schien.

„Come on, come on!“, feuerte er seine Zuschauer, seine Band, und sich selbst an.

Zum Abschluss nahm er noch einmal all seine Energie zusammen, legte mit nacktem Oberkörper einen Mambo aufs Parkett. Die Halle glich mittlerweile einem Hexenkessel. „Tico! Tico!“, rief das Publikum. Nach einigen Zugaben verließ der Sänger endgültig die Bühne, obwohl die Rufe in der Halle nach wie vor anhielten. Er war klitschnass geschwitzt, sehnte sich nach einer Dusche. Zudem spürte er immer mehr die Erschöpfung.

Besser hätte es nicht laufen können.

Nachdem er sich frisch gemacht und umgezogen hatte, wartete er einen günstigen Moment ab, um die Halle zu verlassen, aber ein Reporter bemerkte ihn. „Tico! Ein paar kurze Fragen!“

Der Popstar hob abwehrend die Hände.

Der Berichterstatter ließ nicht locker. „Wie gefällt dir Berlin? Warst du mit der Show zufrieden? Bist du wirklich mit Laura Pyson zusammen?“

Tico gab keine Antwort, drängte sich vorbei, zum wartenden Wagen. Während er einstieg, hörte er den anderen schimpfen. „So ein sturer Hund! Was bildet der sich ein? Verdient Kohle ohne Ende, aber ist sich zu fein, nur eine Frage zu beantworten!“

Zu Ticos Erleichterung erwarteten ihn am Hotel keine Papparazzi, dafür aber eine attraktive junge Engländerin, die auch auf dem Konzert gewesen war.

„Großartige Show“, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Bei deinen UK Gigs konnte ich ja leider nicht dabei sein.“

„Dafür bist du jetzt da, Süße.“

Tico zog sich mit ihr auf sein Zimmer zurück. Dort nahm er eine Flasche Sekt aus der Minibar, füllte zwei Gläser, prostete seiner Besucherin zu. „Cheers.“

„Cheers. Auf deine Karriere.“

Tico lächelte verstohlen. Sein Leben war fast perfekt, aber eben nur fast.

Er verbrachte einige Stunden mit seiner Besucherin. Als der Morgen graute, verabschiedete sie sich: „Um nichts in der Welt hätte ich diese Nacht missen wollen.“

„Ich auch nicht. Mach’s gut“, erwiderte Tico. Während sie sich aus dem Zimmer stahl, stand der Popstar auf. Er war schweißgebadet, musste zur Toilette.

Der ständige Durchfall macht mich noch wahnsinnig.

Anschließend legte er sich wieder hin, aber schlafen konnte er nicht mehr. Ruhelos blätterte er in ein paar Magazinen. Draußen goss es in Strömen. Für se ygin Vorhaben gewiss ein Vorteil, so würden ihn nicht viele Menschen sehen. Ein kurzer Blick auf die Uhr, halb acht. Mit zitternden Händen zog er sich eine Jacke über, bestellte an der Rezeption ein Taxi. Ziel: Die Charité.

Während er in den Wagen stieg, redete er sich gedanklich Mut zu.

Vielleicht stimmt das Ergebnis doch nicht und alles ist wieder okay, wenn ich mich ein wenig ausruhe, bevor die Tour weitergeht. Daher hat die Pause ihr Gutes.

Er klammerte sich an diesen Strohhalm, obwohl er wusste, dass ein Irrtum mehr als unwahrscheinlich war.

Als das Taxi vor der Charité hielt, schlug sein Herz bis zum Hals. Bevor er das Gebäude betrat, atmete er einmal tief durch. Die Stunde der Gewissheit war gekommen.

 

Zur gleichen Zeit war Sarah Bender, Nachwuchsjournalistin des Jugendmagazins Popboom schon in der Redaktion, las noch einige Male kritisch ihren Konzertbericht durch: Sonntagabend brachte Tico die ausverkaufte Columbiahalle zum Kochen. Der Newcomer lieferte eine gigantische Show ab. Von Anfang an verzauberte der quirlige Blondschopf das Publikum. Temperament, Sexappeal, eine Portion Charme und eine großartige Stimme, zeichnen Tico aus. Mitreißende Rhythmen machten die Halle zur Riesentanzfläche, stimmungsvolle Balladen sorgten für Gänsehaut. Zwei Stunden voller Magie vergingen im Flug. Mit Tico ist ein neuer Stern am Pophimmel aufgegangen.

Sarah Bender.

Sarah legte das Papier beiseite.

Hoffentlich trifft es den Ton der Kids. Ich fand ihn jedenfalls genial.

Nervös wartete die Zwanzigjährige auf das Urteil ihres Chefs.

Der hatte nichts zu beanstanden. „Sehr gut. Thorsten hat einige Fotos vom Gig gemacht, die kommen mit rein und dann geht alles in Druck.“

Bestens gelaunt ging Sarah zurück an ihren Schreibtisch.

„Ich dachte schon, ich hätte ein wenig zu dick aufgetragen“, sagte sie zu ihrer Kollegin Ramona, die schon einige Jahre im Geschäft war.

„Nein, genau das wollen die Kids lesen.“

„War aber wirklich eine tolle Show. Danke nochmal für die Tickets.“

„Keine Ursache. – Und, wie viele haben nach dem Gig noch auf ihn gewartet?“

„Keine Ahnung. Ich musste doch meine Cousine Melissa direkt nach Hause fahren. Gab es denn ein Meet and Greet?“

Ramona blickte sie belustigt an. „Schätzchen, ich meinte seine Groupies.“

„Hat er welche?“

„Guck dir Tico doch an. Kein Gramm Fett zu viel, blondes Haar, Grübchen am Kinn, ausdrucksvolle dunkle Augen und immer ein Lächeln im Gesicht. Die fahren voll auf ihn ab, obwohl er nicht ganz so groß ist.“

„1,78m“, erwiderte Sarah trocken. „Und du meinst, er lässt sich auf die ein?“

„Ich wette, er nimmt was er kriegen kann.“

Sarah spielte mit ihrem Kuli. „Aber wissen, tust du es nicht.“

„Lies mal, was Trendyteens auf ihrer Webseite schreiben“, erwiderte Ramona, bevor sie ein Telefonat entgegennahm.

Sarah überflog den Blog. Ein achtzehnjähriges Mädchen erzählte dem Onlinemagazin, sie hätte nach dem Konzert in Dublin eine heiße Nacht mit Tico verbracht, wollte aber keine Details nennen.

Sarah schüttelte den Kopf. Konnte das wirklich wahr sein, oder wollte sich da nur jemand wichtigmachen? Aber würde dann nicht Ticos Management dementieren? Zudem war er doch ein paarmal zusammen mit Laura Pyson, einer schottischen Folksängerin, gesehen worden und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, sie wären ein Paar.

Sarah schreckte jäh aus ihren Gedanken hoch, da Ramona wutentbrannt den Hörer aufknallte. „So ein arroganter Arsch“, schimpfte sie.

„Was ist los?“, fragte Sarah.

„Der Paradiesvogel weigert sich mit uns zu reden.“

„Wer?“

„Tico. Gerade von uns bekommt er die beste Publicity, da sollte doch auch endlich mal was von seiner Seite drin sein.“

„Hast du mit ihm selbst gesprochen?“

„Wo denkst du hin? Dafür hat der junge Mann doch seinen Manager.“

„Kennst du den?“

„Nicht persönlich, aber Ben Wagner hat schon einige groß rausgebracht, allerdings waren die offen für die Presse.“

„Tico hat bisher erst ein einziges kurzes Interview gegeben, das ist doch sonderbar“, wunderte sich Sarah. „Vielleicht hat er Hemmungen. Auf der Bühne wirkte er allerdings nicht so.“

„Wenn er im Gespräch bleiben will, sollte er schon die Zähne auseinanderkriegen. Wenn du mich fragst, hat er Starallüren,“ brummte Ramona.

„Ich würde jedenfalls gerne mehr über ihn erfahren“, erklärte Sarah mit fester Stimme.

Ramona blickte sie erstaunt an. „Warum interessierst du dich so brennend für ihn? So kenne ich dich gar nicht.“

„Irgendwie fasziniert er mich.“

„Ach, das ist doch nur einer von vielen.“

Sarah sagte nichts weiter, aber sie nahm sich fest vor, Tico weiterhin in ihren Blogs zum Thema zu machen.

Vielleicht komme ich so an ihn heran und mache endlich Karriere.

Tico saß zusammengekauert im Wartebereich der immunologischen Ambulanz. Er hatte erklärt, dass er beim Gesundheitsamt einen HIV-Schnelltest hatte machen lassen, dessen Ergebnis positiv war und man ihm dort empfohlen hatte, sich zur Therapieeinleitung an die Charité zu wenden. Dabei hatte er das Gefühl gehabt, alle würden ihn anstarren. Gesagt hatte aber niemand etwas. Er war lediglich nach seinen Beschwerden gefragt worden. Ihm wurde Blut abgenommen und er musste eine Stuhlprobe abgeben. Eine Krankenschwester lächelte ihn freundlich an. „Es dauert noch eine Weile, bis alle Untersuchungsergebnisse vorliegen. Doktor Forster kommt dann zu Ihnen.“

„Thanks“, erwiderte Tico höflich. Die Krankenschwester räusperte sich. „Soll ich jemanden holen, der Englisch spricht?“

Tico schüttelte den Kopf. „Ich guest, muss lernen Sprache. Ich kann verstehen, nur leider meine Deutsch ist nicht so gut.“

Sie nickte ihm noch einmal kurz zu, wandte sich dann einem anderen Patienten zu.

Tico grübelte.

Und wenn es ohne Zweifel HIV ist? Muss ich dann sterben? Wie soll ich das meiner Mutter beibringen und Ben und meiner Band?

Die Zeit kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er schloss für einen Moment die Augen, als ihn eine Männerstimme aufschreckte. „Herr Landers, ich bin Doktor Forster. Kommen Sie mit ins Untersuchungszimmer, da können wir ungestört reden.“

Mit versteinerter Miene folgt der Popstar dem Arzt, der einige Zettel auf den Tisch legte, an dem sie nun Platz nahmen. „Herr Landers, entschuldigen Sie das lange Warten, aber wir haben noch zusätzliche Tests gemacht. Warum, das erkläre ich Ihnen gleich. Es gibt einiges, was Sie wissen müssen. Wir werden direkt mit der Behandlung anfangen. “ Er machte eine kurze Pause.

Tico scharrte unruhig mit den Füßen. „Aids es ist“, murmelte er beinahe tonlos. „So es doch ist, Doktor.“

„Die Krankheit ist noch nicht ausgebrochen“, erklärte der Arzt. „Allerding hat das HI-Virus Ihr Immunsystem bereits geschädigt.“

„Ich sterben muss?“

„Nein. Mit der richtigen Medikamenten stehen die Chancen heutzutage sehr gut, einen Ausbruch zu verhindern.“

„Und wie das mit Therapie für mich soll gehen?“

„Das erkläre ich Ihnen jetzt.“

 

Es wurde ein langes und intensives Gespräch.

„Haben Sie sonst noch Fragen?“, wollte der Arzt am Ende wissen. Tico schüttelte den Kopf.

„Gut, bitte setzen Sie sich noch einen Moment in den Wartebereich. Ich mache Ihnen etwas Infomaterial fertig.“

Wie betäubt ließ Tico sich wieder auf einen der Stühle fallen. Tränen liefen über sein Gesicht.

Warum nur? Ist das meine Strafe? Das ist nicht fair.

Noch nie im Leben hatte er sich so allein und hilflos gefühlt.

Kapitel 2

Tom zog den Kittel aus. Er arbeitete schon seit Jahren als Krankenpfleger in der Charité. Für heute war seine Schicht beendet. Zum Glück war es ruhig auf der Station geblieben. Auch in der benachbarten Ambulanz wurde es allmählich weniger hektisch. Trotzdem wirkten einige der Pflegkräfte sehr aufgeregt, tuschelten miteinander. Tom sprach eine seiner Kolleginnen an. „Was ist denn hier los?“

„Hast du es nicht mitgekriegt? Er ist hier.“

„Wer ist er?“

„Tico. Der Popstar.“

„Kein Grund, so einen Alarm zu machen.“

„Du warst doch auch auf seinem Konzert.“

„Richtig, aber hier ist er ein Patient wie jeder andere.“

„Weiß ich selbst. Aber er ist echt schnuckelig und du musst ihn mal reden hören, klingt knuffig.“

Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit. Tom holte sich einen Becher Kaffee, genau in dem Moment sah er Tico weinend aus einem der Untersuchungszimmer kommen und im Wartebereich Platz nehmen.

Es war für Tom keine neue Erfahrung, verzweifelte Patienten zu sehen, möglicherweise mit einer schlechten Diagnose, aber irgendwie fühlte er sich zu Tico hingezogen. Er füllte einen zweiten Becher und ging damit zu ihm. „Du siehst so aus, als ob du einen Kaffee vertragen könntest, oder trinkst du nur Tee?“

Der Popstar schaute ihn erstaunt an. „No. Coffee ist gut.“ Er nahm den Becher und trank. „Not my day heute“, murmelte er.

Tom nickte verständnisvoll.

Auf der Bühne war der Junge pure Erotik und Energie und jetzt ist er nur ein kleines Häufchen Elend. Armer Kerl.

Am liebsten hätte er Tico tröstend in den Arm genommen, aber wahrscheinlich würde der Popstar das aufdringlich finden.

„Übrigens, ich bin Tom. Ich arbeite hier als Krankenpfleger. Bin jetzt allerdings nicht mehr im Dienst.“

Sie kamen ins Gespräch. Ticos lustiges Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch brachte Tom zum Lachen, was der Popstar ihm aber nicht übel zu nehmen schien. „Ich können nicht so gut Deutsch, ich lerne.“ Dabei huschte ein leichtes Lächeln über sein Gesicht.

Toms Herz schlug schneller, seine Gedanken überschlugen sich

Was für ein Lächeln, was für ein Typ. – Ich bin bekloppt. Er hat wohl anderes im Sinn als zu flirten. Außerdem ist er doch wahrscheinlich mit dieser Tussi zusammen.

Tom sah auf die Uhr. „Oh, ich muss los. - Und glaube mir, hier bist du in guten Händen.“ Er zögerte, legte Tico seine Visitenkarte hin. „Wenn du mal Lust auf einen Kaffee hast und quatschen willst, ruf mich an.“

Tico schien zu überlegen. „Bin noch in Berlin a time“, sagte er schließlich. Mehr nicht, aber er steckte die Karte ein. Tom verließ die Ambulanz, drehte sich noch einmal um, sah, dass Tico ihm nachblickte. Tom konnte ein Kribbeln im Bauch nicht leugnen, doch er mahnte sich selbst.

Verenn‘ dich nicht in irgendwas. Wahrscheinlich siehst du ihn nie wieder.

 

Eine gute Stunde später kehrte Tico ins Hotel zurück. Doktor Forster hatte ihm alle Informationen noch mal auf Englisch aufschreiben und Tabletten aus der Apotheke bringen lassen. Tico hatte noch seine Worte im Ohr. „Sie müssen unverzüglich mit der Medikation beginnen und bitte jeden Tag zur gleichen Uhrzeit einnehmen. Sollte es Probleme geben, melden Sie sich bitte sofort.“

Wie in Trance nahm Tico die erste Dosis, alles kam ihm so unwirklich vor. Aber es war Realität, mit der selbst noch klarkommen musste.

Wenn die Therapie versagt? Was werden die anderen sagen?

Er wünschte sich, er könnte sich jetzt wie als kleiner Junge in die Arme seiner Mutter flüchten und sie sagen hören: Alles wird gut, mein Junge.

So einfach war es diesmal aber nicht und nach Hause fliegen konnte er vorerst nicht, der Arzt hatte gesagt, er solle es die Woche über ruhig angehen lassen, damit sein Körper sich an die Umstellung gewöhnen konnte. Zu Ticos Erleichterung hatte er aber nicht die Tournee in Frage gestellt.

Tico dachte an die Begegnung mit Krankenpfleger Tom und er musste unwillkürlich lächeln. Er hatte sich nicht für den Popstar interessiert, sondern für den Menschen dahinter.

Total netter Typ. Ob ich mich wirklich bei ihm melden soll?

Tico beschloss zu Hause anzurufen, obwohl er es seiner Mutter lieber vor Ort gesagt hätte.

Es dauerte ein paar Minuten, doch dann meldete sich seine Mutter. „Landers.“

„Hi, Mum.“

„Tico. Wie geht es dir, mein Junge? Wie läuft es mit der Tournee?“

Tico versuchte gelassen zu klingen. „Geht ja erst in 4 Wochen wieder richtig los. Aber Deutschland lief sehr gut.“

Wie bringe ich es ihr am besten bei?

„Mum, ich muss dir was sagen“, begann er. „Am besten du setzt dich hin. Es hat mit der Sache von damals zu tun.“

„Was ist passiert?“, fragte sie. „Oder hast du wieder was angestellt?“

Mit gepresster Stimme erzählte er ihr von seiner Infektion, dem Behandlungsbeginn.

Seine Mutter erwiderte nichts, aber er meinte, sie unterdrückt schluchzen zu hören.

„Bitte sag doch was“, flehte er. „Meinetwegen beschimpf mich, aber sprich mit mir.“

Am anderen Ende blieb es still.

„Bist du noch dran, Mum?“

Eine barsche Männerstimme meldete sich. Richard, sein Stiefvater. „Sie will nicht mit dir reden. Wage es nicht, noch einmal anzurufen.“

Auf solch eine Abfuhr war Tico nicht gefasst gewesen, doch er ließ sich nichts anmerken. „Das will ich von ihr selbst hören.“

Ich habe hier das Sagen. Wir wollen mit dir verseuchtem Freak nichts zu tun haben. Und deine Almosen brauchen wir auch nicht. Ich wusste ja gleich, ein Satansbraten bringt nur Ärger.“

„Ach Richard, leck mich doch!“, schrie Tico und knallte den Hörer auf. Er fühlte sich im Stich gelassen, wobei er seiner Mutter nicht böse war. Sie konnte sich gegen Richard nie durchsetzen. Tico verspürte Übelkeit, wahrscheinlich eine Nebenwirkung der Medikamente und er war erschöpft. Er legte sich hin, schlief auch ein, doch zwischendurch machte ihm wieder Durchfall zu schaffen, aber immerhin ließ das Unwohlsein nach. Er schaltete den Fernseher ein, doch er sah nicht wirklich hin. Er kramte Toms Visitenkarte hervor, traute sich jedoch nicht, ihn anzurufen. Unvermittelt schrillte sein Mobiltelefon. Tico hoffte, es wäre seine Mutter, doch es war Ben. „Ich habe ein Angebot für dich. Wir treffen uns übermorgen Mittag um 12 in der Hotellounge.“

„Okay, ich dir auch was zu sagen habe.“

„Gut, bis dann.“ Damit war das Gespräch beendet und Tico war wieder mit seinen Ängsten allein. Irgendwann fiel er in unruhigen Schlaf.

 

Sarah fühlte sich wie im siebten Himmel. Patrick war über Nacht bei ihr geblieben. Wie schön, gemeinsam aufzuwachen. Sie waren seit einigen Wochen zusammen. Sarah räkelte sich verschlafen, kuschelte sich an Patrick. „Ich liebe dich“, hauchte sie. Sie schauten sich an und Sarahs Herz schlug wie ein Hammer, als Patricks Hände liebkosend über ihren Körper fuhren. Sie küssten sich leidenschaftlich, tauschten Zärtlichkeiten aus. Es war wunderschön und beiden war klar, heute wollten sie das erste Mal miteinander schlafen. Allerdings bestand Sarah darauf, ein Kondom zu benutzen, wovon Patrick nicht begeistert war. „Warum? Du nimmst doch die Pille.“

„Verhütung ist nicht allein meine Sache, außerdem möchte ich mir nichts einfangen.“

„Was unterstellst du mir? Ich bin völlig gesund.“

Noch vor einem Jahr hätte Sarah nachgegeben, aber seit sie von der Hepatitis Infektion einer guten Freundin wusste, war sie vorsichtiger.

„Ohne Gummi läuft nichts, basta.“

Wenn Patrick sie wirklich liebte, würde er ihren Wunsch respektieren. Sie wurde nicht enttäuscht und erlebte ein unvergessliches erstes Mal. Fast kam es Sarah wie ein Traum vor, aber Patrick war echt. Danach redeten sie zunächst nicht viel, lächelten sich aber immer wieder glücklich an. Nur ungern stand Sarah auf, aber sie wollte unbedingt noch mit Patrick zusammen frühstücken, Sie duschte, zog sich an, trug Make-up auf und frisierte ihr brünettes Haar, das sie immer hochgesteckt trug. Patrick hatte in der Zeit schon das Frühstück gemacht.

„Liegt bei dir in der Firma was besonders an?“, fragte sie. Patrick arbeitete als EDV Kundenberater.

„Schulung bei einem Neukunden“, erklärte er. „Und bei dir? Wann führst du dein erstes Interview mit Popstar Tico?“, scherzte er.

„Er gibt doch keine. Außerdem machen das die Routiniers. Ich schreibe Blogs zu Teenie-Themen.“

„Ja, ich weiß, aber Tico taucht da auch öfters auch. Irgendwie scheint der Typ dich zu faszinieren.“

„Hm, ich glaube manchmal, er verbirgt etwas. Und spricht deshalb nicht mit den Medien. Ob ich mal in sein Hotel fahre?“

„Weißt du denn, wo er wohnt?“

„Nein.“

Patrick grinste. „Ich aber.“

„Wie jetzt?“

„Mein liebes Brüderchen hat für ihn schon Koffer getragen.“

„Tico wohnt im Parkhotel?“, fragte Sarah verblüfft. „Ich dachte im Hilton, so wie die meisten Stars.“

„Tja. Aber was soll es bringen, wenn du hingehst, wenn er eh mit niemandem spricht?“ Er blickte sie herausfordernd an. „Oder willst du ihn verführen?“

Sarah boxte ihn in die Seite. „Blödmann. - Er kann sich doch nicht alle Ewigkeit den Reportern verweigern, wenn er weiter Karriere machen will.“

„Süße, wenn du mich fragst, der Typ ist abgehoben und dir kann es doch egal sein, wenn er die Klappe nicht aufkriegt.“

Sarah nickte. Patrick hatte Recht, aber es war ihr nicht egal.

 

Am Hotelempfang wurde ein Angestellter von einem Reporter der Boulevardpresse mit Fragen bombardiert. Der Berichterstatter hatte gehofft, den Popstar erwischen zu können, aber Tico ließ sich nicht blicken, war angeblich in der Stadt unterwegs. Und selbst, wenn er auftauchte, war es fraglich, ob er geredet hätte. Aber vielleicht ließ er sich mit Schlagzeilen aus der Reserve locken.

„Seit einigen Tagen wohnt Tico bei Ihnen. Wie ist es, den Newcomer und neuen Liebling der Teenies unter den Gästen zu haben?“

„Es ist eine große Ehre. Schließlich hat er unser Haus einem Luxushotel vorgezogen.“

„Und er hat er wirklich seinen Aufenthalt vorzeitig verlängert?“

„Ja.“

„Warum?“

„Er will noch etwas von der Stadt sehen, bevor seine Tournee weitergeht.“

„Haben Sie Tic mal zusammen mit jemandem gesehen?“

„Nein, aber ich bekomme ihn ja nur selten zu Gesicht. Das Servicepersonal könnte Ihnen bestimmt mehr dazu sagen, aber das wird sich bestimmt nicht vor der Presse äußern.“

Der Berichterstatter ließ sich nicht entmutigen. „Mag sein, aber sicher erzählen die Kollegen Ihnen einiges.“

„Natürlich. Getratscht wird immer.“

„Was denn so?“

Der Angestellte grinste. „Tico hatte nach dem Konzert Damenbesuch. Der Kollege vom Spätdienst hat sie auf sein Zimmer gehen sehen, morgens hat sie das Hotel verlassen. Soll ziemlich übernächtigt ausgesehen haben und unser Superstar auch.“

Der Reporter tippte etwas in sein Laptop. „Klingt für mich eindeutig. Das wird eine feine Story. Haben Sie sonst noch etwas für mich?“

Der Mann an der Rezeption überlegte kurz. „Tico hat eine komische Marotte. Er lässt sich das Essen immer aufs Zimmer bringen und bei der Küche hat er sich neulich beschwert, weil ihm das Gericht nicht heiß genug war und die Eiswürfel in der Cola haben ihm auch nicht gepasst.“

„Oh, auch noch zickig.“

„Müssen Künstler nicht ein wenig seltsam sein?“

Der Journalist wandte sich zum Gehen. „Jedenfalls sind sie gut für unseren Job. Ich sehe schon die Schlagzeilen: Tico, liebestoller Superstar.- Einen schönen Tag noch.“

Der Rezeptionist wollte sich seiner Ablage widmen, als ihn wieder jemand ansprach. „Dieter, was du so der Presse erzählst.“

Dieter drehte sich um, sah eine der Aushilfen vor sich stehen. „Boh, Ingo, verpfeif mich bloß nicht, sonst fliege ich raus.“

Ingo war niemand anderes als der Bruder von Sarahs Freund Patrick. Er verdiente sich im Parkhotel ein paar Euro, da er arbeitslos war.

„Warum sollte ich? Wenn ich den schon labern höre! Der Inselaffe ist unverkennbar. Und immer dieses dämliche Grinsen im Gesicht. Dafür könnte ich ihm eine reinhauen.“

„Ich finde, er beherrscht unsere Sprache recht ordentlich. Und wenn du ein Problem mit ausländischen Gästen hast, solltest du nicht in einem Hotel jobben.“

„Ach, das ist es nicht. Hier im Haus bringt jeder sein Gepäck selbst aufs Zimmer, aber dem hochnäsigen Typ musste ich es nach oben tragen. Er selbst ist später nachgekommen. Hoffentlich liest er wenigstens die Schlagzeilen.“

 

Tico, der sich täglich Zeitungen und Magazine auf sein Zimmer bringen ließ, las am nächsten Morgen den Artikel, in dem er als liebestoller Superstar, der gerne Nächte mit Groupies verbrachte, bezeichnet wurde. Er zeigte den Bericht seinem Manager, als er sich mit ihm in der Hotellounge traf. „Mir nicht gefällt, das, Ben “, murmelte Tico, der sich hundeelend fühlte. Ihm war übel, er hatte einen trockenen Mund, bekam kaum Luft und ein juckender Ausschlag bedeckte seine Brust.

„Bleib cool“, erwiderte Ben gelassen. „Mit den Schlagzeilen bleibst du wenigstens im Gespräch. Dein Album ist on Top und alle Konzerte sind ausverkauft. Die Fans lieben dich. Vor allem die Mädels liegen dir zu Füßen. Darauf kannst du stolz sein.“

„Ich bin stolz auf meine Musik. Spiegel von my soul.“

„Junge, die meisten werden schon schwach, wenn du ein wenig mit dem Hintern wackelst.“

„Body ist nur Werkzeug für Performance“, stieß Tico hervor. Hastig trank er einen Schluck Wasser.

Was ist nur mit mir los? Kommt das auch von den Tabletten?

Ben zog ein Blatt Papier hervor, legte es Tico hin. „Ich denke, es wird Zeit, der Presse was zu liefern. Das ist ein Pärchenvertrag.“ Er lächelte verwegen. „Dann hören diese Schlagzeilen auch auf, wird aber andere geben. Du musst nur noch unterschreiben. Laura Pyson ist einverstanden.“

Tico begann zu lesen, schüttelte aufgebracht den Kopf. „No, never“, schimpfte er. „Ich nicht so lügen kann.“ Aus den Augenwinkeln sah er eine junge brünette Frau am Nebentisch Platz nehmen. Ihre Blicke trafen sich kurz.

„Nicht so laut“, zischte Ben. „Hab dich nicht so, andere Künstler haben sowas auch gemacht und fahren gut damit. Die Presse liebt Traumpaare. Und da das Gerücht eh schon rumgeht, müsst ihr eure Beziehung nur noch offiziell bestätigen. Im Gegenzug bekommt ihr jede Art von Promo. Deine Karriere ist dir doch wichtig, oder?“

Tico stand auf, wollte antworten, doch es ging nicht. Seine Zunge schien anzuschwellen und er sah alles wie im Nebel. Er griff nach seinem Glas mit Wasser.

„Und, was wolltest du mir sagen?“, hörte er Ben noch fragen. Vor Ticos Augen verschwamm alles, er rang nach Luft. In seiner Panik ließ sich auf den Boden fallen.

Ben schien wie erstarrt. „Wir brauchen einen Arzt“, schrie er.

Die Frau vom Nebentisch kam herbeigerannt. „Rufen Sie einen Krankenwagen.“

Sie wandte sich Tico zu. „Schaffst du es, dich auf die Seite zu drehen? Sonst helfe ich dir.“

Tico versuchte es, spürte ihre Hände unterstützend zufassen, sie lockerte zudem seinen Hemdkragen und seinen Gürtel, redete beruhigend auf ihn ein. „Hab keine Angst. Versuch tief ein und auszuatmen, ja, sehr gut. Wahrscheinlich hast du was gegessen, was dir nicht bekommen ist. Sieh mal, da kommen die Sanis schon. Alles Gute für dich.“

Tico wurde auf die Trage gehoben, bekam Sauerstoff. Bevor der Krankenwagen losfuhr, hörte er Ben, der Ticos Jacke brachte, noch sagen: „Wir reden später.“

In der Charité wurde die Ursache für Ticos Beschwerden schnell gefunden. „Eine allergische Reaktion auf ein Medikament. Da finden wir schon Ersatz, aber dafür nehmen wir Sie ein paar Tage stationär auf.“

Tico war zu erschöpft zu protestieren, er wollte nur schlafen.

Gerade noch rechtzeitig trudelte Sarah in der Redaktion ein, ließ sich aufatmend auf ihren Stuhl fallen.

„Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist, Ramona.“

„Du bist ja völlig von der Rolle. – Übrigens, Tico wurde ins Krankenhaus gebracht. Sein Manager wird sich später dazu äußern, aber was ist mit dir?“

Sarah berichtete ihr von den Ereignissen im Hotel.

„Ich muss schon sagen, ein cleverer Schachzug, um an Tico ran zu kommen“, meinte Ramona. „Vielleicht wird er jetzt uns gegenüber etwas offener.“

Sarah starrte sie entsetzt an. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich hätte ihm nur deswegen geholfen? Er war in Not, Ramona. Ja, ich gebe zu, ich bin ursprünglich zum Hotel gefahren, in der Hoffnung, mit ihm reden zu können, aber es kam alles anders. Er weiß gar nicht, wer ich bin.“

„Hast du vorher nichts mitbekommen?“

„Na ja, bevor er schlappmachte, hat er seinen Manager angebrüllt. Irgendwas muss ihn mächtig aufgeregt haben.“

„Und was?“

Sarah zuckte mit den Schultern.

„Also hast du deine kostbare Zeit für nichts vergeudet“, bemerkte Ramona spöttisch. „Du musst liefern, wenn du Karriere machen willst. Vergiss Tico, such dir ne nette Boyband, oder so.“

Sarah schwieg, aber sie dachte sich ihren Teil.

Einem Menschen helfen, kann nie Zeitverschwendung sein. Ja, vielleicht ist Tico im wahren Leben ein Arschloch, aber vorhin hatte er einfach nur furchtbare Angst. Ich hoffe, es geht ihm wieder gut.