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Gabriele Bergfelder-Boos

Mündliches Erzählen als Performance: Die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht.

Eine explorative Studie im Rahmen eines Weiterbildungsprojekts im Fach Französisch

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Fußnoten

1 Einleitung

Marie-Célie Agnant wurde mehrmals nach Berlin eingeladen, um vor Studierenden und auch vor Schülerinnen und Schülern der Berliner Schule zu erzählen. Ein Interview mit Marie-Célie Agnant (Agnant / Bergfelder-Boos 2006), Informationen zur Autorin und Erzählerin und weitere Ergebnisse ihrer Berlinbesuche sind auf der Homepage der Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität Berlin verfügbar unter:
Das Erzählprojekt im Weiterbildungsstudiengang Französisch (ESPO): http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we05/romandid/fort-und-weiterbildung/erzaehlprojekt/index.html [28.12.2017]

Wie die meisten modernen Erzählerinnen und Erzähler / Storyteller (Kap. 5.4.2) ist Marie-Célie Agnant nicht nur Autorin und Erzählerin, sondern engagiert sich auch im pädagogischen Bereich in Erzählprojekten und Ateliers mit Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen.

s. Nünning 2004d: 483, Fludernik 2010: 10, Martínez 2011b: 1f. Gegenüber dieser Zweiteilung werden in der strukturalistischen Narratologie Genettes drei Ebenen angesetzt (Genette 1972: 71-76, Fludernik a. a. O.): der Erzählakt (l’acte narratif), die Erzählung (le discours narratif) als Text oder als mündliche Rede und die erzählte Geschichte (l‘histoire). Dieser Unterscheidung kommt im Forschungszusammenhang der Studie keine große Bedeutung zu, so dass sie im Folgenden nicht vorgenommen wird.

2.1.2 Thema, Zielsetzungen und Desiderata

Das Erzählen von Geschichten spielt vor allem in den fremdsprachendidaktischen Publikationen für das Fremdsprachenlernen in der Grundschule eine Rolle (Bleyhl 2002a, 2002b, Muller 2004, Piepho et al. 2007) bzw. für den Anfangsunterricht (Giribone-Fritz / Muller 2011). Dabei handelt sich jedoch überwiegend um Erläuterungen zur Relevanz des Erzählens für den Spracherwerb und um konkrete Ratschläge zur Arbeit mit Geschichten, nicht aber um theoretische bzw. empirische Forschung. Besonders für den Englischunterricht der Grundschule gibt es reiches Material zur Arbeit mit Geschichten. Zwei Ausgaben der Zeitschrift Grundschule Englisch (23/2008 und 44/2013) widmen sich dem Erzählen und Vorlesen von Märchen. Nur wenige fachdidaktische Beiträge und Unterrichtsvorschläge liegen für die Sekundarstufe I vor (Bergfelder-Boos 2007, Çevik / Kräling 2015).

2.2.1 Verortung des Vorhabens im fremdsprachendidaktischen Forschungsfeld

Grünewald/Küster unterscheiden zwischen folgenden drei Bereichen: „den Gegenständen des Lernens und Lehrens, den Akteuren der Lern- und Lehrprozesse, den Pro­zessen und den Ergebnissen des Lernens und Lehrens“ (Grünewald / Küster 2009: 76). Bausch  / Christ / Krumm (2007b:1) und Klippel (2016a: 28) unterscheiden zwischen vier Feldern. S. auch Gnutzmann / Königs / Küster 2011, Schumann / Steinbrügge 2008b.

Die in Kapitel 2.2 zitierten Beiträge von Caspari, Klippel, Legutke und Schramm 2016 sind dem 2016 erschienen und von ihnen herausgegebenen Handbuch „Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik“ entnommen. Die Einteilung der Forschungs­traditionen, der Forschungsarbeiten u. a. m. bilden das Gesamtkonzept des Handbuchs und liegen deshalb allen Beiträgen zugrunde.

2.2.2 Forschungsentscheidungen der Gesamtstudie

Was ihre wissenschaftlichen Ansätze betrifft, so vertreten die konsultierten Texte mit dem kognitiven und intermedialen Ansatz (Wolf 2002a), dem transgenerischen und transmedialen (Nünning / Nünning 2002d) und dem semiotischen Ansatz Fischer-Lichtes (2004, 2005a-e, 2007, 2009) unterschiedliche Facetten poststrukturalistischer Wissenschaftsorientierung.

2.2.3 Forschungsentscheidungen der empirischen Studie

Zur Entdeckung des fremdsprachlichen Klassenraums als Feld ethnografische Forschung s. Hu 2001, Müller-Hartmann 2001, Gnutzmann /Königs /Küster 2011).

In der Bildungswissenschaft werden die Begriffe Praxis- und Aktionsforschung meist synonym gebraucht, manchmal wird der Begriff Praxisforschung übergreifend verwendet.

Die Forschungsliteratur geht inzwischen nicht mehr von einem „defizitären Lehrermodell“ (Hermes 1997: 6) aus, bei dem Problemsituationen des Unterrichtsalltags als Auslöser und als Ausgangspunkt von Lehrerforschung fungieren, sondern sieht das Durchbrechen von Unterrichtsroutine durch Diagnose und Reflexion praktischer Unterrichtsfragen als Grundmotivation an. In diesem Verständnis ist Praxisforschung „lebenslanges Programm“ (Hermes 1997: 6) und dient der Lehrkräfteprofessionalisierung.

2.5 Impulsgebende empirische Untersuchungen zum mündlichen Erzählen

Die Dissertation von 2001 erschien 2013 in 4. unveränderter, mit einem Vorwort versehenen Auflage. Sie wird im Folgenden mit Becker 2013a zitiert.

Die drei Dimensionen sind: mündliches Erzählen geformt als sprachliche Einheit, globalstrukturiert von einem übergeordneten Erzählschema und eingebettet in eine kommunikative Situation.

Als Passung kann folgender Verlauf angesehen werden: zuerst mündlicher Vortrag oder Vorlesen einer Geschichte (Präsentation), dann interaktive mündliche Nacherzählung der Geschichte (Erzählsituation).

Das Projekt „Förderunterricht Deutsch-als-Zweitspracherwerb – eine longitudinale Untersuchung zur mündlichen Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache (ndH) in Berlin (FöDaZ)“ – wurde 2003-2005 unter der Leitung von Ulrich Steinmüller, der Ko-Leitung von Bernt Ahrenholz und unter Mitarbeit von Beate Lütke und Martina Rost-Roth durchgeführt. Seit 2010 wird es an den Universitäten Jena und Augsburg weitergeführt.

Dazu gehören in aufsteigendem Schwierigkeitsgrad u.a. der Minidalog, das Rollenspiel, das Präsentieren, Erzählen, Berichten und als höchste Stufe das freie Sprechen.

3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen

Die in der poststrukturalistischen Narratologie geführte Diskussion einer Verzichtbarkeit des Erzählers (Kablitz 2008: 28-42) – bezogen auf schriftlich und mündlich verbale Kommunikation – würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Vermittlungsinstanz des Erzählers wird in dieser Arbeit als notwendig für das mündlich-verbale Erzählen, nicht aber für andere mediale Realisierungen des Erzählens gesetzt.

Scheffel unterscheidet zwischen den textwissenschaftlichen und den neueren, „postklassischen“ (Scheffel 2010: 329) Ansätzen, die „im Zeichen des ‚cultural turn’ und des nachlassenden Interesses für eine als reine ‚Textwissenschaft’ verstandenen Philologie“ (a. a. O) entwickelt wurden. Er beruft sich hierbei auf den einleitenden Beitrag von Nünning / Nünning (2002d) in dem von ihnen herausgegebenen Handbuch zur Erzähltheorie (2002c).

Nünning / Nünning sehen drei in der postklassischen Erzähltheorie vollzogene Grenzüberschreitungen (Nünning /Nünning 2002d: 3f.). Grenzen werden, Nünning / Nünning zufolge, überschritten zwischen klassischen narrativen Genres wie z. B. dem Roman und anderen als ‚affin’ narrativ angesehenen Genres wie dem Drama, zum anderen zwischen Erzähltexten und Realisierungen des Narrativen in anderen Medien wie z. B. dem Film und letztlich zwischen philologischer Forschung und anderen Forschungsbereichen wie der Geschichtswissenschaft, der Psychologie, den Sozialwissenschaften, den Kultur- und Medienwissenschaften, der Pädagogik u. a. m.

Dazu gehören die „klassischen“ literaturtheoretischen Ansätze (s. dazu die Darstellung von Erzähltypologien in Fludernik 2010: 103-123 und Scheffel 2010: 328f.). Als bahnbrechende Innovation in Richtung eines intermedialen Konzepts wird in der Forschung vor allem das Texttypenmodell Chatmans (Nünning / Nünning 2002d: 7 und Fludernik 2010: 118) genannt, der seinem Modell einen „weiten Begriff von Narrativität“ (Nünning / Nünning a. a. O.) zugrunde legt. Darin wird unterschieden zwischen erzählervermittelten Gattungen wie der Novelle und solchen, die ohne die Vermittlung eines Erzählers auskommen wie z. B. dem Film. Diese Unterscheidung liegt auch dem Modell von Wolf zugrunde (Wolf 2002a: 42).

3.1.1 Konstituenten des intermedialen Erzählmodels: das Narrative und die Narreme

Alle drei Funktionen spielen im Kontext des fremdsprachlichen Klassenzimmers eine Rolle. Sie bilden in Kapitel 5 die theoretische Basis der werkexternen Perspektive auf das mündliche Erzählen.

Zur Diskussion des Intermedialen und Transmedialen s. Wolf 2002b und Rajewsky 2002 sowie Kap. 3.2 der Studie.

Das Erzählmodell ist am verbalen Erzählen orientiert, das Wolf als Prototypen setzt. Es ist jedoch grundsätzlich offen gegenüber andern medialen Formen des Narrativen. Zur Übersicht über das Erzählmodell s. die Zusammenstellung in Schema 1 (Wolf 2002a: 42).

Auf die Vermittlungsformen des Narrativen werde ich in Kap. 3.5.1 ausführlicher eingehen, auf die Resultate des Narrativen im Zusammenhang mit der funktionalen Analyse des Märchens Le conte des échanges (Kap. 9.1).

Reuter (1991) fasst im Rekurs auf Larivaille (1974) die Makrostruktur des Récit in folgende fünf große Etappen: L’état initial, la complication ou force perturbatrice, la dynamique, la résolution ou la force équilibrante, l’état final (Reuter 1991: 46). Zum Umgang mit dem schéma quinaire im Fremdsprachenunterricht s. Bergfelder-Boos (2007: 47f.).

3.1.2 Funktionen des Prototypen: Illustration und Operationalisierung, Stimulus und Gradmesser des Narrativen

Im Gegensatz zu Fludernik, die als Prototyp die mündliche Alltagserzählung setzt (Wolf 2002a: 35; Fludernik 2010: 122), wählt Wolf „fiktives Erzählen“ (a. a. O.: 36) als prototypisches Erzählen „wie es im Märchen in elementarer Form und mit noch relativer Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens realisiert ist“ (a. a. O.). Da hier zwei Kriterien eine wichtige Rolle bei der Wahl des Prototypen spielen – das Prototypische des Genres Märchen bzw. des fiktionalen Erzählens und die Nähe des schriftlichen Textes zur Tradition der oral poetry, also der mündlichen Realisierung – werde ich als Prototypen das Märchen in schriftlicher und in mündlicher Realisierung wählen. Auf diese Weise kann das in den Unterrichtsprojekten vorliegende Material auf seine prototypischen Elemente untersucht werden.

In einem der Unterrichtsprojekte (Kap. 9.2) stellen die von den Lernenden hergestellten Bilder intermedial vollzogene Narrativierungen der in dominant verbaler Vermittlung gehörten Geschichte dar. Die von Wolf vorgeschlagenen Indikatoren des Narrativen werden zur Analyse dieses Datenmaterials herangezogen.

3.2.1 Erzählen als Diskurseinheit

Quasthoff geht es um die Abgrenzung der narrativen Diskurseinheiten vom turn-by-turn-talk (Quasthoff 2001: 1300) in Alltagsgesprächen.

Die Untersuchungen und Konzeptualisierungen narrativer Diskurseinheiten beziehen sich auf Gespräche im Alltag, sind jedoch auf Diskurse in institutionellen Zusammenhängen übertragbar (Quasthoff 2001: 1304f.).

3.2.2 Narrationsspezifische Aufgaben der Diskursteilnehmer

Im intermedialen Erzählkonzept Wolfs stellen die Handlungen, Ereignisse, Vorkommnisse die inhaltlichen Narreme dar, die „das prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46) bilden. Der von Quasthoff vorgenommenen Konzeptualisierung des Erzählens als narrativer Aufgabe entspricht bei Wolf der Begriff der Narrativierung. Beide Konzeptualisierungen sind miteinander kompatibel. Sie erfassen den Prozess des Erzählens lediglich unter einer anderen Perspektive.

Die Sequenzierung in fünf Einheiten lehnt sich an die klassische Sequenzierung von Labov / Waletzky in die Phasen Orientierung, Komplikation, Evaluation, Auflösung, Coda (Labov / Waletzky 1967: 111-125, Quasthoff 2001: 1293) an, stellt jedoch eine gesprächsanalytische Weiterentwicklung des Modells dar. Ebenfalls auf die fünf Sequenzen von Labov / Waletzky rekurriert das von Larivaille entwickelte schéma quinaire (Reuter 1991: 46), das ich der Analyse des in den Erzählstunden gewählten Märchens (Kap. 9.1) zugrunde legen werde.

In ritualisierten Formen des mündlichen Erzählens wird zwischen Erzählenden und Publikum um die ‚Erzählerlaubnis‘ gerungen, die durch entsprechende Zustimmungsformeln gewährt wird. Ein Beispiel dieses Rituals stellt die Eröffnungsformel Marie-Célie Agnants bei ihrem Auftritt in einer Berliner Schule dar. Sie beginnt dieses Ritual mit dem Ruf Et cric? und erwartet vom Publikum die Antwort Et crac. (Agnant 2006a)

3.2.3 Das Prinzip der Erzählwürdigkeit

Den von der literaturwissenschaftlichen Narratologie gebrauchten Begriff ‚Erzählwürdigkeit‘ benutzt Bruner nicht explizit, aber seine Ausführungen zu einem der wesentlichen Merkmale des Erzählens – den „Verbindungen zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Gewöhnlichen“ (1997: 64) – können mit dem literaturwissenschaftlichen Terminus ‚Erzählwürdigkeit‘ zusammengefasst werden.

3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen

Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem für die Literaturwissenschaft zentralen, teilweise heftig umstrittenen Begriff der Fiktionalität (Hempfer 2002a: 107ff., Zipfel 2001: 13-29, Kablitz 2008: 13, Zymner 2010b: 315) ist für die Studie nicht funktional und wird deshalb auch nicht geführt.

Lejeune geht, was den autobiografischen Pakt betrifft, von einer stillen Übereinkunft zwischen Autorinnen und Autoren und ihrer Leserschaft aus. Darin versichern sie gegenüber ihrer Leserschaft, dass es eine „Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonisten“ (Lejeune 1994: 28) gibt. Die Vorstellung von einem stillen Pakt überträgt er auf den Roman. Hier besteht der Pakt in der beidseitigen Übereinkunft darüber, dass es sich um ein fiktionales Textangebot handelt (Lejeune 1994: 29). Die Signale für eine solche Übereinkunft gehen vom Genre – der Autobiografie bzw. des Romans – aus.

Die in der Literaturwissenschaft geführte Diskussion zum Verzicht auf diese Unterscheidung in Bezug auf narrative Texte in schriftlicher Kommunikation (Kablitz 2008) spielt im Kontext meiner Studie keine entscheidende Rolle und wird deshalb auch nicht thematisiert.

3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen

Der prototypische Charakter des Märchens erlaubt es, die textuelle Realisierung der qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme anhand eines beliebigen Märchentextes beispielhaft aufzuzeigen, wie es bei der funktionalen Analyse des Märchentextes Le conte des échanges (Kap. 9.1) erfolgt.

Die Begriffe „Strukturmuster / Handlungsstereotype“ sind auf die Proppschen Funktionen (Propp 1970: 147-154) rückführbar. Zur Konzeption und Rezeption der Proppschen Morphologie durch die Märchenforschung s. Göbler 2004: 553-554, Lüthi 2005: 115-121, Neuhaus 2005: 25-26.

Dazu gehören vor allem Ewers 1990, 2000a, 2000b und Lypp 1984.

O’Sullivan geht literaturtheoretisch davon aus (O’Sullivan 2000:122), dass sich die textexterne Asymmetrie textintern auf der Ebene des Erzählkonzepts fortsetzt, und zwar in der Kommunikation des impliziten Autors (als Autorenbewusstsein, das die Entscheidungen über histoire und discours fällt) mit dem impliziten Leser (als Vorstellung von der Rezeption des Textes). Die Entscheidungen zur Überwindung der kommunikativen Instanz werden hier gefällt. Sie materialisieren sich im (fiktiven) Erzähler und im figural ausgestalteten oder als Figur nicht präsenten (fiktiven) Adressaten: „Hier kann die Ungleichheit der Kommunikation zwischen Erwachsenem und Kind augenfällig werden oder in den Hintergrund treten; mit einer entsprechenden Gestaltung des Erzählers wird eine Kommunikation zwischen gleichen Partnern möglich.“ (a. a. O)

Die Doppeladressierung wird in der Theorie der Kinder- und Jugendliteratur konsensuell als innertextuelles Phänomen diskutiert (O’Sullivan 2000: 122ff. und Ewers 1990: 19ff.).

3.5.2 Mediale Mündlichkeit vs. konzeptionelle Mündlichkeit

Den Begriff „Bezugnahme“ verwende ich im Sinne des Intermedialitätskonzepts von Rajewsky (2002) als Mediengrenzen überschreitendes textuelles Verfahren, bei dem das kontaktnehmende Medium sich auf ein kontaktgebendes Medium bezieht. Die Anwendung des Begriffs auf den Kontext mündlichen Erzählens bedeutet, dass der Text bzw. der Diskurs als kontaktnehmendes, eindimensionales Medium aufgefasst wird, der sich auf Verfahren des kontaktgebenden, pluridimensionalen Mediums der Mündlichkeit bezieht. Allerdings geht es in diesem Fall nicht um die Simulation von Plurimedialität (Rajewsky 2002: 69-77), sondern um die Simulation der Merkmale ꞋGegenwärtigkeit / Unmittelbarkeit der KommunikationꞋ medialer Mündlichkeit.

3.5.3 Modellierungsmöglichkeiten konzeptioneller Mündlichkeit

Ich werde im Folgenden im Rekurs auf die Oralitätsforschung der 80er und 90er Jahre (Koch / Österreicher 1985, Raible 1991b, 1991c und auch Fischer-Lichte 1991) ‚konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit‘ verwenden, auch wenn Koch / Österreicher im Hinblick auf die poésie orale primärer Mündlichkeit und auf den künstlerisch-ästhetischen Diskurs sekundärer Mündlichkeit den Begriff ‚elaborierte Mündlichkeit‘ vorschlagen. Der Begriff ‚elaborierte Mündlichkeit‘ scheint mir mehr Verwirrung zu stiften als der Gebrauch ‚konzeptionelle Schriftlichkeit‘ für mündlich präsentierte Diskurse, weil ‚Elaboriertheit‘ auch als Merkmal konzeptioneller Schriftlichkeit verwendet wird. Ich gehe davon aus, dass das Prinzip ‚konzeptionelle Schriftlichkeit‘ als text- bzw. diskursgenerierendes Prinzip aufgefasst wird. Die Medialität der Schriftlichkeit ist damit nicht gemeint.

Eine Einteilung in zwei sich durch ihre Tradierungsformen unterscheidende Großformen findet sich bei Nänny als diachrone und synchrone Mündlichkeit (Nänny 1998: 215 f., Bergfelder-Boos / Bergfelder 2015: 11-16).

Die Auflistung der Gestaltungsmerkmale ist auf die für die Studie wichtigen Punkte fokussiert und erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es soll auch nicht behauptet werden, dass sie die einzigen Möglichkeiten der Herstellung von Nähe darstellen bzw. umgekehrt, dass diese Verfahren auf die Zielsetzung und Wirkungsweise der ‚Bezugnahme auf mediale Mündlichkeit‘ zu reduzieren wären. Einige nicht genannte Verfahren, die dem Erzählmodus zuzurechnen sind (wie die Wahl und figurale bzw. nicht-figurale Ausstattung z. B. eines extra- oder intradiegetischen Erzählers oder die verschiedenen Formen der Fokalisierung), werden nicht aufgeführt. Die genannten Verfahren sind für den schriftlichen Text wichtiger als für den mündlichen Diskurs und der Versuch einer Skalierung dieser Verfahren würde im Rahmen dieser Studie zu weit führen.

Großform A: fingierte Mündlichkeit:

Weinrich sieht das in das entspannte Erzählen eingebaute gespannte Erzählen als ein momentan-besprechendes Erzählen an, denn: „Er [der Erzähler, Einfügung durch Verf.] erzählt also als ob er bespräche. Dieses Als-ob ist ein wichtiges Konstituens der «spannend» erzählenden Literatur.“ (Weinrich 2001: 53)

Obwohl die binäre Thema-Rhema-Strukturierung in der Textlinguistik nicht unumstritten ist – z. B. wegen der Vermischung semantischer und kommunikativ-pragmatischer Gesichtspunkte (Brinker / Ausborn-Brinker 2010: 45, Bußmann 733) – wird sie hier in die Charakterisierung der Nähe-Sprache aufgenommen, denn sie ist gerade bei konkreten Textanalysen, besonders für die Berücksichtigung kommunikativ-pragmatischer Aspekte, hilfreich (s. auch Heinemann / Heinemann 2002: 72). Dasselbe gilt für die thematische Entfaltung.

Großform B: gattungstypologische Verfahren

Zur Definition des Begriffs poésie orale / oral poetry schließe ich mich der Auffassung Zumthors an, für den eine strikt formalisierte, rhythmische, poetisch überformte Komposition des Sprachgebildes (Zumthor 1983: 47) ausschlaggebendes Kriterium der Gattungszugehörigkeit ist. Mündlich produzierte und tradierte Genres wie chansons de geste chantées, mythes und contes lassen sich darunter subsummieren. Die poésie chantée, ein sous-groupe der poésie orale, ist für Zumthor die poetisch interessanteste Variante der Gattung (1983: 47).

Gesungene und musikalisch rhythmisierte Erzählungen wie z. B. Chansons, Rockballaden, Raps und slam poetry können einer modernen, urbanen poésie orale zugeordnet werden. Argumente dafür liefern die Berliner Rapper Sookee und Megaloh, die in einem Interview mit der Zeit die pädagogische und poetische Funktion ihres urbanen Rap wie folgt erläutern: „Zeit: Was hat Rap andern Jugendkulturen voraus? Sookee: Das Dialogförmige. Das Orale. Das Zusammenarbeiten und Schreiben. Die Textdichte. Das Format an sich, wir wissen ja, dass Musik Gefühle transportiert. Du arbeitest mit Sätzen, mit Wörtern, mit Silben, mit Sounds. Du kannst Sprache total atomisieren und dann wieder riesengroß werden lassen. Das finde ich ganz besonders und sehr schön. Megaloh: Da bin ich jetzt ganz bei dir. Man kann mit Worten ganze Welten entstehen lassen.“ (Groß / Winkler 2013)

3.6 Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-­Dimensionen-­Modells FDM-P

In einer ersten Fassung des Modells waren lediglich vier Dimensionen vorgesehen. In dieser Fassung war die jetzige zweite Dimension Teil der ersten Dimension. Da sich bei der Erstellung des Modells für die Narrativierungen der Lernenden eine weitere Dimension – die der Markierung der Textoberfläche – ergab (Kap. 5.5) und beide Modelle parallel konstruiert werden sollten, nehme ich, um Verwirrungen im Hinblick auf die Dimensionen vorzubeugen, bereits an diesem Punkt der Erarbeitung (Kap. 3.6) eine Einteilung in fünf Dimensionen vor.

4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen

Zur Konzeptualisierung der Semiotizität der Aufführung übernehme ich die von Fischer-Lichte vorgenommene Dreiteilung des theatralischen Codes in die Ebenen System, Norm und Rede, denen drei Ebenen der Untersuchung bzw. theaterwissenschaftliche Bereiche entsprechen, die theatertheoretische, die theaterhistorische und die Ebene der Analyse einer konkreten Aufführung (Fischer-Lichte 2007: 22-23).

4.1.1 Der Performance- und der Aufführungsbegriff

Im Prinzip können Aufführungen auch in privaten Räumen stattfinden, wobei hier der Teilnehmerkreis eingeschränkt bleibt.

Eine der traditionellen Konzeption verpflichtete Erzählperformance ist vergleichbar dem traditionellen Inszenierungskonzept dramatischer Texte (Fischer-Lichte 1991: 38f.). Dabei handelt es sich um ein naturalistisches Theaterkonzept, das jedoch nicht eins zu eins der Epoche des Naturalismus entspricht, sondern eine psychologisch-realistische Darstellungsform (Fischer-Lichte 2007: 59) meint, die bereits in der Klassik gepflegt wurde und auch heute noch Theaterkonzepte prägt. Traditionelle Konzepte verstehen die Aufführung als Repräsentation, nicht aber als Realerfahrung und werden in der aktuellen Theaterszene als ‚museal‘ empfunden.

Merkmale der radikal-avantgardistischen Performance-Konzepte (Pfister 2004: 518) sind:
• die Realisierung von Kunst als Aktion, als Realerfahrung, was bedeutet, dass die Künstlerinnen und Künstler in ‚Echtzeit‘, an realen Orten und real ausführend, nicht aber repräsentierend, ihre Aktionen durchführen,
• das Prinzip der Entgrenzung, d.h. der Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Traum, Spiel und Wirklichkeit,
• die Nähe des Performativen zum Ritual und die Einbeziehung des Publikums in die künstlerische Aktion,
• die Betonung der Medialität der darstellenden Künste, d.h. des Augenblicklichen, Vergänglichen, des Überraschenden, nicht Geplanten, Spontanen, damit der Offenheit der Aufführung, bei der nicht das Endprodukt, sondern der Prozess der Gestaltung wichtig ist und die sich als grundsätzlich nicht wiederholbar begreift,
• eine plurimediale Inszenierung durch Einbeziehung unterschiedlicher Medien wie Videoinstallationen in Ausstellungen und Theateraufführungen und durch Kombination mit unterschiedlichen darstellenden Künsten wie dem Theater und dem Tanz,
• die Betonung der Materialität der jeweiligen darstellenden Künste, z. B. der Körperlichkeit der Darsteller, der Beschaffenheit des Materials u. a. m.

s. die Darstellung der Aktionskünstlerin Marina Abramović in Fischer-Lichte (2004: 9-30). Kunst als Realerfahrung geht in radikal-avantgardistischen Konzepten (wie dem von Abramović) so weit, dass Performancekünstlerinnen und -künstler sich in öffentlichen Aufführungen Schmerzen zufügen, um über die eigene körperliche Erfahrung Erfahrungen und Reaktionen beim Publikum auszulösen.

4.1.2 Die Erzählperformance als Aufführung

Ich bezeichne die direkte vs. indirekte Präsentation als „Realisierung“ oder „Präsentation“, während Wolf sie als „formalen Modus der Präsentation“ (Wolf 2002a: 40) fasst. Ich möchte damit den Begriffsapparat vereinfachen und eine begriffliche Vermischung der drei von Wolf vorgeschlagenen Vermittlungsebenen (Wolf 2002a: 39-41 vermeiden. Mit „Realisierung“ oder „Präsentation“ ist die dritte Vermittlungsebene gemeint: ein narrativ-indirekter Diskursmodus (mit Erzählinstanz) in direkter Präsentationsform. Diese Unterscheidung ist die Grundlage für das „Kommunikationsmodell mündlich-fiktionalen Erzählens als Performance“ (Kap. 4.3).

4.2.1 Mündlichkeit und Körperlichkeit der Erzählperformance – die Nähe zum Theater

Eine systematische Zuordnung des mündlich-fiktionalen Erzählens zu einem eigenen semiotischen System liegt nach meiner Kenntnis bisher nicht vor. Fischer-Lichte greift das Problem punktuell auf, wenn sie im Rekurs auf Lessings Auffassung vom ‚Transitorischen‘ des Theaters eine Parallele zwischen Theater, Musik und mündlichem Erzählen zieht; gemeint ist als gemeinsames Merkmal der Verlauf der Aufführung in der Zeit (Fischer Lichte 2007: 15). Ich verwende weiterhin den Begriff „mündliches Erzählen als Performance“, wenn es um die Auffassung bzw. theoretische Modellierung des mündlichen Erzählens als performativer Präsentationsform geht. Den Begriff „Erzählperformance“ verwende ich zur Bezeichnung der Präsentationsform.

Beide Bezeichnungen– theatralisch oder theatral – für den Code und die Zeichen des Theaters finden sich bei Fischer-Lichte. Ich werde mich auf den überwiegend in Fischer-Lichte 2007 und 2009 gebrauchten Begriff theatralisch beschränken und ihn durchgehend verwenden.