Über William Boyd

Foto: © Trevor Leighton

 

WILLIAM BOYD, 1952 in Ghana als Sohn schottischer Eltern geboren, gilt als »Großbritanniens größter lebender Romancier« (The Daily Telegraph, London). Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise. Romane wie Eines Menschen Herz, Ruhelos und Die Fotografin wurden zu internationalen Bestsellern. Zuletzt erschienen im Kampa Verlag sein neuer großer Roman Blinde Liebe und in der Reihe Der kleine Gatsby die Erzählung All die Wege, die wir nicht gegangen sind. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Südfrankreich.

Endnoten

Ich habe später – ich glaube, es war 1932 in Paris – einen Anthropologen getroffen und ihm von Oonaghs patenter Baby-Beschwichtigungs-Methode erzählt. Er war nicht überrascht. Er sagte, ihm seien etliche primitive Stämme und Gesellschaften bekannt, denen solche Praktiken ganz geläufig sind. Er fügte von sich aus hinzu, seine Mutter habe ihn als Kind allabendlich beim Baden masturbiert, bis er acht Jahre alt war. Mein Gott, dachte ich, der arme Mann! Was für ein Abgrund tat sich da in seiner Seele auf?

Eine Anmerkung für Filmhistoriker. Ich möchte festhalten, dass hier zum ersten Mal eine tragbare Kamera benutzt wurde, um einen bestimmten dramatischen Effekt zu erzielen.

1955, beim Erscheinen der Tagebücher Boswells, entdeckte ich, dass Boswell und Thérèse diese Gelegenheit für eine kurze Affäre genutzt haben. Boswells Eintragung in seinem Tagebuch zufolge haben sie in drei Tagen vierzehnmal gevögelt. Thérèse war unersättlich und der junge Schotte völlig ausgepumpt. Die Eröffnung war für mich ein Schock. Ich kann Boswell bis heute nicht verzeihen, dass er Jean-Jacques so schändlich hintergangen hat.

Um die Liste der Dinge, die ich als Erster getan habe, zu vervollständigen: Ich war der Erste, der sich in Hollywood auf den fünften Zusatzartikel berufen hat. Das öffentliche Echo war gering. Ramon Dusenberry hat die Sache in seinen Blättern publikgemacht, aber ansonsten wurde sie nicht aufgegriffen. Nur in Südkalifornien nannte man mich »den Einen von Hollywood«.

Die Premiere von Last Walk fand schließlich 1961 in New York statt. Sie wurde nicht von Boykottgruppen behindert. Einige Monate zuvor hatte Präsident Kennedy einen Streikposten der American Legion passiert, um einer Vorführung von Spartacus beizuwohnen; das Drehbuch stammte von Dalton Trumbo, einem der Zehn von Hollywood.

The Private Papers of James Boswell

Das Erste, was ich tat, als ich diese Welt betrat, war, meine Mutter zu töten. Als kräftiger, rötlich glänzender Siebenpfünder wurde ich an einem kalten Märztag 1899 in Edinburgh aus ihrem Leib ausgestoßen. Gern stelle ich mir vor, dass ihr einige Stunden lang bewusst war, wieder einen Sohn bekommen zu haben, aber ich habe keinen Beweis dafür. Das Datum meiner Geburt ist das Datum ihres Todes, und damit begann mein ganzes Unglück. Mein Vater? Mein Vater war in der Vorlesung bei seinen Anatomiestudenten in der Universität. Sogleich wurde jemand geschickt, um ihn von der Entbindung meiner Mutter zu unterrichten, aber der Bote, ein begriffsstutziger Dienstmann namens McPhail, kam nicht in den Hörsaal hinein. Mein Vater wollte sich nicht unterbrechen lassen und pflegte die Türen von innen zu verschließen. Ich glaube, an diesem Tag lag sogar ein Leichnam auf dem Leichensockel vor seinem Lesepult. Nachdem er versucht hatte, die Tür zu öffnen, spähte der Bote, McPhail, durch die Türscheibe, sah die Leiche und beschloss angeekelt, bis zum Ende der Vorlesung zu warten. Später tauchte mein Vater auf, um die gute und die schlechte Nachricht zu erfahren. Als er im Krankenhaus eintraf, war ich am Leben, und seine Frau war tot.

Was empfand er? Fast sehe ich es noch vor mir, wie er sich mit seinem blutleeren, knochigen Gesicht, mit den dichten Büscheln unrasierter Bartstoppeln auf den Backenknochen über das Kinderbettchen beugt. Gewöhnlich zeigte sich keinerlei Regung darin. Weder Freude noch Verzweiflung. Vielleicht wurde der Tabakgeruch, der normalerweise in seinen Kleidern hing (er rauchte 60 Stück pro Tag), von einer schwachen Ausdünstung von Kampfer und Formaldehyd überlagert.

Mein Vater war normalerweise ein reinlicher Mensch, fast von Reinlichkeit besessen, und ich konnte nie verstehen, warum er nicht den schmalen Talkumrand, der sich auf seinen Nagelhäuten festgesetzt hatte, mit einem Streichholz oder einem Taschenmesser entfernte. Das war eine von zwei persönlichen Eigenheiten, die mir immer unangenehmer aufstießen. Die andere bestand darin, dass er sich diese Bartstoppeln auf den Wangen nicht abrasieren wollte. Sichelförmig ragte ein dichter Bart bis unter seine Augen. Das ist eine Marotte, die ich bei Engländern, besonders bei Armeeoffizieren, öfter beobachtet habe, doch ich würde sagen, dass mein Vater von Marotten nahezu frei war – warum hielt er also an einer so aufdringlichen fest? Als ich größer war, hat mich das manchmal fast bis zum Wahnsinn gereizt.

Wenn ich, was selten vorkam, meinen Vater schlafend antraf, blieb ich stehen und starrte in wächserne Gesichtszüge, die – wegen der Blässe seiner Haut – sanft und zugleich – wegen der Scharfkantigkeit seiner Gesichtsknochen – grob waren, und es verlockte mich sehr, ihn unbemerkt zu rasieren. Ich hätte ihm zumindest auf einer Seite den Bewuchs entfernen oder so schwer beschädigen können, dass er ihn auch auf der anderen Seite hätte abrasieren müssen. Aber natürlich habe ich mich nie getraut, und der Backenbewuchs blieb.

Es ist durchaus angemessen, wenn Sie sich nun fragen, warum ich mich so auf dieses Thema versteife. Ich möchte es so erklären: Wenn man mit jemand zusammenlebt und Tag für Tag sein Gesicht sieht und den Betreffenden nicht liebt, dann ist der tägliche Umgang mit diesem Menschen nur erträglich, wenn an seinem Gesicht oder seiner Person nichts ist, was den Blick auf sich zieht. Gleichgültig, ob er eine Narbe hat, ob er

Habe ich meinen Vater also nicht geliebt? Ich weiß es nicht. Vielleicht doch, auf meine Art. Sicher war die Beziehung kompliziert genug, um als so etwas wie Liebe gelten zu können. Ich weiß, dass er mich nie geliebt hat, aber das ist, soweit es um mich geht, von untergeordneter Bedeutung. Er hat mich ganz einfach deshalb nicht geliebt, weil ich ihn ständig an seinen Verlust erinnerte. Später kam dieser Zusammenhang auf paradoxe Weise wieder zum Vorschein. Bei einer unserer letzten Begegnungen – er war in den Achtzigern, ich in den Fünfzigern – gewahrte ich (ich hatte mich umgedreht, um Tee zu bestellen) in der leicht angelehnten Glastür eines Mahagonischränkchens sein Spiegelbild. Es zuckte merklich um seine Nasenflügel, und er schüttelte still und angewidert den Kopf. Ich weiß noch, dass ich an diesem Nachmittag besonders nett zu ihm war, obwohl er furchtbar gereizt war. Aber in dieser Phase meines Lebens konnte nichts, nicht einmal er, meine misanthropische Ruhe stören. Das Letzte, was er damals zu mir sagte, war: »Warum lässt du dir nicht deine verdammten Haare schneiden?« Haare. Sehr treffend. Der Kreis hatte sich geschlossen. Fast hätte ich erwidert, dass ich es machen ließe, wenn er sich seinen blöden Backenbart abrasierte, dass ich, wenn er das getan hätte, in den letzten dreißig Jahren verdammt mehr von ihm gesehen hätte, aber ich hielt mei

 

Aber ich schweife ab. Lassen Sie mich etwas über das Unternehmen sagen, auf das wir beide, Sie und ich, uns eingelassen haben. Es geht um die Geschichte eines Lebens. Um mein Leben. Das Leben eines Mannes im 20. Jahrhundert. Um das, was ich getan habe, und um das, was andere mir angetan haben. Wenn ich hier und da unabsichtlich etwas ausgeschmückt habe, so nur, um eine gelegentliche Erinnerungslücke auszufüllen. Manchmal habe ich vielleicht für eine Tatsache gehalten, was lediglich eine Wahrscheinlichkeit war, aber ich habe nie – und das betone ich – etwas als wahr dargestellt, wenn ich wusste, dass es nicht stimmt. Ich präsentiere mich so, wie ich war – gemein und verächtlich, wenn ich mich entsprechend verhalten habe, und hilfreich, großmütig und selbstlos, wenn ich so gewesen bin. Die Menschen um mich herum habe ich immer scharf beobachtet, und mich selbst habe ich von dieser kritischen Prüfung nicht ausgenommen. Ich bin kein Zyniker; ich bin nicht voreingenommen. Ich bin einfach Realist. Ich gebe keine Urteile ab. Ich beobachte bloß. Hier bin ich also. Sie mögen über meine unglaublichen Fehler stöhnen, mich wegen meiner unzähligen Torheiten ausschelten und über meine Bekenntnisse schamrot werden, doch ich frage mich, ob Sie wirklich die Hand aufs Herz legen und sagen können: »Ich bin besser als er«?

 

Mein Name ist John James Todd. Mein Vater war Innes McNeil Todd, chirurgischer Oberarzt am Königlichen Krankenhaus und Professor der klinischen Anatomie an der Universi

Meine liebe Mutter war Emmeline Dale, Tochter von Sir Hector Dale aus Drumlarish, Argyllshire, einem Gutsbesitzer mit riesigen Flächen, wenig Vermögen und noch weniger Verstand. Meine Eltern heirateten 1891. Meine Mutter war das fünfte Kind von Sir Hector (seine Frau, ihre Mutter, starb, als sie fünf war). Sie hatte vier ältere Brüder und eine jüngere Schwester, Faye, die in England lebte. Nach allem, was man hört, hat meine Mutter meinen Vater sehr geliebt. Sie lernten sich kennen, als er kam, um einen entzündeten Kropf an Sir Hectors Hals zu verätzen. Zu jener Zeit besaß Sir Hector ein Stadthaus in Edinburgh, das in der Ann Street in der Neustadt lag (und leider kurz darauf verkauft wurde); dort verbrachte die Dale-Familie die ärgsten Wintermonate, um im Frühjahr in das große Haus in Drumlarish zurückzukehren. Innes Todd heiratete Emmeline Dale in der Pfarrkirche St. Mungo in Barnton, damals ein außerhalb Edinburghs gelegenes Dorf, aus dem die Todds ursprünglich stammten. Sir Hector überließ seiner Tochter eine bescheidene Mitgift, und das junge Paar zog in die riesige Wohnung, die mein Vater – er wird gewusst haben, warum – in der nicht gerade vornehmen High Street genommen hatte, wo sie, wiederum nach allem, was man hört, in ungetrübtem Glück lebten – bis ich kam. 1892, etwa sechzehn Monate nach der Heirat, gebar meine Mutter ihr erstes Kind, einen Jungen, meinen Bruder. Vor seiner Zeu

T.H.D. Todd, mein Bruder. Thompson Todd. Tatsächlich sollen einige seiner Freunde ihn »Tommy« nennen, doch ich schwöre, dass ich seit frühester Kindheit außer Stande war, ihn anders als Thompson zu rufen. Namen haben für mich eine große, nahezu magische Bedeutung. Thompson schien – und scheint, denn der Kerl ist immer noch auf dem Damm – als Vorname haargenau auf ihn zu passen. Das Sture, das Harte, die Ballung von Konsonanten, die es aus meiner Sicht völlig unmöglich macht, auch nur einen Hauch von Zärtlichkeit einfließen zu lassen.

 

Fahren Sie nach Edinburgh. Stellen Sie sich auf den großen freien Platz vor dem riesigen Schloss, mit dem Rücken zum Pförtnerhaus. Sie blicken die Royal Mile hinunter, die ehemalige High Street der Stadt, das Rückgrat der Altstadt. Sehen Sie nach Möglichkeit über das blankgescheuerte Mauerwerk und die liebevolle Restaurierung, den freundlichen Aufputz und die muntere Geschäftigkeit von heute hinweg. Als ich

Drehen Sie sich jetzt um und blicken Sie nach Norden, zum Firth of Forth. Alles, was in Edinburgh Rang und Würde hatte, ist über das steile Tal der Waverley Gardens in die vornehme und gepflegte, rasterartig angelegte Neustadt gezogen. Ihre sonnigen, begrünten Plätze, ihre klassische Selbstsicherheit, ihre perfekte georgianische Symmetrie bildeten einen mächtigen Gegensatz zu dem beengenden, schmutzstarrenden Weg, der vom Schloss auf seiner Höhe zum Palast von Holyrood mit seinem bescheidenen Park führte.

Verlassen Sie nun den Vorplatz des Schlosses und gehen Sie die High Street in Richtung St. Giles’ Cathedral hinunter. Halten Sie sich auf der linken Seite. Über den Lawnmarket und weiter. Sie kommen dabei an niedrigen Durchgängen vorüber, geduckten, dunklen Tunnels, die in kalte, terrassenförmig angelegte Schluchten hinabführen. Wenn Sie vier oder fünf dieser Durchgänge passiert haben, kommen Sie an einen Eingang namens Kelpie’s Wynd. Gehen Sie hinein. Wer größer ist als ein Meter fünfundsiebzig, muss den Kopf einziehen. Durchqueren Sie den Tunnel, und Sie landen in Kelpie’s Court. Blicken Sie hinauf. Die hohen Stufengiebel, die sich oben zusammendrängen, geben ein umgrenztes, armseliges Stück Himmel frei. Nur im Hochsommer werden die alten, schweren Stein

Es sind merkwürdige Gebäude, beiderseits der Royal Mile. Stellen Sie sich vor, dass die Straße über einen mächtigen abschüssigen Bergkamm verläuft. Auf der Südseite zieht sich eine planlose Bebauung bis zum Grassmarket und zur Victoria Street hinunter. Auf der anderen, nördlichen Seite fällt es dagegen steil ab bis hinunter zu den Eisenbahnlinien im Talgrund. Wegen des steilen Hangs kann ein Haus auf der Nordseite der High Street, das vorne vier Stockwerke aufweist, auf der Rückseite neun oder zehn haben. Wenn Sie von der Princes Street aus über die Talgärten hinwegblicken, wirken diese riesigen strengen Blöcke wie vom Steinmetz behauene, von schmalen Klüften durchsetzte Felsen. Damals erschienen sie mir als gewaltige Bauwerke, als embryonenhafte, immer noch wachsende Wolkenkratzer.

Manche dieser alten Gebäude enthielten bis zu zwanzig Wohnungen, teils kleine, teils große. Unsere gehörte zu den Letzteren; irgendwann waren wohl zwei zu einer zusammengelegt worden. Es gab einen geräumigen Salon, eine Bibliothek, ein Speisezimmer, sechs Schlafzimmer und ein Badezimmer. Eine große Küche bildete zusammen mit einer Speisekammer, einer Spülküche und einem Schlafgemach den Bezirk des Dienstpersonals. Seit dem 15. Jahrhundert sind an dieser Stelle Gebäude gestanden. Von Zeit zu Zeit waren sie eingestürzt oder abgebrannt, und auf den Ruinen hatte man neue Wohnungen errichtet. Die High Street wirkte wie eine überalterte, aus Stein errichtete Barackensiedlung. Die Häuser waren allmählich durch Anbauten und Umbauten gewachsen. Es gab Fenster von jeder Größe – wirklich eine gefällige Vielfalt –, und der Einbau von Wasserklosetts und modernen Installationen erforderte wahres Genie.

Den ältesten Teil des Gebäudes bildeten stets der Treppenschacht und die Treppen. Die Wendeltreppen waren aus Stein und hatten die periodischen Zerstörungen überstanden. Die

Unsere Wohnung lag im ersten Stock. Hinter der winzigen Eingangstür lag ein Flur mit holzgetäfelten Wänden, der leer war bis auf einen Kamin, in dem das ganze Jahr hindurch ständig ein Kohlenfeuer brannte, so als müsse es unser Heim vor dem eisigen Zugriff des Treppenhauses schützen. Rechter Hand führte eine Tür in die Küche, links lagen die Wohnräume. Beim Eintreten hatte man das Gefühl, nicht bloß aus einem anderen Klima, sondern auch aus einer anderen Ära zu kommen. Aus einer Welt von Stein und Stahl (der blatternarbige Handlauf) in eine Welt von Holz, Täfelungen, Tapeten, Teppichen und Bildern. Der Salon besaß eine schöne Stuckdecke, das Bibliothekszimmer einen seidenen Orientteppich. Die Korridore waren mit dunklem Eichenholz getäfelt, die Schlafzimmer mit handgeprägten Tapeten versehen. Das war eine Hinterlassenschaft der letzten, tödlichen Entbindung meiner Mutter. Nach ihrem Tod soll sich der Charakter der Wohnung – sie war geschmackvoll, anheimelnd und bequem gewesen – geändert haben. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war wohl durchaus komfortabel, aber es hatte eine strenge Note. Von der Anwesenheit meiner Mutter waren nur wenige Spuren geblieben. Genauer gesagt: Als ich alt genug war, um sie wahrzunehmen, hatte der Zeitablauf sie verändert: Die Platindrucke waren verblichen, die Tapeten stockfleckig, die Teppiche abgelaufen. Mein Vater war zu Änderungen nicht sonderlich aufgelegt. Gott sei Dank hatte meine Mutter ein Wasserklosett installieren lassen – so konnten wir wenigstens auf zivilisierte Art scheißen. Weiter unten in der High Street

Von den Fenstern unseres Salons aus hatten wir einen anregenden Ausblick. Die Princes Street mit ihren Kaufhäusern und Hotels, in der sich Fußgänger, Omnibusse, Straßenbahnen und Kraftwagen drängten, die National Gallery, das Scott-Denkmal, der Calton-Hügel – und unter uns die Waverley Gardens mit ihrem üppigen Grün und den Wegen, auf denen ständig Verkehr herrschte. Nie schienen diese Gärten leer zu sein; dauernd waren sie bevölkert von Edinburgher Familien, die umherschlenderten, die die Springbrunnen anstarrten, Blaskapellen lauschten oder die eintönigen Blumenbeete begafften. Man hätte meinen können, sie hätten nie zuvor Gras und Bäume gesehen, so emsig suchten sie diesen Platz auf. Dabei bietet die Stadt, wohin man auch schaut, eine erdrückende Fülle von Landschaftsansichten. Von der George Street aus haben Sie einen ungehinderten Rundblick über den Forth und auf das Bauernland der Grafschaft Fife jenseits des breiten Gewässers. Nach Osten zu erheben sich im Hintergrund der Arthur’s Seat und die Salisbury Crags, im Westen die sanften Pentland Hills …

Das wohlanständige Gehabe in den Parks hat mich immer gestört. Solange ich zurückdenken kann, war mir immer die Altstadt lieber, der unregelmäßige, düstere, bröckelige Abhang der High Street, mag er auch dreckig und stinkig gewesen sein. Schon beim geringsten Regen quollen die Rinnsteine über vom Kot. Weiter bergab, jenseits der North Bridge, schäumte das trübe Wasser vorbei an den heruntergekommenen Mietshäusern, den finsteren Kneipen, den stinkenden Caféhäusern

 

Das Kind akzeptiert seine Umgebung, so bizarr sie auch sein mag, als das Normale, weil es nichts anderes kennt. Es hat lange gedauert, bis mir aufging, dass meine Erziehung aus dem Rahmen des Üblichen fiel. Ob ich in Kelpie’s Court Nr. 3 glücklich war? Ich denke schon, denn es ist mir nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen. Thompson und mein Vater waren unstete Gefährten, der eine in der Schule, der andere in der Arbeit. Ich bin fast ausschließlich unter der Obhut und Pflege unserer Haushälterin Oonagh McPhie aufgewachsen. Sie hatte eine Reihe von Küchenmädchen, die in der Küche halfen, die Feuerstellen versorgten, kehrten und putzten, und Oonaghs Mann Alfred schaute jeden Tag vorbei, um Kohle heraufzubringen, wenn der Vorrat aufgefüllt werden musste. Doch über allem waltete Oonagh. Tagsüber, zwischen Frühstück und Abendessen, war die Wohnung ihr Reich und hörte auf ihren Befehl.

Sie muss Mitte zwanzig gewesen sein, als ich geboren wurde. Sie war ein stattliches, dralles Mädchen von der Insel Lewis. Sie hatte mattblondes Haar, das sie stets in einem Knoten trug, und große, merkwürdig hervorstehende Augen mit herabhängenden Lidern. Sie konnte zwar nicht lesen und schreiben, aber sie war aufgeweckt. Alfred, ihr Mann, war Schellackpolierer, und sie wohnten nicht weit weg am Grassmarket. Sie hatte drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, die alle im Schulalter waren, aber nie in unser Haus gekommen sind. Oonagh kam gewöhnlich um sechs Uhr morgens und ging nach dem Essen um acht. Wie hat sie ihren eigenen Haushalt erledigt?

Natürlich liebte ich sie maßlos, mit einer schmerzlichen, heftigen Leidenschaft, die mich auch heute noch zu rühren vermag. Ich kann nichts dafür. Ich habe nie jemanden gehabt, zu dem ich »Mutter« sagen konnte. Als ich alt genug war, um die Wahrheit zu entdecken, war es zu spät. Ich dachte, jeder hätte eine »Oonagh«, die morgens kam und abends nach Hause ging. Blieb mir etwas anderes übrig? Noch bevor ich überhaupt davon wusste, wirkte sich der Tod meiner Mutter unheilvoll auf mich aus.

Erste Erinnerungen. Die Verwesung setzt ein. Oonagh hält mich, sagt etwas, summt in ihrer seltsamen gälischen Sprache ein Lied. Oonagh schaut mich an. »Armes kleines Ding. Hat er keine Mami? Ich werde deine Mami sein, Johnny.« Hat sie ihre Leinenbluse aufgeknöpft und eine Brust hervorgeholt, damit ich mich an sie schmiegen, sie drücken und küssen konnte? Woher habe ich diese Vorstellungen? Sind es tief verschüttete Kindheitserinnerungen? Hat sie jemals … Hat sie jemals meinen kleinen heißen Kopf an diese kühlen, bleichen Brüste gepresst?

Eines Tages – das weiß ich ganz sicher –, ich muss sieben gewesen sein, es war in der Küche, Oonagh befestigte das Oberteil ihrer frisch gestärkten, strahlend weißen Schürze an ihrer Bluse. Wie ihr großer Busen sich vorwölbte. Wie ihre groben Hände den steifen Stoff über der Wölbung glattstrichen. Ich machte Riesenaugen.

»John James Todd! Wo glotzt du hin?«

»Kannst deine Augen wohl nicht von meinen Titten losreißen, was?« Ihre Hände sanken herunter. »Willste mal gucken?«

Atemlos vor Verlegenheit, rannte ich mit roten Ohren aus der Küche, und Oonagh lachte fröhlich hinter mir her.

Ach du lieber Gott, was habe ich nicht alles von Oonagh erwartet – aber auch von den anderen in diesem Haushalt. Wenn ich jetzt zurückblicke, wird mir klar, dass die Aufgabe einer Mutter vor allem darin besteht, den unfertigen formbaren Charakter ihres Kindes zu schützen und zu hegen. Die nicht nachlassende, bedingungslose Liebe der Mutter ist für das Kind ein sanfter, aber fruchtbarer Boden der Normalität und Alltäglichkeit, auf dem es wachsen und gedeihen kann. Was blieb mir in diesem Hause übrig? Mein abweisender Vater, der dicke, gefühllose Thompson – ich musste mich einfach Oonagh zuwenden. Irgendwie hat sie mich schon geliebt, aber ich war doch das Kind ihres Arbeitgebers. Sie hat mich umhegt, aber sie setzte ihrer Fürsorglichkeit Grenzen. Das Bedürfnis war deshalb einseitig, es ging nur von mir aus. Zum Glück fand sie mich offenbar wirklich amüsant, es machte ihr Spaß, mich um sich zu haben, und wenn es mir gelang, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, beschäftigte sie sich gern mit mir.

Anfangs dachte ich wie alle Kinder, ich bräuchte mich nur schlecht zu betragen, um das zu erreichen, aber in dem Fall verfügte Oonagh über sehr abschreckende Strafen. Sie schnippte mir mit ihren kurzen, harten Nägeln gegen die Ohren, die mir anschließend stundenlang brannten. Oder sie zwickte mich unter dem Arm, wobei sie das zarte Fleisch unterhalb der Achselhöhle zwischen ihrem groben Zeigefinger und dem spitzen Daumenknöchel zusammenpresste. Manchmal packte sie mich an einem Nasenflügel und zerrte mich durch die ganze Wohnung. Dann und wann schlug sie mir auch mit einem bestimmten Holzlöffel auf den Kopf, sodass

So blieb die Zahl meiner Verstöße gering. Ich verlegte mich darauf, ihre Aufmerksamkeit dadurch zu gewinnen, dass ich dem Gespräch eine bestimmte Wendung gab, dass ich Geschichten erfand. Hatte ich sie damit gefesselt, so fing sie von sich aus an zu plaudern, und gelegentlich endete das in Zärtlichkeiten – einem Kuss, einem gälischen Kosenamen, einer Umarmung, bei der das zarte, allmählich nachlassende Rascheln einer gestärkten Schürze in mein Ohr drang und meine Nase den milden, zwiebelartigen Schweißgeruch ihrer Achselhöhle aufnahm. Die Zärtlichkeiten wurden mit zunehmendem Alter weniger, doch die Sehnsucht nach ihrer Liebe hat mich nie verlassen.

Weil ihre Zuneigung so selbstlos war, empfand ich zunächst keine Eifersucht, als sie mit ihrem vierten Kind schwanger wurde. Ich war sechs, als es geboren wurde – es war ein Junge, und er hieß Gregor. Wenn sie zur Arbeit kam, brachte sie ihn mit und legte ihn in einen leeren Holzkorb in einer Ecke der Küche. Hat sie Gregor gestillt? War das der Grund meiner täuschenden Erinnerungen? (Er war ein großes, hässliches, aber Gott sei Dank stilles Kind.) Habe ich mich im Geiste an seine Stelle versetzt? Habe ich bei der Gelegenheit diese runden, länglichen, blaugeäderten Brüste gesehen, gegen deren stachelbeerartige Festigkeit Gregor seine rotzige Knollennase presste? Durchaus möglich. Ich war ein eifersüchtiges Kind. Diese abrupte, zerstörerische Eifersucht steckt noch immer in mir. Einmal kam sie mich, wie Sie noch sehen werden, teuer zu stehen. Meine Gleichgültigkeit Gregor gegenüber schwand rasch dahin. Ich hasste ihn. Er war der erste Mensch, den ich gehasst habe.

»Du kleiner Teufel«, sagte sie. »Das haben wir gleich.« An mich gewandt: »Nun mach schon, iss«.

Sie hob Gregor aus dem Korb, wickelte ihn aus den Windeln und legte ihn nackt auf den Küchentisch. Ich schaute leicht verwundert zu. Er brüllte. »Zorniger kleiner Mann«, sagte sie. An mich gewandt: »Es wird kalt.« Ich nahm mir ein Stück Hering auf die Gabel.

Oonagh beugte sich über Gregor und nahm seinen winzigen Penis in den Mund. Er hörte sofort auf zu schreien. Er gluckste. Eine Hand schlug ins Leere. Seine blassen Augen wanderten blicklos zu mir. Er warf den Kopf hin und her, so als wehre er sich gegen eine mächtige einschläfernde Kraft. Seine Augen schlossen sich. Er schlief. Oonagh saugte noch eine Minute lang rhythmisch weiter. Auf einmal trafen sich unsere Blicke. Ich saß erstarrt, die Gabel in der Hand, die Kehle ausgedörrt. Oonagh zwinkerte mir zu, als wollte sie sagen: »Das hätten wir wieder mal geschafft«.

Sie hielt inne.

»So, dich hätten wir versorgt.« Gregors kleiner steifer Penis glänzte, ein dünner, rosiger Kegel.

 

Oonagh, Oonagh … Hast du das jemals mit mir gemacht? War ich jemals so störrisch, dass du mich mit solchen Methoden besänftigen musstest? Du lieber Himmel, was sich in diesen Jahren alles entscheidet. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, muss ich sagen, dass sie in vieler Hinsicht den stärksten und nachhaltigsten Einfluss auf mich gehabt hat. Wenn die Kindheit den späteren Menschen prägt, dann hat Oonagh mich geformt. Sie hat mich erzogen. Sie war die erste Frau, die ich je geliebt habe, vorbehaltlos, aus ganzem Herzen, besinnungslos. Oonagh hat mich zu dem gemacht, der ich bin.

Aber das ist ungerecht … Sie konnte nichts dafür, dass meine Mutter starb, dass mein Vater sie einstellte und dass ich so geworden bin, wie ich bin. Es war einfach nichts zu machen. Und die tickenden Zeitbomben, die sie in meine Seele gelegt hat, sind seitdem explodiert.[1]

Meinen Bruder Thompson Todd habe ich nie recht gemocht. Er war ein dickliches Kind und hatte ein merkwürdig reifes, hängebackiges, mürrisches Gesicht. Er hatte hellbraune Haare und helle Wimpern. Wenn im Sommer schönes Wetter war, fuhr Oonagh mit uns zum Baden an die See, nach Portobello bei Edinburgh. Meine früheste, unverrückbare Erinnerung an Thompson stammt aus der Zeit, als er, glaube ich, zwölf und ich sechs war: Ich liege bewegungsunfähig auf dem Strand, seine dicken Knie auf meinen schmalen Schultern, und er scheuert mir voll Freude das Gesicht mit Sand. Den ganzen Tag knirschte es zwischen meinen Zähnen. Ich habe keine Ahnung, warum er mich nicht mochte. Normalerweise ist es bei einem Altersunterschied von sechs Jahren so, dass der ältere Bruder dem jüngeren eine innige Zuneigung entgegenbringt, dass er ihn gern als Kumpel um sich hat, als bereitwilligen Verehrer, fast wie ein Lieblingstier, aber Thompson verhielt sich mir gegenüber, wenn ich mich recht erinnere, teils kühl, teils

Im Gegensatz zu Thompson war ich als Kind in den Jahren vor der Pubertät anziehend. Ich war klein, dunkelhaarig, dunkelhäutig und schlank, der Kopf ungewöhnlich, fast unverhältnismäßig groß, mit einem schwarz glänzenden Haarschopf, den Oonagh quer über die Stirn zu einer kompromisslosen Ponyfrisur gestutzt hatte. Es gibt ein Foto von mir mit sieben Jahren, wie ich mit Thompson auf dem Strand von Gullane stehe. Neben seiner massigen Gestalt (unter den waagerechten Streifen seines Badeanzugs schwellen bei ihm fast mädchenhaft die Brüste) wirke ich vor dem Hintergrund des hellen Sandes fast wie ein Strich, zerbrechlich. Untypisch ist, dass wir Händchen halten. Ich bin gerade aus dem Wasser gekommen, und mein nasses Haar liegt glatt nach hinten und gibt die Stirn frei. Durch die veränderte Frisur entsteht eine Ähnlichkeit mit einem Bild, das mich rund zwanzig Jahre später in Berlin zeigt – hager, asketisch, abweisend und streng. Eine steife Brise drückt das Gras auf den Dünen nieder und peitscht die Sandkörner von hinten gegen meine Beine, während ich fasziniert und naiv in die neutrale, verlockende Linse starre.

Den Fotoapparat hielt Donald Verulam, ein Bekannter und ehemaliger Kollege meines Vaters an der Universität. Donald war in den Dreißigern, Engländer, Junggeselle und außerordentlicher Professor der klassischen Philologie. Er saß mit meinem Vater in irgendeinem Universitätskomitee, und im Laufe der Jahre war eine reservierte Art von Freundschaft zwischen ihnen entstanden, die sich seit dem Tod meiner Mutter verstärkt hatte. Donald kannte sich in der Medizingeschichte aus, hatte Vesalius’ De Humani Corporis herausgegeben und Untersuchungen über klassische Theorien der Fortpflanzung und des Blutkreislaufs veröffentlicht. Er war sehr hochgewachsen, an die ein Meter neunzig, und hatte die ein wenig unsi

Donald war ein perfekter Amateurfotograf. Er hatte eine neue Houghton’s Folding Reflexkamera, und nachdem er und mein Vater ihre Runde Golf gespielt hatten, kamen sie zum Strand herunter, wo wir unser Picknick hatten, um uns für die Rückfahrt abzuholen. Bei dieser Gelegenheit ließ Donald uns des Öfteren vor seiner Kamera posieren. Thompson ließ sich fast nie dazu bewegen; Oonagh, auf einmal abergläubisch, lehnte ab, aber ich stellte mich bereitwillig auf Felsblöcke, schwang einen der Golfschläger meines Vaters oder fütterte Esel mit Zuckerstückchen, wie Donald es für seine Kompositionen brauchte.

 

Ich war kein kluges Kind, was die Schule angeht. Ich war aufgeweckt, gescheit, schwatzhaft und energisch, aber mit sieben konnte ich kaum lesen. Thompson besuchte inzwischen die Royal High School, auf die mein Vater mich später auch zu schicken gedachte. Bald stellte sich jedoch heraus, dass ich mit meinen Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben in dieser strengen Anstalt kaum Aufnahme finden würde. Thompson hatte bei meiner Mutter Lesen gelernt, und sie hatte ihm allabendlich vorgelesen. Oonagh war, wie gesagt, Analphabetin. Als ich noch klein war, verbrachte ich meine Tage mit ihr, und sie brachte mich abends zu Bett. Regelmäßig bat ich sie, mir eine Geschichte zu erzählen, und das tat sie. Sie sprach zu mir auf gälisch – alte Volksmärchen, nehme ich an –, aber ich war völlig verzaubert. Der dunkle Raum, in dem nur eine Lampe brannte, Oonaghs Schenkel, der meine Seite wärmte, und ihr angenehmer, lebhafter Akzent mit seinen sonoren, weichen Kehllauten. Oonaghs offenes Gesicht, auf dem sich unverstellt der Ausdruck des Erschreckens, der Überraschung, des Entsetzens, der grenzenlosen Freude abzeichnete … Ich war hingerissen. Und ich bin sicher, dass hier der Schlüssel zu meiner künstlerischen Entwicklung liegt, der Grund für den ungewöhnlichen Verlauf meiner persönlichen Entwicklung. In jener entscheidenden Frühzeit wurde meine Imagination nicht von irgendeiner konventionellen literarischen oder pädagogischen Tradition geprägt. Oonaghs bezaubernde, unverständliche Märchen und ihr großes, ausdrucksstarkes Gesicht gaben mir hinreichend Nahrung. Dies ist es, was mich nach meiner Überzeugung von meinen Künstlerkollegen trennt und meiner Sehweise ihre Einzigartigkeit verleiht.

Mein Vater war natürlich der Ansicht, er habe ein zurückgebliebenes Kind – eine weitere Last, die ich ihm aufgebürdet hatte –, und er suchte das Problem dadurch zu lösen, dass er mich mit sieben Jahren auf die Volksschule in Barnton schickte, die er selbst besucht hatte. Er gehörte der Verwaltungskommission der Dorfschule von Barnton an. Als ihr berühmtester ehemaliger Schüler hatte er keine Schwierigkeiten, mich dort unterzubringen. Irgend etwas bestärkte ihn in der wunderlichen Ansicht, diese Schule könne die rigide Selbstdisziplin und den unerschütterlichen Ehrgeiz, denen er seinen raschen Aufstieg zu akademischen Ehren verdankte, auch in mir wachrufen. Er irrte sich. Ich scheiterte dort (in allen Fächern außer einem) ebenso schmählich, wie ich auch anderswo gescheitert wäre.

Seine trotzige Überzeugung, die Dorfschule von Barnton biete die Lösung, hatte die ärgerliche Nebenwirkung, dass ich jeden Tag lange mit dem Zug unterwegs war. Jeden Morgen nahm ich den 6-Uhr-42-Zug vom Waverley-Bahnhof nach Barnton (von dort hatte ich fünfzehn Minuten zur Schule zu laufen), und wenn ich Glück hatte, erwischte ich nachmittags den 4-Uhr-30-Zug nach Hause. Thompson brauchte bloß zehn Minuten mit der seilgetriebenen Straßenbahn zur nahe gelegenen Regent Road zu fahren, während ich für den Weg zur Schule und zurück täglich bis zu zwei Stunden benötigte. Außerdem war ich ein einsamer Pendler, denn ich bewegte

Donald Verulam wohnte in Barnton, und ein- oder zweimal im Monat begegneten wir einander nachmittags auf dem Bahnsteig, wenn er zu Hause gearbeitet hatte und in die Stadt fuhr, um in seinem Club zu essen oder an einer Veranstaltung der University Photographic Society teilzunehmen. Es war Donald und nicht mein Vater oder Oonagh, der mir von meiner Mutter erzählte.

»Du hast die Nase und die Augen deiner Mutter«, sagte er einmal mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. Er schob meine Ponyfrisur zurück. »Ja … Sie hat ihr Haar immer nach hinten gekämmt getragen.« Dabei schürzte er ein wenig die Lippen, und sein Adamsapfel sprang auf und ab.

»Ein vornehmer Charakter, Johnny … Eine schreckliche, schreckliche Tragödie. Du hättest …« Er stockte und schaute rasch aus dem Fenster.

Oft hatte er seinen Fotoapparat dabei, der in einer stabilen, mit Samt ausgekleideten braunen Ledertasche steckte, gelegentlich auch lederne Hüllen mit Fotos und Platten. Er erklärte mir dann die Grundzüge der Fotografie und erläuterte mir, wie man die Dauer der Belichtung des lichtempfindlichen Papiers genau bestimmt. Und an einem Sommerabend, als wir gerade durch Blackhall ratterten, packte er seinen Fotoapparat aus, klappte die Linse mit ihrem Lederbalg hervor und ließ mich durch den Sucher blicken. Ich stand am Fenster, der unhandliche Apparat wog schwer in meinen Händen, und ich betrachtete die Welt zum ersten Mal durch eine Kamera. Es waren lediglich die Haus- und Schrebergärten von Blackhall, ein Bild, das ich unzählige Male gesehen hatte, aber vermittelt durch die Linse und in dem eingeengten Bildausschnitt wirkte das alles anders. Es schien nicht mehr dasselbe zu sein. Es sah eigentümlich verändert aus, irgendwie ungewöhnlich, voll un

»Drück drauf«, sagte Donald. »Es geht ganz einfach.«

Welchen Moment sollte ich wählen? Ich war unschlüssig. Klick. Dieser Moment war verewigt. Mein Schicksal war entschieden.

Als er eine Woche später zum Essen kam, überreichte er mir den Abzug. Ein verwischter, undeutlicher Eindruck von Häusern, Licht und Schatten, ein Gerüst von Bohnenstangen, ein diamantenes Glitzern, das von einem Gewächshaus ausging.

»Nicht schlecht«, sagte er. »Guter Eindruck von Geschwindigkeit. Man könnte meinen, wir wären mit 90 Sachen gefahren.«

Ich zeigte Oonagh das Foto. Sie wendete es hin und her, schob mit ihrer Zunge die Wange heraus.

»Was ist das?«, sagte sie.

»Es ist mein erstes Foto. Ich nenne es ›Häuser bei schneller Fahrt‹.«

»Nicht besonders gut. Kann nicht viel sehen.«

Zu meinem zehnten Geburtstag wünschte ich mir einen Fotoapparat. Ich bekam eine winzige Watson’s Bebe, eine Hand- oder Detektivkamera, wie man sie nannte. Mein Vater, froh darüber, dass bei seinem Sohn irgendein Interesse erwachte, kaufte sie gern. Ich machte sehr wenige Bilder, ganz bewusst, nicht notgedrungen (Donalds Dunkelkammer stand mir immer zu Verfügung). Diese Sparsamkeit im Bildermachen war wohl typisch für mich. Ich lief mit meinem Apparat viel in Edinburgh herum, und oft hatte ich ihn, wenn ich nach Hause kam, nicht aus seiner Tasche hervorgeholt. Und was habe ich für Aufnahmen gemacht? Ich habe den mit zwei ausgestopften Marionetten geschmückten Unterstand eines Droschkenkutschers in der Balcarres Street fotografiert. Ich habe das kummervoll dreinblickende räudige Kamel im Corstorphine-Zoo fotografiert. Ich habe ein Bild von meinem Vater gemacht, wie er in vollem akademischem Ornat Queen Mary die Hand

 

Unser gemeinsames Hobby brachte mich Donald Verulam näher. 1912 zeigte er zwei meiner Fotos (Sandy Malcolm und einen Steinmetz bei der Arbeit) in einer Ausstellung der University Photographic Society in der Trade Hall am Leith Walk. Nach Ende der Ausstellung – es war ein Freitag – durfte ich als eine Art Belohnung eine Nacht in seinem Haus in Barnton verbringen. Am anderen Tag wollten wir mit unseren Kameras nach Swanston gehen und beim Heumachen zusehen.

Donald bewohnte eine geräumige Doppelhaushälfte, hinter der sich ein langer, gepflegter Garten erstreckte. Ich erinnere mich, dass es drinnen dunkel war, die Wände hatten die Farbe von Packpapier, die Teppiche waren von dunklem Kastanienbraun und Marineblau. Nachdem seine Haushälterin das Abendessen abgeräumt hatte, gingen wir in das Bibliothekszimmer. Donald rauchte eine Pfeife. Ich untersuchte seine neue Ross-Panross-Stativkamera mit ihrem praktischen Linsenverschluss. Donald schien in Gedanken verloren, mit einem Anflug von Melancholie.