Caroline Jessen

Der Sammler Karl Wolfskehl

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Überlebsel. Karl Wolfskehls Sammlungen und ihre Zerstreuung

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»Jedes Essen schmeckte ihm, er entdeckte Besonderheiten an jeder Küche, wenn auch sein Geschmack da ebenfalls dem Abgelegenen, Ungewöhnlichen besonders zugeneigt war: zweifelhafte Mayonnaisen, verdächtig aussehende Salate, merkwürdig gefärbte Fische verzehrte er mit Genuß und im Besitz einer eisernen Konstitution.«1

Auch jenseits des Kulinarischen verbanden sich bei dem Dichter und Sammler Karl Wolfskehl (1869-1948) Exzentrik, forschende Neugier und Liebe zum Absonderlichen.2

Seine Bibliothek umfasste neben den großen Abteilungen zu Romantik, Klassik und Gegenwartsliteratur, Kulturgeschichte und Geschichtswissenschaft et cetera eine große Sammlung religiöser Lieder, die vom 16. ins 20. Jahrhundert führte, Jahrmarktsdrucke, Predigten, Grabreden, Bücher zu Magie und Aberglauben, zu alten Maschinen und Freimaurerei, aber auch hebräisch-deutsche Gebetbücher, Sammlungen jüdischer Sagen und Volkslieder neben pseudojiddischen Antisemitica, arabischen Handschriften sowie nicht zuletzt Rezeptsammlungen für Arzneien und Gerichte in deutscher, italienischer und französischer Sprache. Die Ränder dieser Bibliothek fransten aus, sie war zugleich Archiv eines umtriebigen Lebens. Wolfskehl – als Spross einer Verbindung der bedeutenden jüdischen Bankiersfamilien Kaulla und Wolfskehl wohlhabend, bis ihm die Hyperinflation der 1920er Jahre die Grundlage seiner Lebensführung entzog – sammelte nicht nur in vielen Bänden Briefe, Karten und getrocknete Blätter, sondern auch gebundene und ungebundene Handschriften, sowohl Manuskripte befreundeter Autorinnen und Autoren als auch alte Lied- und Rezeptblätter, süddeutsche Haushalts- und Rechnungsbücher.

All dies ist heute zerstreut. Einzelnes lässt sich noch in den großen öffentlichen Forschungsbibliotheken wiederfinden, aber der Bestand wird nur von einem 1937 angefertigten Verzeichnis dokumentiert. Es zeigt eine ebenso wertvolle wie kuriose Büchersammlung, die Wolfskehl als Kunde der großen und kleinen Antiquariate von Berlin über Darmstadt bis Rom und in Streifzügen auf Jahrmärkten wie der Münchner »Dult« zusammengetragen hatte.

In Porträts des Dichters bildet sie die suggestive Hintergrunddekoration für Skizzen eines Salonlöwen, Privatgelehrten und Kultdieners,3 wird aber kaum je genauer befragt. Das Bild des Sammlers prägten die Antiquariatsszene und, mehr noch, die Geschichtsschreibung zum George-Kreis. Letzterer wurde das Sammeln von Büchern nicht selten auch zur Metapher der Persönlichkeit. Denn Wolfskehl bereitete dem Werk Georges deutend, mitarbeitend und einreihend in eine weit angelegte Überlieferung den Weg. »Wolfskehl war«, so der Philosoph Michael Landmann, »ein Spürer, vertraut mit Sprache und Mythen. […] Er schlug den Bogen vom Wessobrunner Gebet zu Kandinsky und behielt ein waches Sensorium für den künstlerischen Stil der eigenen Zeit.«4 Auf der anderen Seite warf der Religionsphilosoph Ernst Simon Wolfskehl Synkretismus und falsches Pathos vor, ein »erborgtes Verhältnis zur Transzendenz«. – »Ist der Barock des Barocks, ein Barock im Quadrat, noch authentisch?«5

Der Dichter, dessen Schwabinger Nähe zu Alfred Schuler und Ludwig Klages, insbesondere aber zu Stefan George und seinem Kreis bekannt ist, war befreundet mit den Münchner Antiquaren Curt von Faber du Faur, Julius Halle, Emil Hirsch und Ludwig Rosenthal, mit Numismatikern, Volkskundlern, Religionswissenschaftlern und Philologen. All diese Bekanntschaften und Freundeskreise spiegeln sich in entsprechenden Sonderdrucken und Widmungsbänden der Bibliothek, die so zu einem perspektivischen Kabinett für Wolfskehls intellektuelle Biografie wird und zugleich als Resonanzraum viele seiner Gedichte erhellt. Im Folgenden wird es nicht um ein umfassendes biografisches Schema gehen – dies haben in den letzten Jahren wichtige Publikationen geleistet, ohne die das vorliegende Buch undenkbar wäre6 –, sondern um die Sammlung als Wolfskehls Konkretisierung eines Nachdenkens über Überlieferung im Spannungsfeld von Kennerschaft, Forschung und poetischem Sinn,7 ausgehend von einem Begriff, den Karl Wolfskehl selbst in diesem Zusammenhang verwendete und der als Kreuzungspunkt von Semantiken der Dauer und der Zäsur aufschlussreich ist: »Überlebsel«.

Wolfskehl realisierte neben den drei mit George herausgegebenen Bänden der Deutschen Dichtung8 (1900-1902) mehrere anthologische Projekte, er schrieb nicht nur für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung und der Münchner Neuesten Nachrichten sowie für diverse Bibliophilen-Organe, sondern besorgte als literarischer Leiter der Rupprecht-Presse unter anderem auch Auswahlausgaben der Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff, Novalis und Conrad Ferdinand Meyer.9 Der Dichter beschäftigte sich zudem explizit mit Fragen der Überlieferung, sowohl bei seinen Editionen und Übersetzungen als auch im Hinblick auf die Bewahrung von Kulturgut und nicht zuletzt in der Sorge um den eigenen Besitz.10 Schon 1909 hatte er einen (später verworfenen) Plan, seine Bücher der Königlichen Hofbibliothek Darmstadt zu vererben, testamentarisch fixiert. Doch verfasste er auch die Vorworte zu Katalogen für die aufsehenerregenden Versteigerungen der Büchersammlungen von Oscar Piloty, Carl Christian Redlich und Victor Manheimer. Wolfskehls Überlegungen und seine skrupulöse Aufmerksamkeit in diesen Dingen sind ein Schlüssel dafür, die Signifikanz der Zerstreuung seiner Bibliothek zu verstehen und zugleich seinen Texten wieder näherzukommen. Die Geschichte der Bibliothek, die Editionen und Werke des Dichters bilden einen Zusammenhang, der jeden Versuch, das eine ohne das andere zu betrachten oder gar das Poetische als eingefriedeten Bereich gegen das Profane der Material- und Eigentumsfragen auszuspielen, scheitern lässt.

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Bibliophilie 1932

Der exzentrische Büchersammler hat selbst in den 20er Jahren über die Bibliophilie zahlreiche Essays geschrieben. Sie entstanden in einer Zeit, in der sich die finanzielle Existenzkrise des Wahlmünchners mit einer Verunsicherung der für ihn konstitutiven Beziehung zu Stefan George vermengte. Diese Texte waren, eigentlich vom statischen Ethos Georges abweichend, »für den Augenblick bestimmte[ ] Schreibarbeit«.1 Sie sind schwierig zu fassen, ihr Plauderton vermengt Banales und Wichtiges. Man könnte einigen von ihnen allerdings unterstellen, sie erprobten, wie sich ein nicht gering von George beeinflusstes Denken über Überlieferungszusammenhänge exoterisch esoterisch – also verborgen durch die krasse Zurschaustellung – fassen ließe. Der interessanteste dieser Essays, »Beruf und Berufung der Bibliophilie in unserer Zeit«, erschien im Sommer 1932 als einer der letzten Texte Wolfskehls zum Thema.2 Zu diesem Zeitpunkt hielt sich sein Verfasser seit Monaten kaum noch in Deutschland auf: Basel, Meilen (Kanton Zürich), Florenz, Rom, Paris waren zu temporären Zufluchtsstätten angesichts einer als akut und doch diffus empfundenen Bedrohung in Deutschland geworden.3 Gleich zu Beginn relativiert dieser Beitrag das Schwärmerische, Erotisch-Kulinarische der früheren Statements Wolfskehls zur Bücherliebe: »Die Zeit des Sammelns aus Überfluss, Musse oder Prunksucht ist vorbei.«4 Dies zielte kaum auf die sozialen Erschütterungen durch die Wirtschaftskrise und galt mitnichten nur der Entzauberung der Welt durch den technischen Fortschritt.

Bereits 1931 hatte Wolfskehl in einem Brief an den holländischen Dichter und Freund Albert Verwey »Maßregeln jeder Art gegen die Juden, neben dem vermutlich sehr stark einsetzenden faktischen Terror noch Berufs- und Bewegungsbeschränkungen schärfsten Charakters«5 in Deutschland vorausgesagt und dies mit der Frage verbunden, ob Holland ihn als Juden und seine Familie aufnehmen werde. Wolfskehls späte Texte über das Sammeln sind auch vor dem Horizont der sich ankündigenden politischen Radikalisierung zu lesen. Bücherliebe wird zur Überlieferungssicherung. Es gehe darum, ein »Zerreissen der Zusammenhänge« zu verhindern.6 Wolfskehl sah diese Gefährdung durch den Nationalsozialismus sehr früh, fürchtete aber auch den Revolutionsgestus der kommunistischen Weltentwürfe. Er hatte sich in seiner Diagnose der »tiefen, angstvollen, immer gespenstischer werdenden Verworrenheit« Münchens, wo sich die Nazi-Parteizentrale 1930 gleich neben den ehrwürdigen Antiquariaten am Karolinenplatz repräsentativ zeigte, gescheut, »allzu deutlich zu werden«,7 und auch 1932 evozierte er das Gedankenspiel einer »›Säuberung‹ oder ›Auskämmung‹ unserer öffentlichen Büchereien im Sinne parteipolitischer Tagesnormen« nur ex negativo: Dazu werde es sicher nicht kommen.8 Und doch ist die Angst Wolfskehls, der diesen Essay 1943 auf das Jahr 1933 datieren wird, sehr deutlich.9 Er setzte gegen die Zerstörungs- und Zerstreuungsbilder ein »geheimbündlerische[s] Sammlertum«, ein Bemühen um das Abseitige, Partikulare, in den öffentlichen Bibliotheken Fehlende: »Aus dem grossen Wissen der Vergangenheit wie aus Bräuchen und Mären tönt das Gebot zu uns, Leben zu erhalten, bei uns zu hegen auch was nur noch in Wirkungen oder aus der Ferne dunkel oder stammelnd raunt.« Das Verzeichnis seiner Bibliothek und einige aufgefundene Bände aus Jerusalem deuten an, wie sehr Wolfskehls eigenes Sammeln dieser Forderung zu entsprechen versuchte. In diesen Kontext stellt der Autor den Begriff des Überlebsels, fordert »das echte Liebhaben dessen, was war«.10

Wolfskehl bewegte sich mit seinem Interesse an Altertumswissenschaften, Anthropologie, Mythologie und Volkskunde in einem Umfeld, in dem sich der Begriff Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hatte für scheinbar sinnlose »Handlungen, Sitten und Gebräuche«, aber auch kuriose Artefakte, »die aus einem erloschenen Kultus oder aus einer frühern Kulturepoche herstammen«.11 Edward Burnett Tylors Buch über die Anfänge der Cultur – Primitive Culture12 – und seine Ausführungen über die geisterhafte Gegenwart der Vergangenheit in Gesten, Bräuchen und Formen13 waren Ende des 19. Jahrhunderts zur suggestiven Theorie menschlicher Entwicklung in Philosophie und Sprachwissenschaft, Volkskunde und Anthropologie geworden. Tylors Denkfiguren hatten nicht zuletzt Lazarus Geiger, Friedrich Nietzsche und Heymann Steinthal erreicht, mit deren Arbeiten Wolfskehl genau vertraut war. Wolfskehls Interesse an der Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart bildet einen Berührungspunkt zu Tylors Arbeiten. Dahinter stand ein allem Darwinistischen entgegengesetzter Zugriff auf Geschichte, der nur an der Oberfläche ähnlich operierte. Die zerstreuten Überlebsel waren für Wolfskehl, dem von Tyler in die Welt gesetzten Bild der survivals folgend, das aus seinem originären Zusammenhang Herausgerissene und in seiner Bedeutung Verschobene, sie waren hinübergerettete und verstümmelte, ja auch dysfunktional, unlogisch und unverständlich gewordene Teilchen Information. Misfits.14 Die Frage, wie und warum sich Restbestände und Spuren im Zustand des Nicht-mehr und Noch-nicht erhalten hatten »inmitten einer neuern Cultur, welche sie entschieden niemals hervorgebracht haben würde«,15 entsprang keinem biologischen Erkenntnisinteresse am survival of the fittest als Entwicklung des Neuen. In ihr zeigte sich stattdessen eine antiquarische, archäologische und ethnologische Aufmerksamkeit für das Einzelne, Verstreute und seine Herkunft. »Sammlungen solcher Thatsachen« seien »Fundgruben für historische Kenntnisse«16, hatte Tylor formuliert und Wolfskehl hätte es mit seinem Gespür dafür, »auf wie viele Fragen öffentliche Bibliotheken die Antwort schuldig bleiben«, ähnlich ausdrücken können.17 Als weder systematisch noch erschöpfend zu durchschreitender und darum immer auch überfordernder Materialfundus erschließt sich schließlich seine eigene Bibliothek, wenn er an Ritterromanen, englischen Übersetzungen der Werke Jakob Böhmes (»Deutscher und fremder Sprachgeist«) und den Spuren von Vorbesitzern in zerlesenen Hölty-Bändchen vorführt,18 wie sein ganz im individuellen Fund und seiner aufblitzenden Geschichte aufgehendes, der »Zettelkasterei«19 abholdes Sammeln funktionierte. Sein assoziatives Vorgehen richtete sich mehr poetisch als forschend auf die Energien des Gesammelten, jedes zerlesene Exemplar ein aus seinem Zusammenhang gebrochenes »Stück durchpulstes Dasein«20. Das Wort »Überlebsel« setzt solche Bilder unter die Vorzeichen von Kontinuität und Zäsur, ruft im Relikt seinen früheren Bedeutungszusammenhang und im Lebenden das, was nicht überlebte, ruft das Tote auf.

Entscheidender als die wissenschaftliche Fundierung des Begriffs ist für den sprachverliebten Dichter seine enorme metaphorische Energie. Gedichte, Essays und Briefe dokumentieren, wie sehr sich Wolfskehl für fremde Semantiken durch Wortschöpfungen, Anachronismen und Bilder – »Madensack«, »Ultimops«, »Wartesarg« … – begeisterte. »Überlebsel« signalisiert in Wolfskehls Essay eine animistische Anverwandlung der Welt der Artefakte: »Was war, west weiter, so es aber nicht mehr gesehen wird und gehegt, […] zersetzt es sich, wird Gespenst, würgender, vampyrischer Nachtmahr. ›Ehret und opfert‹ mahnt der ›Chor der Toten‹ bei dem grossen Schweizer Dichter.«21 Dies rief das abschließende Gedicht des 3. Bandes der Deutschen Dichtung auf:

Wir Toten, wir Toten sind grössere Heere

Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!

[…]

Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,

Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,

Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte

Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,

Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele –

Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!22

Der Bezug auf Conrad Ferdinand Meyer markiert eine große Distanz zu den vermeintlich objektiv verfahrenden Klassifizierungs- und Speicherverfahren der bildungsbürgerlichen Bibliotheken und öffentlichen Einrichtungen, die Wolfskehl im Essay mit George-Zitat – »Die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall« – abkanzelte.23 Doch die Sorge um das Partikulare und Wunderliche, vorerst Nichteinzuordnende und Unverständliche war bei ihm anders als bei dem von ihm verehrten Dichter motiviert.

»George setzte Grenzen, Wolfskehl blieb ein Schweifender«,24 so ließe sich mit Michael Landmann sagen, obgleich ähnliche charakterologische Zuschreibungen Wolfskehls allzu oft ins Antisemitische abgeglitten sind. Zwar sammelte der Autor gezielt Lieder- und Gebetbüchlein sowie die Schriften der Autoren, in deren Tradition er als Sammler zumindest mit einem Bein stand: Die Bekanntesten sind wohl Achim von Arnim und Clemens von Brentano, Jacob und Wilhelm Grimm. Doch anders als ihnen ging es dem promovierten Germanisten kaum um eine systematische Ordnung und akademisch kalibrierte Erforschung des Gesammelten. Ihm genügte der Hinweis auf die beobachteten und erahnten Zusammenhänge »in der kindlichen Freude«, sich »dadurch die Entdeckerpriorität zu sichern«.25 So wie der Begriff des Überlebsels einen metaphorischen Überschuss der Evolutionstheorien andeutet, so markiert er auch das Ineinanderfließen von poetischen und wissenschaftlichen Impulsen Wolfskehls. Deutlich wird dies beispielsweise in Wolfskehls Interesse an Jakob Böhme und Quirinus Kuhlmann, seiner Liebe zu alten Lieddrucken oder auch in seinem Verhältnis zu Walter Benjamin.

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Die poetische Liste

Dieses Zusammengehen zeigte sich bereits, noch bevor Wolfskehl es ausformulierte, in dem 1927 für das Auktionshaus Karl & Faber erarbeiteten Katalog der in ihrer Dichte von Rara spektakulären Barocksammlung Victor Manheimers. Wolfskehl schrieb ein Vorwort und kommentierte mehr als 480 zur Auktion stehende Bücher. Diese so profane Auftragsarbeit dokumentiert ein philologisches und kulturgeschichtliches Wissen, das kein anderer Text Wolfskehls leistet. Mit seiner Katalogisierungsarbeit trug der Autor zur antiquarischen und literaturwissenschaftlichen Erschließung sogenannter »Barockliteratur« bei.1 Zum einen wusste er die skizzierten Autoren lebhaft der Gegenwart nahezubringen, beispielsweise wenn er Johann Balthasar Schupp (1610-1661) ein »unbekümmertes Drauflosgehen und spracherfinderische Wortwahl«, ein »offene[s] Auge für Welt und Wirklichkeit« und eine »bis zur Freude am Krakehlen ausartende[ ] Streitbarkeit« bescheinigte.2 Zum anderen war er literarhistorisch und literaturpolitisch tätig, stellte Ahnen- und Verwandtschaftsreihen auf und ließ Opitz mit dem Hinweis auf »den Dichter und Lenker unserer Tage« und das beiden eigene »Genie des Tätertums«3 als den George der frühen Neuzeit lebendig werden. Dies war auch Propaganda in eigener Sache.

Die Stärke des Katalogs ist zugleich seine Schwäche, er speist sich aus curiosen Einzelbeobachtungen, einer Fülle von partikularem Wissen, das durch die Grenzen der zum Verkauf gebotenen Sammlung und das einzuhaltende Format des Verzeichnisses eingefangen und alphabetisch geordnet wurde. Der Katalog öffnete Möglichkeiten, die Wolfskehl im Aufsatz verwehrt blieben, der als Form weit mehr Geschlossenheit verlangte. Der Auftraggeber Curt von Faber du Faur fand den richtigen Rahmen für ein nicht rein akademisches Wissen, das seine eigene Expertise ergänzte. Als der 1939 in die USA emigrierte Sammler 1958 den Katalog German Baroque Literature veröffentlichte, der anhand seiner eigenen, in die Beinecke Library geretteten Sammlung das Spektrum der Barockliteratur vorstellte, widmete er diesen Katalog Karl Wolfskehl. Dessen Beschreibungen waren über Faber du Faurs Zettelkatalog, wo sie als Cut & Paste – als kaum kenntliche, aber nach der Verschiebung neu wirksame Rudimente des Katalogzusammenhangs – erhalten waren, in Fabers Überschau eingewandert. Doch könnte nur eine Detailstudie hier die Art und Weise der Zusammenarbeit auffächern, die in München ihren Anfang nahm und sich dann in Gesprächen in Florenz und Briefen zwischen New Haven und Auckland fortsetzte. Faber du Faur verzichtete in der Bibliographie seiner Barockdarstellung darauf, den Manheimer-Katalog anzuführen und Wolfskehls Lebensgefährtin im Exil Margot Ruben (1908-1980), die für den Nachlass des Dichters Sorge trug, gelang es nicht, Wolfskehls Anteile an ihm in die Gesammelten Werke aufzunehmen. Sie selbst bezweifelte in einem Brief an Faber du Faur, dass »das, was dann dasteht, sich zu einem Ganzen rundet, sozusagen ein gedrängter Beitrag zur Geschichte der Barockliteratur wird«.4 Obgleich der Katalog bis heute von Händlern zitiert wird, blieb die in ihm gebündelte Forschung und Kennerschaft eine Irritation und jenseits dessen, was als Werk überliefert wurde. Das Verzeichnis entspricht aber Wolfskehls Idee einer bibliophilen Überlieferungssicherung; es hielt die auf den Markt gebrachten Überlebsel als einen so kaum wieder zusammenkommenden Sinnzusammenhang fest, für dessen Erfassung die wissenschaftlichen Klassifizierungsschemata, vor allem der von Wolfskehl vielgescholtene »Goedeke«, das Standardwerk bibliographisch-literaturwissenschaftlicher Klassifikation, 1927 nicht sensibilisiert waren.5

Als Wolfskehl sechs Jahre später, 1933, aus Deutschland zunächst in die Schweiz und dann nach Italien floh, blieb seine eigene Bibliothek auf dem Gut seiner Frau bei Freiburg zurück. In sie waren auch Bände aus der Manheimer-Bibliothek eingegangen. Erst 1936 zwang die prekäre Situation als noch nicht legal aus Nazideutschland ausgewanderter deutscher Jude im faschistischen Italien Wolfskehl, das enorme Wissens- und Warenkapital, das seine Bibliothek darstellte, in Geldkapital umzuwandeln. Der Verkauf sollte seinen Lebensunterhalt sichern und die erheblichen Zwangsabgaben abdecken, die im Zuge der Emigration zu zahlen waren.6

Dass der Unternehmer und Verleger Salman Schocken in dieser Situation offerierte, Wolfskehl seine Bibliothek abzukaufen (dessen Wunsch entsprechend ohne die Publikationen der Mitarbeiter der Blätter für die Kunst und ohne die Werke Johann Jakob Bachofens und Lazarus Geigers), begründete sich einerseits durch seinen Wunsch, den Autor Wolfskehl zu unterstützen und eine große jüdische Bibliothek aus Deutschland zu erhalten, andererseits durch die Möglichkeit, seine eigene Sammlung zu erweitern. Lambert Schneider, der Schocken in allen Bücherkaufangelegenheiten beriet, erklärte im Vorfeld des Erwerbs, Wolfskehl habe seine Schätze stets mit »kindlicher Sorge« gehütet, »und da er finanziell vor der Inflation sehr unabhaengig war […], duerfte [es] wohl eine wertvolle Sammlung sein. Bei der Eigenwilligkeit seines Charakters nehme ich an, dass mancherlei Kuriositaeten gesammelt wurden«.7 Schocken verpflichtete sich 1937, 20 000 Reichsmark und eine lebenslange Leibrente für Wolfskehl zu zahlen. Der Kaufpreis basierte nicht auf einer detaillierten Sichtung des Bestands, sondern Gesprächen zwischen dem Verleger und seinem Autor.

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Zerstörte Zusammenhänge

Zum Zeitpunkt des Verkaufs existierte weder eine Liste noch ein Zettelkatalog von Wolfskehls Hand für seine knapp 9000 Titel umfassende Sammlung. Im Juli 1937 wurde die Bibliothek daher von ihrem Standort Kiechlinsbergen – dem Landgut in der Nähe Freiburgs, das die Wolfskehls 1915 gefunden und 1919 für sich erworben hatten – nach Berlin verbracht, um sie dort für Schocken durch den Arbeitskreis der Hebräischen Universität verzeichnen zu lassen. Eine Mitarbeiterin notierte, »in Anbetracht des schlechten Zustands der Bibliothek« müsse ein Fachmann hinzugezogen werden. Auch Schockens wissenschaftliche Bibliothekarin bekundete ihr Entsetzen. »So etwas Verkommenes von Buechern hat sie noch nicht gesehen« vermerkte eine Notiz für den Unternehmer.1

Ein Antiquar ordnete die Bücher systematisch. Dies nahm Monate (Juli – November 1937) in Anspruch. In den so entstandenen Listen sind nicht selten Informationen zu Einlagen und handschriftlichen Einträgen vermerkt, die heute wichtige Hinweise für die Rekonstruktion der Bibliothek und die Beschäftigung mit Wolfskehls Werk liefern. Gleichwohl hat das Verzeichnis die Bibliothek in eine Systematik gezwungen, die ihr nicht entsprach, und viele Zusammenhänge zerstört. Für Wolfskehl waren »die wesentlichsten Kategorien und Stücke«, wie er in einem Brief an Schocken 1937 erklärte, »etwa die Abteilung Codices, die Abteilung: Bücher mit Dedikationen und Randbemerkungen, die Abteilung: bibliographisch Unbeschriebenes, die Abteilung: Volkslied, die Abteilung: Mystik, die Abteilung: Romantik u. ä.«.2 Im Inventar sind diese »Abteilungen« nicht mehr sichtbar. Für Wolfskehl wichtige Stücke gingen in die Zyklopenkategorie »Deutsche Literatur« ein, darunter etwa Walter Benjamins Einbahnstraße, aber auch ältere Bücher wie etwa Gedichte von Karl Mayer mit etlichen Notizen und Anmerkungen von Mörike.

In dieser Situation erwies sich, was Wolfskehl einmal an unscheinbaren Textzeugnissen populärer Formenbestände aus der Zeit des Barock beobachtet hatte: Ein »Mangel an Übersicht« ließ das Überlieferte als wertlose »Einzelerscheinungen, erratische Zufälle« wirken; indem man es nicht einzuordnen vermochte, verfehlte man seine »geschichtliche Würdigung«.3 Welche Bedeutung hier dem Fehlen eines kommentierten Zettelkatalogs der Bibliothek aus Wolfskehls Feder zukommt, zeigt sich deutlich an einem Exemplar der wohl ältesten Ausgabe von Hermann Bothes Ulenspiegel aus dem frühen 16. Jahrhundert, das Wolfskehl in einem Essay über »Bücherfreuden« 1928 am Rande als völlig unbekannten Druck und Einzelstück mit »höchst interessante[r] Vergangenheit« beschrieben hatte. Als »wackeren und lobeswürdigen Buchgreis« habe er es »besonders ins Herz geschlossen«. Wolfskehl hatte im gleichen Essay auch von einer Entdeckung an dem ohne Titelblatt überlieferten, mit Blättern späterer Ausgaben ausgebesserten und annotierten Band gesprochen und zugleich erklärt, über sie »heute noch nichts sage[n]« zu wollen.4 Er liebte Hinweise auf Wissen, das zwischen Eingeweihten und Unwissenden trennte, selbst wenn das so erzeugte Geheimnis leer war.5

Eine falsche Datierung ließ dieses Exemplar in Jerusalem dann ein unerkanntes Curiosum bleiben, bis das Buch 1975 durch den Verkauf der Bibliothek Schockens in den deutschen Handel kam. Weit unter Wert wurde es von einem Germanisten bei Hauswedell & Nolte erworben, die den Band ebenfalls falsch beschrieben und günstig eingepreist hatten. Ein ausführlicher Aufsatz des prätentiösen Käufers über seinen Fund vermerkt Wolfskehls Entdeckungen im Aufsatz »Bücherfreuden« nicht.6 Zwar ist das Eulenspiegel-Überlebsel 1975 zum Forschungsgegenstand geworden, doch blieb die Wolfskehl-Bibliothek als wissenschaftlich-poetischer Sinnzusammenhang von früher Neuzeit und Moderne unerkannt. Wolfskehl hatte immerhin zahlreiche Eulenspiegel-Drucke besessen, zu denen seine Übertragung von de Costers Geschichte von Ulenspiegel und Lamme Goedzak (2 Bde., München 1926) in einem bedeutsamen Verhältnis steht. Dass sich nach dem Verkauf zunächst der Eindruck einer ›verkommenen‹ Bibliothek festsetzte, verhinderte nicht nur eine von Schocken zunächst angedachte Erhöhung der Leibrente, sondern traf Wolfskehl tief. Die Sammlung, die der Dichter als »eine Art autobiographischen Denkmals«7 und »Refugium«8 einer von Zerstörung bedrohten (deutschen und jüdischen) Geschichte zu erhalten gesucht hatte, drohte als Bedeutungszusammenhang zum so nicht mehr produktiven Relikt zu werden.

Die Verkennung des Bestands war vielleicht eine Konsequenz der Wolfskehl’schen Abneigung gegen das »tote […] Stapeln, Aufspeichern und Ordnen«,9 eine Folge also der Aufladung des Buchs als nur im Verborgenen zu bewahrendes Überlebsel. Aber sie war vor allem der Zeit und den Umständen des Verkaufs geschuldet. Denn wie sehr Wolfskehl um die Notwendigkeit eines Verzeichnisses wusste, zeigt sein Bemühen, nach dem Verkauf nachträglich noch einen Katalog zu den wertvollsten Stücken zu verfassen. Doch »[m]angels jeglicher bibliographischer Hilfsmittel« habe er »Zweifel bestehen lassen, manchmal schweigen müssen«, wo er »gern mehr oder überhaupt etwas gesagt hätte«, heißt es in einem Brief aus dem Frühjahr 1938 zu den ersten Versuchen, die bald abbrachen. Wolfskehls Ziel war, in seinen Worten, ein »Catalogue raisonné« gewesen,10 in etwa wie der kluge Katalog zur Barocksammlung von Victor Manheimer 1927. Doch dies war fernab der Bücher ein völlig illusorisches Unterfangen. Selbst für einen Bibliophilen mit Elefantengedächtnis.

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Nachtgespenster

Die Bibliothek wurde zum Nachtgespenst, trotz des Wissens um ihre physische Sicherung in Jerusalem: nicht tot und nicht lebendig für Wolfskehl, der in Briefen aus Neuseeland ihr Fehlen beklagte und zugleich ihrem Erhalt durch Schocken große Wichtigkeit zusprach. Was bedeutete es aber, wenn Wolfskehl dem Antiquar und Freund Emil Hirsch in New York erklärte, dass seine »frühere Bibliothek […] en bloc nach Jerusalem heimfand«? Das Nibelungenlied, Quirinus Kuhlmann, Oswald Spengler, Goethe, Arnim und Brentano zuhause in Jerusalem? Mag sein, dass gemeint war: die Bücher eines aus Europa ans Ende der Welt vertriebenen Juden in Jerusalem. Aber an die Überlieferungs- und Sinnzusammenhänge, die sich im Inventar aus dem Jahr 1937 ohnehin nur noch kryptisch zeigten, ließ sich in Jerusalem nach dem Holocaust nicht mehr anknüpfen. Die Schocken-Library konzentrierte sich, entsprechend ihrer Sammlungsschwerpunkte, auf den Ausbau und Erhalt ihrer forschungsrelevanten Sammlung von Hebraica und Judaica.1 Die Bibliothek Wolfskehls wurde nach dessen Tod, vielleicht auch viel eher, zum Erinnerungsort.

Ehrwürdiger und zerzauster »Dieu en Exile«!2 »Unvergeßlich«, so erinnerte sich der ebenfalls nach Neuseeland geflüchtete Wiener Paul Hoffmann (1917-1999), der dem fast blinden Wolfskehl in Auckland oft vorlas, »wie er in den späten Jahren des Exils, nur noch die karge Liste seiner Bücher zur Hand, nach Stichworten im Gespräch Band für Band mit seinen Besonderheiten und Sonderlichkeiten, aus der lebendigen Erinnerung die verlorene Bibliothek rekonstruiert hat.«3 Ein ›Ehret und Opfert‹,4 das sich – als Evokation eines Sinnzusammenhangs – vielleicht noch deutlicher in dem dichten, schon fast unentzifferbaren Traditionsgewebe ausdrückt, das die späten Gedichte schaffen, und zugleich eine erinnernd-reanimierende Beschwörung, die all die einmal angekündigten Forschungsarbeiten – zu Lazarus Geiger, Johann Jakob Bachofen, zur katholischen Barockdichtung, zum Jiddischen und zur historischen Einordnung des »Althochdeutschen Schlummerlieds« in eine deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte – ersetzen musste.

Die Dankbarkeit gegenüber Schocken war allerdings dem Bewusstsein eines Verlusts zum Trotz groß – gerade angesichts der Zerstörung in Deutschland. Waren für Wolfskehl 1932 die Privatbibliotheken die eigentlichen Speicher der Überlieferung gewesen, so hatte er in den Jahren danach auch ihren Untergang in Deutschland erlebt. Die großen amerikanischen Universitätsbibliotheken, die Emigrantensammlungen aufgenommen hatten, wurden für ihn zu den »heute wohl noch einzigen Refugien der Überlieferung«.5 Die deutsche Situation 1945 hingegen bestürzte ihn: »Ach, die deutschen Bibliotheken! […] Eine halbe Million Bände in München verbrannt, die Gießner, die Darmstädter, die Karlsruher völlig vernichtet, an Berlin, die mittel- und norddeutschen wagt man gar nicht zu denken. Zimelien meist erhalten, weil sorglich beiseite geschafft, aber das beruhigt doch nur Geschmäckler. Die Quellen sind eben doch verschüttet. Das Kontinuum, innerlich schon lange brüchig, auch nun von außen sinnfällig durchschnitten.«6

Wolfskehl erlebte nicht mehr, dass der deutsche Antiquariatshandel dank seiner früh wiederaufgenommenen Geschäftsbeziehungen in die USA, die Niederlande und nach Israel dazu beitragen würde, die sichtbaren Risse im Überlieferungszusammenhang sorgfältig zu kitten. Seine eigene nach Jerusalem gerettete Bibliothek spielte in diesem Zusammenhang eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Im November 1975 und im Frühjahr 1976 wurden in drei großen Auktionen bei Hauswedell & Nolte Bücher aus der Sammlung Salman Schockens und – darin enthalten – Karl Wolfskehls versteigert. Die deutsche Presse kommentierte, »durch den Auktionshammer« werde »eine der letzten großen Privatbibliotheken in alle Winde zerstreut«. Kaum ein Beobachter ging nicht auf die Wolfskehl-Anteile ein – das Wissen um den Sammler war noch präsent, zumal unter den Händlern, die bereits vor 1933 tätig gewesen waren. Der Verkauf wurde ein »spektakuläres Ereignis«.7 Die Artikel, die sich den beiden Auktionen widmen, reflektieren den historischen Kontext des Verkaufs und der Rettung der Bücher 1937/​1938 nicht: Schocken war nach Palästina übergesiedelt, Wolfskehl war nach Neuseeland ausgewandert – kein Wort über die Umstände, geschweige über die nationalsozialistische Politik, die dies erzwungen hatte. Bände aus Wolfskehls Bibliothek gelangten unter anderem in die British Library, die Hamburger Kunsthalle, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, an das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt, nach Amsterdam, Marbach, New Haven – und auch in die Bayerische Staatsbibliothek und die Hessische Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, deren Zerstörung Wolfskehl 1945 als hochsymbolischer Akt und als Bewahrheitung seiner Vorahnungen so entsetzt hatte.

Deutsche Bibliotheken füllten ihre historisch bedingten Lücken. Dies war einerseits klug und produktiv, denn die gedruckten Revenants der Kultur- und Literaturgeschichte gingen in neue Zusammenhänge ein, wurden neu befragt und neu aktiviert: so zum Beispiel im Deutschen Literaturarchiv Marbach, das die von Wolfskehl erworbenen und dann in Hamburg versteigerten Überlebsel aus Eduard Mörikes Bibliothek in eine Beziehung zu dessen Nachlass und zum engmaschigen Autorennetz des Cotta-Verlags rückte. In gewisser Hinsicht entsprach dies Wolfskehls eigenem produktiven Umgang mit seiner Bibliothek und dem in ihr gespeicherten Wissen: »Einsammeln und Ausstreuen war seine Tätigkeit gewesen […]«,8 hatte Faber du Faur, der davon profitiert hatte, sehr treffend formuliert. Und Wolfskehl selbst hatte im Manheimer-Katalog ohne Erhaltungsfetischismus und im Wissen um das fast religiöse Moment jeder Zerstreuung erklärt: »Es war schön, dies alles zu vereinigen, es ist auch schön, es wieder allen Winden zu übergeben.«9 Die Katastrophe der Zerstörung als Voraussetzung für neue Schöpfung, eine alte Idee. Ein Zusammenhang wird aufgehoben, um einen neuen zu ermöglichen. Wolfskehls Bild spiegelt hier das im »Überlebsel« aufscheinende Spannungsverhältnis von Zäsur und Dauer als ein Auflösen und Neu-Zusammenfügen, das durch neue Konstellationen neue Erkenntnisse ermöglicht. Oder mit den Bildern und Metaphern des anderen großen Sammlers Aby Warburg gesprochen: Bücher wechseln ihre Nachbarn im Regal, um neue nachbarschaftliche Verhältnisse zu knüpfen.

Andererseits fehlt bislang bei den meisten der von öffentlichen Sammelstätten erworbenen Bände ein Hinweis darauf, dass das betreffende Buch seine Existenz auch dem Finderglück Wolfskehls und einem temporären Aufenthalt in Jerusalem verdankt. Beides prägt aber die Bedeutung der betreffenden Bände und vor allem die Wahrnehmung eines Traditionszusammenhangs,10 dessen Brüche von den aufgeforsteten, reichen Beständen der deutschen Bibliotheken und Museen jenseits der designierten Exil-Archive kaschiert worden sind, während Wolfskehl sie in Neuseeland in seine Gedichte, Überlebsel Europas auf »Anti-Thule«, einschrieb und weiter sammelte.

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