Bernhard Hennen

Die Chroniken von Azuhr

Der träumende Krieger

FISCHER E-Books

Über Bernhard Hennen

Seit seinem Roman »Die Elfen« erreichen seine Bücher regelmäßig Spitzenplätze auf deutschen und internationalen Bestsellerlisten: Bernhard Hennen, 1966 in Krefeld geboren, ist Germanist, Archäologe und Historiker. Er arbeitete als Journalist für verschiedene Zeitungen und Radiosender und bereiste Zentralamerika, den Orient und Asien.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Deutschlands Fantasy-Autor Nr. 1 schließt seine Erfolgstrilogie ab

 

Die Bewohner der Insel Cilia drohen zwischen dem großmächtigen Khanat und dem Reich von Kaiserin Sasmira zerrieben zu werden. Ein Schatten legt sich über die ganze Welt Azuhr. Vom Nebelwolf der Weißen Königin gehetzt, machen sich Milan, der Erzpriester Nandus Tormeno und die geheimnisvolle Nok auf die Suche nach einem zweiten Roten Kloster, in dem die höchsten Ränge der Erzpriester ausgebildet werden. Gemeinsam stoßen sie auf die Spur eines uralten Komplotts, dessen Ziel es ist, die junge Kaiserin wie auch den mächtigen Khan zu manipulieren. Ein Kampf steht bevor, den der träumende Krieger entscheiden wird – jener Krieger, der für seine Vision von einer besseren Welt alles zu opfern bereit ist.

 

»Ein klassischer Hennen, spannend von der ersten bis zur letzten Seite und inhaltlich auf Elfen-Niveau.« Leserstimme

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Copyright © 2019 by Bernhard Hennen

Deutsche Erstausgabe:

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH,Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

 

Covergestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung mehrerer Abbildungen von brickbeach, Hamburg, Conceptor/istock, Zozodesign/Thinkstock, Abstractor/shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490941-7

Winston Churchill

Der prächtige blaue Seidenschal schillerte im Abendlicht. Wie Rubine funkelten die Blutstropfen, die den abgetrennten Kopf des Herrschers säumten.

»König Varmajaya«, murmelte Nok mit leisem Bedauern. Erst gestern hatte sie ihm ein Tablett mit aufgeschnittenem Obst gereicht. Violette Drachenfrüchte, Mangos und Papayas. Er hatte ihr einige Herzschläge lang tief in die Augen gesehen.

Selbst im Tod war er immer noch ein schöner Mann. Sein ebenmäßiges schmales Gesicht mit der nur leicht gebräunten Haut unterschied ihn deutlich von den meist mondgesichtigen Adeligen und Beratern.

Ihre Mutter hatte ihr erzählt, er sei ein großzügiger und zärtlicher Mann.

Nok hatte sich Hoffnungen gemacht, bald seine Auserwählte zu sein, hatte König Varmajaya sie doch gestern gefragt, wann sie auf der Bühne ihre Stimme erheben würde. Mitten im dramatischen Finale der Uraufführung von Lebe wohl, meine Kaiserin hatte der König ihr einen Blick geschenkt. Dann hatte ihn das Stück wieder in seinen Bann gezogen.

Schritte ließen Nok aufschrecken. Im Schatten des überdachten Gangs, der den Hof einfasste, erschien ihr Onkel, General Sao Sovan. Jetzt waren in der Ferne wieder Waffengeklirr und Geschrei zu hören.

»Was tust du hier?«, fuhr Sao sie an. Mit langen Schritten eilte er über den Hof und griff ihr ins Haar, um ihren Kopf zu

»Was ist geschehen, Onkel?«

Sao blickte auf den Kopf des Königs. »Der eitle Pfau hatte sich ein Nest zu viel bauen wollen …«

»Aber er war immer so nett …«, wagte sie zu sagen.

Sao hatte ein hartes, narbiges Gesicht. Und so gar nichts mit ihrem Vater gemein. Doch während ihr Vater den General nur auf der Bühne spielte, war ihr Onkel ein wirklicher Feldherr. Er hatte dem Tod hundertfach ins Auge gesehen. Und nun blickte der Tod aus seinen Augen.

»Nett zu sein ist keine Eigenschaft, die einen König groß macht, wie du siehst.« Er zog sie mit sich in den Schatten des Gangs. Säulen, die kunstvoll zu Statuen geformt waren, trugen das Dach. Sie zeigten Apsaras, Tänzerinnen, die der Herr des Himmels selbst an den Hof des ersten Königs geschickt hatte, um diesen zu erfreuen und die schönsten seiner Frauen die Kunst des Tanzes zu lehren. Auf einer Lotusblüte stehend, ein Bein angewinkelt, verkörperten sie Anmut und Schönheit …

Sao zog sein Schwert.

Männer der Palastwache stürmten den Hof und hielten an, wo der Kopf des Königs lag. Nok fragte sich, wo sie gewesen waren, als König Varmajaya starb.

»Habt ihr die Gäste aus Sri Naga in Sicherheit gebracht?«, fragte ihr Onkel.

Die Krieger zuckten zusammen, als sie die Stimme aus dem Halbdunkel vernahmen. Dann erkannten sie General Sao Sovan. Ehrerbietig verbeugten sie sich.

»Die Gäste reisen mit starker Eskorte nach Süden«, sagte einer der Krieger.

»Ihr seid jetzt meine Eskorte!«, entschied Sao.

Die Krieger schlugen vor der Brust die geballte rechte Faust in die offene linke Hand und verbeugten sich. »Wie Ihr befehlt, General.«

Sie trugen polierte bronzene Brustpanzer, die wie Gold in der Abendsonne funkelten. Darunter die purpurfarbenen

Nok verachtete sie dafür, dass sie nicht dagewesen waren, als König Varmajaya starb.

»Zum Lotushof!«, befahl Sao Sovan barsch.

Im Gleichschritt setzten sich die Krieger in Bewegung. Laut knallten ihre genagelten Sandalen auf die Steinplatten. Sie marschierten durch den Gelben Turm, in dessen Mauern, viele Schritt hoch, das Gesicht von König Varmajayas Urgroßvater König Ayuttha gemeißelt war.

Gleichgültig folgten ihnen seine steinernen Augen, während sie über eine schön geschwungene rote Holzbrücke den Kanal überquerten, der den königlichen Palast von dem Palast der Schauspieler trennte.

Hunderte Male hatte Nok in diese Augen gesehen. Der Gelbe Turm war der einzige Zugang zum Refugium der Künstler. Ihr Palast lag inmitten eines Labyrinths von Kanälen.

Am Ende der Brücke wartete Kunthea, ihre Mutter. Sie war die schönste Frau im Palast. Onkel Sao hatte sie immer gehasst, und sie hatte diesen Hass erwidert, so sehr sie Saos Bruder Bun auch liebte. Bun und ihr Onkel waren wie Licht und Schatten. Auch Bun war gestern Nacht zum General geworden. Auf der Bühne. Ein tragischer Held.

»Pass besser auf die Kleine auf!« Sao hielt sie noch immer bei den Haaren gepackt. »Ihr habt dem König zu nahe gestanden!«

»Näher als der General, der die Krieger in seinem Palast befehligte?«, fragte Kunthea kühl.

»Hüte deine Zunge, Weib!« Seine Hand krallte sich noch fester in Noks Haar. Dann stieß er sie von sich.

Nok stürzte fast vor die Füße ihrer Mutter.

»Bewacht das Tor im Gelben Turm!«, befahl er seinen Kriegern.

Jetzt erst bemerkte Nok die Blutspritzer an der goldenen Parierstange von Saos Schwert. Sie funkelten wie königliche Rubine im Abendrot.

Sao Sovan hob Varmajayas Haupt auf. Seit mehr als drei Jahren hatte er als General des Königs heimlich den Karang, den lebenden Schatten, zugearbeitet. Er hatte ihnen Nachrichten zukommen lassen, sie vor den Truppen der anderen Generäle gewarnt. Als er Zeuge geworden war, wie Varmajaya mit Abgesandten des Wandernden Hofs verhandelte, um ihnen einen weiteren großen Hafen des Königreichs zu verkaufen, so wie es einst sein Urgroßvater König Ayuttha getan hatte, um von dem Gold noch schönere Paläste zu bauen, hatte Sao seinem Herrscher ein Ende bereitet.

Traurig schritt Sao durch die weiten Hallen des Palastes. Er hatte den Karang nur gestattet, bis in die Vorhöfe zu kommen. Und wie stets in den letzten Jahren hatten sich die lebenden Schatten an ihre Vereinbarungen gehalten. Es hieß, ihr Anführer sei ein Weiser. Sao war ihm nie begegnet – soweit er wusste … Die Karang machten aus allem ein Geheimnis. Am Anfang, als er sie noch bekämpft hatte, war er dabei gewesen, wie gefangene Aufständische gefoltert wurden. Sie hatten fast nichts verraten können, weil sie nichts wussten. Ihre Anführer waren legendenumwobene Gestalten. Ihr General, den sie nur den Schwarzen Panther nannten, wie auch der Erste Schatten, jener geheimnisvolle Weise, der angesichts immer höherer Abgaben den Widerstand gegen König Varmajaya zu einem Heer von Schatten hatte anwachsen lassen.

Sao trat in die Halle der tausend Geister. Bis hoch unter die rot lackierten Deckenbalken waren die Wände hier mit Schreinen geschmückt. Dämonische Fratzen, mal aus bunt bemaltem Holz, mal aus dem Stein der Mauern geschnitten, starrten auf ihn herab. Dazwischen tanzende Apsaras, wunderschöne Frauen, die – glaubte man den Mären – in den Quellen der Flüsse und

Wenn man durch den wogenden Rauch schritt und die Wohlgerüche die Sinne benebelten, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, dass hier wirklich Geister lauerten.

Sao hatte nie verstanden, warum diese unheimliche Halle der einzige Weg in den Inneren Palast war. Sollten Besucher durch die Welt der Geister gehen, bevor sie in den Himmel traten? Die Welt aus Licht, in die der Herr des Himmels die Seelen jener holte, die sein Wohlgefallen fanden, konnte nicht schöner sein als der Palast, den König Ayuttha einst erbaut hatte.

Sao trat durch das große Portal in die Nacht. Dort warteten sie, die Schatten. Sie hatten Fackeln entzündet. Schweigend standen sie in dem weiten Hof. Sie trugen schwarze Tuniken und schwarze Hosen. Die meisten waren barfuß. Nur wenige Füße steckten in schlichten Sandalen. Keiner von ihnen besaß maßgefertigte Stiefel, so wie er. Sie waren mit Bambusspeeren bewaffnet und mit einfachen Bögen. Sie trugen Haumesser für den Dschungel in ihren Gürteln. Sao war überrascht, viele Kinder unter ihnen zu sehen. Die Hälfte, schätzte er, war erst dreizehn Jahre alt oder jünger. Er kannte ihre Geschichten, ohne eines der Gesichter zu kennen.

Es waren Kinder von Kleinbauern, die ihr Land verloren hatten, weil immer mehr Abgaben zu entrichten waren. Korang Hom war eine wunderschöne Stadt. Die größte im Königreich. Fast eine halbe Million Menschen lebten hier. Aber sie hatten sich vom Blut der einfachen Bauern genährt. All die Handwerker und Künstler, die Dichter und Kaufleute, Gelehrten und Tunichtgute. Seit Jahren wehrten sich die Karang, die Schatten, die Angehörigen jener, die verhungert waren oder sich in ihrer Verzweiflung das Leben genommen hatten. Seit Jahren herrschte ein Bürgerkrieg, von dem man hier im Palast der sieben Freuden fast nichts mitbekommen hatte.

Sao hob den Kopf des Königs am Haar hoch. »Der Krieg der Schatten ist beendet!«, rief er mit fester Stimme. »Der König ist tot. Ihr habt gesiegt. Nun könnt ihr in eure Dörfer zurückkehren.«

Schweigend starrten ihn die hageren Gestalten an. Sie zeigten keine Regung, als hätten seine Worte sie gar nicht erreicht. Vielleicht waren sie ja wirklich keine richtigen Menschen mehr, sondern nur noch Schatten?

Ein junger Mann löste sich aus der Menge der schweigenden Krieger. Sein Kopf war kahlgeschoren. Ihm fehlten beide Ohrmuscheln. »Der Panther hat einen Befehl für dich, General.«

Sao blickte den jungen Mann durchdringend an. Er sah aus wie die anderen Schatten, trug einen schmutzigen gelben Schal um den Hals, war barfuß und hielt einen Bambusspeer. Ein Bauernsohn wahrscheinlich. Nie zuvor hatte Sao von so jemandem Befehle empfangen.

»Was will der Panther?«

»Morgen um diese Stunde soll die Stadt geräumt sein. Wer nicht freiwillig seine Bleibe verlässt, den holen wir.«

»Ich verstehe nicht … Wer soll gehen?«

»Alle«, sagte der junge Bauer leichthin.

»Das ist unmöglich. Die Stadt braucht Menschen, der Palast …«

»Wir brauchen Korang Hom nicht. Der Erste Schatten sagt, dass es Städte wie diese gibt, ist der Beginn allen Übels«, erklärte der junge Bauer in einem Tonfall, als habe er ein einfältiges Kind vor sich. »Wir werden Korang Hom aufgeben. Soll sich der Dschungel zurückholen, was nie hätte sein sollen.«

Sao blickte über die Unzahl von schwarz gewandeten Gestalten auf dem Palasthof. Er hatte um ihren Marsch durch den Dschungel gewusst. Hatte gewusst, dass sie hier in der Stadt nur auf wenig Gegenwehr stoßen würden. Seit Anfang des Jahres beherrschten die Schatten mehr als die Hälfte der Provinzen des kleinen

Ein König, der sich mehr dafür interessierte, ein Theaterstück des Ersten Dichters des Khans aufführen zu lassen, als dafür, dass Gerechtigkeit in seinem Königreich herrschte, hatte sein Recht auf den Thron verwirkt. So hatte er geurteilt. Und dann hatte er dieses Urteil vollstreckt. Aber das hatte er nicht kommen sehen. Das war Wahnsinn! Man eroberte doch nicht eine Stadt, um sie dem Dschungel zu übergeben! Er hatte geglaubt, der Erste Schatten würde den Thron an sich reißen …

»Wer die Stadt nicht auf seinen Beinen verlässt, den werden wir an seinen Haaren herauszerren. Oder aber als Fraß für die Geier zurücklassen.« Der junge Bauer sah ihn an, ohne zu blinzeln, ohne eine Miene zu verziehen. Und Sao war sich sicher, dass die Karang diese Drohung wahrmachen würden.

Korang Hom, Palast der Schauspieler, Stunde des Pferdes, 15. Tag des Erntemondes im 15. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

Noch nie hatte Nok den Palast der Schauspieler in solcher Aufregung erlebt. Alle liefen durcheinander, packten, schrien einander an. Die Angst war mit Händen greifbar. Die Karang waren gekommen. Sie hatten die Hauptstadt besetzt, der König war tot, die Welt, in der Nok aufgewachsen war, hatte über Nacht aufgehört zu bestehen.

Abgesehen von einigen wohlbehüteten Ausflügen hatte sie den Palast noch nie verlassen.

Ihre Mutter kniete sich vor ihr nieder. Kunthea hatte ihr Haar auf kunstvolle Art durcheinandergebracht. Es sah nicht mehr nach einer Frisur aus, und doch war sie immer noch atemberaubend

Kunthea hatte mit ihnen fast die ganze Nacht nähend verbracht. Sie hatten Hosen und weite Tuniken aus grobem schwarzem Stoff gefertigt, die sie nun alle trugen.

Nok sah ihre Eltern fassungslos an. Sie war kein kleines Kind! Ganz gleich, was die beiden ihr erzählten, sie hatte verstanden, dass die Welt, in der sie bis gestern gelebt hatte, mit dem Tod des Königs untergegangen war. Dennoch hatten ihre Eltern Schminke eingepackt, Masken und zwei leichte Kostüme.

Vor zwei Tagen hatten Kunthea und Bun die Hauptrollen in dem neuen Stück Lebe wohl, meine Kaiserin gespielt. Ihre Mutter die goldhaarige Kaiserin Marcia und ihr Vater den stolzen General Xiang Yu. Sie hatten die Mächtigen des Königreichs mit ihrer Kunst verzaubert. Und Nok wusste, wie viel Arbeit hinter dem stand, was auf der Bühne so leicht aussah. Alle Darsteller mit einer Sprechrolle hatten an dem Abend einen Lotus geschickt bekommen. Noch nie war ein Stück so begeistert aufgenommen worden! Noch nie hatte es so viele Einladungen zu diskreten Treffen gegeben. Und das Ensemble ihrer Mutter hatte ein zweites Mal glänzen können.

Nok dachte wieder daran, wie der König sie angesehen hatte. Im nächsten Stück hätte sie eine Sprechrolle bekommen. Sie war so weit! Sie war dreizehn Jahre alt und hatte ihr ganzes Leben unter Schauspielern verbracht. Sie kannte die zwei Rollen, die jeder Theaterabend einforderte. Die auf der Bühne und die danach. Wer eine Sprechrolle annahm, gab damit dem Publikum das Zeichen, nicht abgeneigt zu sein, an dem Abend noch weitere Rollen zu geben. Nok beherrschte drei Instrumente, sie konnte sich in vier Sprachen unterhalten, war eine gute Tänzerin, allerdings nur eine sehr mittelmäßige Sängerin. Manchmal blieb es dabei, öfter endete ein solcher Abend mit dem Spiel von Wolke und Regen. Doch ganz gleich, wie er endete, er begann immer mit einem Geschenk. Und ihr Vater bestand darauf, dass diese Geschenke nun alle zurückblieben. Die Ketten aus schweren Silbermünzen, die

Kunthea hörte nicht auf ihn. Nok hatte beobachtet, wie ihre Mutter einige Edelsteine und etwas Gold in ihrem ausgehöhlten Wanderstab verbarg. Ihr indes bürdeten sie einen kleinen Sack mit Reis, einen Kupferkessel und gleich mehrere wassergefüllte Kürbisflaschen auf.

So schritten sie nebeneinander über die rote Brücke und durchquerten den Palast des Königs bis hin zur Halle der tausend Geister. Nok hatte diesen Ort immer geliebt. All die Wohlgerüche, aber auch das Zwielicht und die treibenden Rauchschwaden, die sie vor neugierigen Blicken verborgen hatten, wenn es ihr gelungen war, sich an den Palastwachen vorbei bis hierher zu schleichen.

Ihr Vater legte ihr einen gelben Schal um den Hals, als sie durch das hohe Portal hinaus in die Welt der Karang traten.

Nok war überrascht zu sehen, dass viele der Schatten nicht älter waren als sie. Mit ernsten Gesichtern betrachteten sie die Künstler, Bediensteten, Berater und Adeligen, die den Palast verließen. Hunderte Angehörige des Hofs versammelten sich auf dem weitläufigen Platz, die meisten bunt wie Paradiesvögel gekleidet. Nur die engsten Freunde ihrer Eltern hatten das Schwarz der Karang angelegt. Die übrigen legten noch Wert auf eine Kleidung, die Privilegien und Standesunterschiede betonte, die es nicht mehr gab.

Nok entdeckte ihren Onkel Sao unter den Aufständischen. Auch er trug das einfache schwarze Leinen der Karang. Seine Füße steckten in schlichten abgewetzten Sandalen. Er hatte das Haar kurz geschoren und trug den gelben Schal der Rebellen als Stirnband.

Sobald er sie entdeckte, eilte er ihnen entgegen. Er hielt sein Schwert in der Linken. Die mit Perlen geschmückte Scheide war nun mit schwarzem Stoff umwickelt und unauffällig.

»Das war klug, Bun«, bemerkte Onkel Sao leise, als er sie erreichte, und deutete auf ihre Kleider. »Von nun an gilt es,

Nok überlief ein Schauer. Ob das stimmte? Wenn ihr Onkel eines nicht war, dann ein Schwätzer. Aber Dämonen … die gab es doch nur in Mären, genauso wie Geister oder Apsaras oder die weißen Füchse, die sich in wunderschöne Frauen verwandelten und das Chi ihrer Opfer tranken, und die Riesen in den Bergen des Weltenrückens.

Ihr Onkel beugte sich zu ihr herab. »Kannst du unsichtbar werden, Nok? Du musst sein wie die um dich herum. Und blicke ihnen nicht direkt in die Augen. Für viele ist das eine Herausforderung.«

Nok erinnerte sich an Geschichten über Dämonen, in denen man seine Seele verlor, wenn man ihnen zur falschen Zeit in die Augen sah.

Argwöhnisch blickte sie zu den mürrischen Knaben mit den Bambusspeeren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese ungewaschenen Bauerntrampel solche Macht besaßen.

Ein Junge, dem die Ohren fehlten, kam zu ihnen. Er grüßte Sao, als würde er ihren Onkel kennen, was Nok sehr verwunderte.

»Ihr kommt mit mir! Ihr werdet nach Melu Wat gehen.«

»Wo ist das?« Nok hatte noch nie von einer solchen Stadt gehört.

»Mein Dorf!« Der Junge ohne Ohren strahlte sie an, und Nok musste sich beherrschen, um nicht auf die knorpelverwachsenen Höhlen zu starren. »Melu Wat liegt in einer Ebene voller Reisfelder. Wir ernten zweimal im Jahr. Es gibt mehr als hundert Wasserbüffel im Dorf. Und das beste Essen. Riesige Mangos und Wassermelonen, so schwer, dass sich ein Mann das Kreuz bricht, wenn er allein versucht, sie anzuheben und …«

»Und die Bienen tragen einem den Honig in den Mund, wenn man nur die Zunge herausstreckt?«

Der Junge sah sie verwundert an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das tun sie in Melu Wat nicht.« Er wirkte geknickt, als sei es für ihn bisher nicht vorstellbar gewesen, dass irgendetwas in seinem Dorf nicht besser als überall sonst sein könnte.

Ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht des Bauernjungen. »Dann ist ja gut … Dann …« Das Lächeln verschwand. Er sah sich um, wirkte argwöhnisch. Ganz so, als habe er Angst, lächelnd gesehen zu werden. Rasch deutete er mit seinem Bambusspeer auf ihre Eltern. »Ihr kommt mit nach Melu Wat. Und ihr da!« Er ging weiter, wählte weitere Schauspieler, aber auch etliche Palastdiener aus, bis ein großer, kräftiger Kerl ihn anschrie. Daraufhin brach Streit los. Von überallher kamen Knaben, aber auch erwachsene Männer herbei und wollten Frauen aus dem Palast.

Sao winkte Nok und ihren Eltern. Er zog sie auf die Seite.

»Mach nie wieder solche Scherze wie mit den Bienen!«, fuhr er Nok an. »Die Karang verstehen keinen Spaß. Wenn einer von ihnen auch nur glaubt, dass er durch einen Scherz von dir das Gesicht verloren hat, wird er dir deines wegschneiden.«

Ihr Onkel ging vor ihr auf ein Knie nieder und packte sie fest bei den Handgelenken. »Trang ist nicht so harmlos, wie er dir erscheint. Was glaubst du, warum sie niemals lachen? Sie haben es in Jahren der härtesten Entbehrungen verlernt. Ihr werdet das auch.«

Er sah zu Noks beiden kleinen Schwestern, Chenda und Jiut, den Zwillingen. »Bei ihnen wird es anfangen.«

Südlich von Korang Hom, Stunde des Hundes, 15. Tag des Erntemondes im 15. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

Noks Schultern schmerzten. Sie würde noch lange gehen können. Die endlosen Übungen während ihrer Ausbildung zur Schauspielerin hatten sie zäh gemacht. Aber sie war es nicht gewohnt, über Stunden schwere Lasten zu tragen. Der Reissack, der Kessel, all die Kürbisflaschen … die Tragriemen schnitten ihr in die Schultern. Weißer Staub haftete an ihrer groben Kleidung.

Chenda, ihre kleine Schwester, hielt ihre linke Hand. Auch sie

Obwohl sie schon den ganzen Tag die Straße entlangmarschierte, hörte Nok nicht auf, darüber zu staunen, wie unglaublich viele Menschen es gab. Ihr Onkel hatte gesagt, dass alle die Stadt verlassen mussten. Und alle mussten auf ihren eigenen Füßen gehen, so verlangte es die neue Gerechtigkeit. Es gab keine Sänften mehr, die von unzähligen Dienern getragen wurden. Keine Reisewagen mit seidenen Kissen und mannshohen Rädern. Alle waren sie nun gleich.

Die Karang redeten nicht viel, aber das wiederholten sie immer wieder: Sie alle waren gleich. Es gab keine Diener und keine Herren mehr. Und man sollte nur noch das bekommen, was man sich durch ehrliche Arbeit auch wirklich verdiente.

»Hinsetzen!« Trang, der Bauernjunge ohne Ohren, kam die Straße entlanggelaufen und wedelte mit den Armen. »Hinsetzen! Sofort!« Einige andere Burschen begleiteten ihn, und wer dem Befehl nicht schnell genug folgte, dem schlugen sie mit einem Bambusrohr in die Kniekehlen.

Nok ließ sich, wo sie stand, zu Boden fallen und zog Chenda mit sich.

»Warum sind die Karang alle so gemein?«, flüsterte Chenda ängstlich.

»Vielleicht haben sie was Falsches gegessen. Das würde auch erklären, warum sie so lange Gesichter machen.«

Chenda kicherte.

Ihre Eltern und Jiut rückten zu ihnen auf. »Wir müssen näher zusammenbleiben«, zischte Kunthea sie an. »Du wirst nicht wieder mit Chenda vorauslaufen. Und jetzt schlag die Augen nieder!«

»Der Hammermann kommt«, stieß er gehetzt hervor. »Ihr dürft ihn niemals belügen! Er kann riechen, wenn man lügt. Sagt immer die Wahrheit, und alles wird gut!«

»Was hat das schon wieder zu bedeuten?«, flüsterte ihr Vater.

»Wer ist der Hammermann?«, rief ihre Mutter Trang nach, doch der Bauernjunge lief schon weiter.

Ihr Vater legte einen Arm um Nok und zog sie zu sich heran. Sie alle fünf hockten dicht beieinander.

Palmen säumten die breite Straße. Ein leichter Wind war mit der Abenddämmerung aufgekommen und trieb kleine Wirbel weißen Staubs zwischen den Heimatlosen dahin.

Jenseits der Palmen lagen Reisfelder. Die wenigen Bauern, die Nok entdecken konnte, hielten weiten Abstand zur Straße. Wasserbüffel konnte sie keine sehen.

Ein ganzer Trupp von schwarz gewandeten Karang kam langsam die Straße herab. Es mussten über hundert sein. Immer wieder hielten sie an und redeten mit den Heimatlosen. Ab und an wurde einer der Kauernden hochgezerrt und fortgebracht. Dann hörte Nok gellende Schreie. Sie wagte es nicht, den Kopf zu heben, um besser sehen zu können, was vor sich ging.