www.edition.subkultur.de

Gary Flanell, lebt, schreibt und musiziert im Osten Berlins.

Hat sich bis hierher durchgeschlagen als Musikjournalist, Prompterfahrer, Lesebühnenorganisator, Gerichtsshow-Darsteller und DJ. Er sammelt defekte Musikinstrumente, wählt die Musik des Tages mit Bedacht aus und hat viel Spaß daran, wohlklingende Namen für fiktive Bands zu erfinden.

Mit „Angst vor blauem Himmel“ legt er nach knapp fünf Jahren seinen zweiten Kurzgeschichtenband vor und freut sich so dermaßen darüber, dass ihm das Melanin aus dem Bart schießt. Flanell mag seinen Porridge geschüttelt, nicht gerührt und seinen Gin Tonic nach Art der englischen Queen. Seine Lieblingstiere sind nackte Katzen und angezogene Hunde.

Gary Flanell

Angst vor blauem Himmel



Erzählungen




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Gary Flanell: „Angst vor blauem Himmel“

1. Auflage, Oktober 2018, Periplaneta Berlin, Edition Subkultur

© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig. Darüber hinaus können Namen von Personen des öffentlichen Lebens oder von Produkten oder Institutionen vorkommen, die ein fester Bestandteil des kollektiven Dahinexistierens geworden sind und deren Nennung sich einzig aus diesem Grund nicht vermeiden ließ. In solchen Fällen berufen sich der Autor und der Verlag auf die Satirefreiheit.

Lektorat: Swantje Niemann

Cover: Tom Hamers

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943412-38-3

epub ISBN: 978-3-943412-39-0

Vom Verschwinden einer Fluse

„All of us are users

all of us get used“

(Mega City Four – Callous)

Ich hatte noch nicht einmal mit meiner Freundin geschlafen, da stand schon die Polizei in meinem Zimmer. Ich war in dem Moment damit beschäftigt, ein Mixtape für sie aufzunehmen und auf der Verpackung eines Hansa-Pils-Sixpacks meinen allerersten Liebesbrief zu verfassen. Die Polizisten traten ein, ohne anzuklopfen. Sie sahen aus wie die Assistenten der Kommissare aus den Krimiserien, die Freitagabends um kurz nach acht im Fernsehen liefen. Beide hatten traurig hängende Schnauzbärte. Sie schauten ernst und betroffen, was gut zu ihren beigefarbenen Cordhosen und grauen Pilotenjacken passte. Es war mir in diesem Moment etwas unangenehm, dass ich seit drei Tagen nicht gelüftet hatte, aber ich erwartete ja auch keinen Besuch. Ich legte meinen Liebesbrief beiseite und stoppte das Tape, auf dem sich Slime gerade darüber ausließen, wie mit Polizisten umzugehen sei.

Etwas ratlos standen die beiden Ermittler im Raum und ließen ihre Blicke über den mit Bierflaschen und Platten übersäten Boden schweifen. Dann hielten sie mir einen Zeitungsausschnitt unter die Nase. Das Mädchen, dessen Passfoto vom Titelbild grinste, war eindeutig Fluse, das süße blauhaarige Punkmädchen, mit dem ich jetzt seit drei Wochen zusammen war. Dass sie eigentlich Inga hieß, hörte ich da zum ersten Mal. Laut dem Artikel war Fluse vor drei Tagen verschwunden, und ihre Mutter hatte nun die Presse und die Polizei alarmiert. Wahrscheinlich in dieser Reihenfolge.

In dem Artikel unter dem Bild stand, dass Fluse und ihre Mutter sich heftig gestritten hatten, weil sie nicht damit einverstanden war, dass ihre Tochter jetzt einen Freund aus der Punkszene hatte. Der Freund aus der Punkszene – das war in diesem Krimi dann wohl ich.

Hinter den Bullen sah ich meinen Vater in der Tür stehen und das Verhör aufmerksam verfolgen. Die Tatsache, dass die Polizei nach meiner Freundin suchte, schien ihn zu erleichtern. Ich hatte bis dahin nie irgendwelche Mädchen erwähnt, geschweige denn eins mit nach Hause gebracht. Dass jetzt zutage kam, dass ich eine Freundin hatte, schien ihn zu beruhigen.

Die Bullen blickten weiterhin, als hätte Derrick gerade einen Autounfall gehabt, und stellten mir ein paar Fragen. Seit wann ich Fluse kennen würde und wann wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich erzählte ihnen also die Geschichte von der Landjugendparty vor einem Monat, von der wir nachts gemeinsam abgehauen waren und heftig geknutscht hatten. Die Stelle in unserer Romanze, an der Fluses Mutter in ihr Zimmer gestürmt kam, während ich ihr den BH auszog, ließ ich aus. Wahrheitsgemäß erzählte ich nur, dass ich Fluse das letzte Mal vor fünf Tagen gesehen hatte. Da hatte sie allerdings nichts davon erzählt, dass sie abhauen wollte.

Die Bullen blieben skeptisch und ließen sich von mir unser gesamtes Haus zeigen. Sie vermuteten, dass ich Fluse irgendwo versteckte. Erst als sie alles von oben bis unten inspiziert hatten, war ihnen klar, dass sie sich weder zwischen Heizöltank und Außenmauer noch hinter dem Wasserkasten des Gästeklos aufhielt. Auch unter meiner Bettdecke war sie nicht. Leider. Bevor die beiden mit leeren Händen unser Haus verließen, drückte mir der Ältere noch seine Visitenkarte in die Hand. Sollte ich von Fluse hören, könne ich ihn jederzeit anrufen, sagte er und lächelte vertraulich. Als das graue Ermittler-Auto wegfuhr, sah ich, wie im Haus gegenüber auffällig viele Gardinen zugezogen wurden.

„Mach dir mal keine Sorgen“, sagte mein Vater später beim Abendessen mit vollem Mund. „Die kommt schon wieder.“

Es gab Pellkartoffeln mit Quark, das einzige Gericht, das er einigermaßen unfallfrei hinbekam. Ich hob die Augenbrauen und ließ schweigend den Quark wieder und wieder von meiner Gabel tropfen, während sich mein Vater die nächste Portion Kartoffeln auftat. Essen war für ihn ein solcher Kraftakt, dass ihm dabei jedes Mal Schweißtropfen auf die Stirn traten. Als er mit dem dritten Teller fertig war, rülpste er laut, fuhr sich mit der Hand über den Mund und wischte sie dann an seinem Feinrippunterhemd ab. Anschließend ging er im Badezimmer gegenüber aufs Klo. Die Tür ließ er wie immer offen. In der Küche roch es jetzt nach Scheiße und Schweiß. Ich nahm den Teller mit den Kartoffeln und ging in mein Zimmer.

In den nächsten Tagen überlegte ich, wie ich Fluse ausfindig machen könnte. Schließlich war sie meine Freundin und ich war ihr Freund. Als solcher, so meine Auffassung als Anfänger in Beziehungsfragen, war es meine ritterliche Pflicht, nach ihr zu suchen. Ich hatte eine Menge Pläne. Als Erstes würde ich Zettel kopieren, auf denen ihr Name und meine Telefonnummer standen. Diese Zettel würde ich in der ganzen Stadt aufhängen.

Ich würde auch ihre Freunde fragen, ob die wüssten, wo sie steckte. Dazu müsste ich ihre Freunde zwar erst mal kennenlernen, aber das ließe sich machen. Ich konnte mich dunkel an zwei Mädels mit grünen Haaren und ÄRZTE-Shirts erinnern, die mit Fluse auf der Landjugendfete herumgehangen hatten, auch wenn mir ihre Namen beim besten Willen nicht mehr einfielen.

Außerdem beschloss ich, Fluses Mutter anrufen und mit ihr die bisherigen Ermittlungsergebnisse auszutauschen. Allerdings bereitete mir die Vorstellung, diese Frau anzurufen, Bauchschmerzen. Nachdem sie mich dabei erwischt hatte, wie ich an ihrer Tochter rumgefummelt hatte, war unser Verhältnis recht kühl geworden. Aber dies hier war eine Notsituation, und in so einer musste man sich nun mal überwinden und kooperieren.

Ich würde auch allen meinen Freunden von Fluses Verschwinden erzählen und sie bitten, mir sofort Bescheid zu sagen, falls sie irgendetwas von ihr hörten. Ich nahm mir vor, beim Sorgentelefon der Caritas und den Krisendiensten von Diakonie, AWO und der freiwilligen Feuerwehr anzurufen, um mir Rat zu holen.

Sogar Karl, der Hippie-Sozialarbeiter des Jugendzentrums, in dem ich mit meiner Band probte, stand auf meiner Liste der einzuweihenden Personen. Einen Augenblick lang dachte ich auch daran, beim örtlichen Schützenverein zu fragen, ob ihre besten Leute in den nächsten Wochen nachts durch die Stadt patrouillieren könnten, um Fluse aufzuspüren. Abschließend erwog ich, mich an Aktenzeichen XY wenden, damit das ganze Land vom Verschwinden meiner Freundin erfuhr. Es gab also viel zu tun in den nächsten Wochen. Den Bullen, der mir seine Visitenkarte gegeben hatte, würde ich allerdings nicht anrufen.

Ich tat nichts von all dem. Ich hängte keine Zettel auf und telefonierte auch nicht mit irgendwelchen Krisendiensten. Weder rief ich Fluses Mutter an, noch machte ich ihre Freunde ausfindig. Ich schaute Freitagabends nicht einmal Aktenzeichen XY, um mir die eingeblendete Telefonnummer irgendeiner Hotline zu notieren. Karl, den Hippie-Sozialarbeiter grüßte ich nur kurz, wenn ich zur Probe ging. Keiner von meinen Freunden erfuhr, dass ich kurzzeitig eine Freundin gehabt hatte, und erst recht nicht, dass diese seit Wochen verschwunden war. Stattdessen tranken wir weiter Bier, hörten und machten Musik, spielten Karten und laberten den üblichen belanglosen Scheiß. Ich lebte weiter, wie ich auch ohne verschwundene Freundin gelebt hatte. Das Einzige was ich wirklich tat, war, den Polizisten mit der Visitenkarte nicht anzurufen.

Sechs Wochen später tauchte Fluse wieder auf. Das erfuhr ich wieder aus der Zeitung. Diesmal war die Meldung den Redakteuren allerdings nur eine Kurzmeldung im Lokalteil wert. Wie ich dem Text entnehmen konnte, war sie wohl eine Zeitlang in Hamburg unterwegs gewesen. Ich dachte daran, sie anzurufen, aber etwas hielt mich davon ab. Auch sie meldete sich nicht mehr bei mir. Über den Zustand unserer Beziehung dachte ich nicht viel nach, machte mir allerdings auch keine Illusionen. Den Brief aus dem Sixpack-Karton flatterte noch einige Monate lang in meinem Zimmer herum. Ich beförderte ihn von einer Ecke zur anderen, ohne ihn noch einmal zu lesen.

Irgendwann verschüttete ich aus Versehen eine Dose Bier darauf, was ihn endgültig unleserlich machte. Das Mix-Tape hörte ich einige Zeit lang noch recht häufig, bis eines Tages das Band riss. Statt es zu kleben, legte ich es in die Kiste mit den anderen Kassetten.

Dann nahm ich einen neuen Mix von ein paar Dark-Wave-Platten auf, die ich mir von Krocker geliehen hatte. Wenn ich zusah, wie mein Vater wortlos schwitzend belegte Brote oder Pellkartoffeln aß, fragte ich mich, wo meine Mutter eigentlich derzeit wohnte.

Dialog mit J.

„I am locked to joy

Locked to the lives I destroy

I will never be dry,

I’ll never be satisfied“

(The Thermals – Born to Kill)

Woher ich komme?

Ich komme aus der Langeweile. Aus dem stadtgewordenen Mittelmaß, aus dem ganz besonders Unbesonderen.

Ich komme aus der Affenkolonie im Osten, die weit im Westen liegt. Ich komme aus den Straßen des alten Adels, dessen Nägel schon immer tief unter der Erde im Dreck gruben. Ich komme aus dem Haus, das dräuend schmollt, aber nie spricht.

Ich komme aus dem Casino, in dem nie gespielt, sondern nur beerdigt wurde.

Ich komme aus dem monatelangen Nebel über den Feldern ohne Berge. Aus dem gleichförmigen Erlebnishorizont ohne Landmarke.

Ich komme aus den grau dahinfließenden Bächen, deren Lauf begradigt wurde, weil man das eben so macht.

Ich komme aus den Vorabendserien ohne Werbepause. Ich komme aus den Todesanzeigen in der Tageszeitung, die beim Frühstück immer als Erstes gelesen werden: Ich komme aus dem „Was der auch? War doch gar nicht so alt.“

Ich komme aus Emo-Core um viertel nach acht.

Oder viertel vor?

Ich komme aus der billigen Kopie einer Bomberjacke und aus dem Offbeat. Ich komme aus den befreundeten Skateboards und dem Anstechen einer Bierdose. Ich komme aus der Gitarre und aus den rauschenden Tapes in den verbeulten Recordern. Ich komme aus den verschwitzten Konzerten und aus dem Sprung von der Bühne. Ich komme nicht aus der Schule.

Ich bin der Zweite. Ich bin der Jüngere.

Ich bin der, der weggehen musste. Ich bin der, der sonst geplatzt wäre. Ich komme aus der Flucht, die sein musste. Ich komme aus dem Dagegen-Anrennen, ich komme aus dem Unverständnis und aus der Wut. Ich komme aus dem tränenden Auge und aus der Atemnot. Ich komme aus der Desensibilisierung. Dreimal abgebrochen.

Ich komme aus dem Schatten eines Elefanten aus Glas, Stahl und Beton und Langeweile. Ich komme aus dem Keller voller Kronkorken und bemalter Hosen.

Ich komme aus dem Osten und aus der Mitte.

Ich komme aus der Stille unter Tage und aus dem Streit unter Nacht.

Ich komme aus dem Irrsinn, der auszog.

Ich komme aus der Horst-Wessel-Isolation, wo man schales Bier trinkt und Holzvögeln in den Kopf schießt.

Ich komme aus der Avantgarde, die ihren Namen nicht richtig aussprechen kann.

Ich bin von dort, wo kein Hahn nach mir kräht. Sondern hundert Hähne jeden meiner Schritte registrieren und bewerten. Tag und Nacht.

Ich komme aus der Rebellion, die durch Nostalgie Jahr für Jahr ein wenig mehr versteinert.

Ich komme aus der Distanz.

Ich komme aus Vater-Scheiße-Mutter-Scheiße-Kind-Scheiße-Kind-Scheiße-Scheiße.

Ich komme aus dem Urlaub in Pauschalien.

Ich komme aus der Verachtung für all das.

Woher ich komme?

Ich komme aus Klein-Machtmanhaltso.

Das liegt direkt hinter Isthaltso und gehört zu Groß-Lassmallieberbiertrinken.

Taxifahrt in den Straßen der Musik
(Lamento des desillusionierten Schallplattenunterhalters)

„Some girls will kiss and some girls will shake

in the morning with blood filled eyes

but the sun has its way of making us pay

for a revelry filled night.“

(Two Cow Garage – Humble narrator)

N’Abend. Einmal zur Junimondstraße, bitte. Genau, die im Osten. Gerade angefangen mit der Schicht? Das wird noch eine lange Nacht, was? Ich? Ich habe jetzt Feierabend. Bin gerade fertig geworden. Nee, kein Taxi. Auflegen in einem kleinen Club. Nee, nee, kein Electro, eher so Rockmusik. So Indiezeug. Ja, Blondie gibt’s auch manchmal. Nee, das mach ich nur ab und zu. Wäre ja schön, wenn man davon leben könnte. Obwohl, schön wäre das irgendwie auch nicht.

Ach Bruder, ich habe dich da draußen sofort gesehen. Konnte schon von weitem erkennen, wie du im Nebel da langgekrochen kamst, ganz langsam. Ausschau haltend nach verirrten Gestalten, die in dieser gottverlassenen Gegend auf einen wie dich gewartet haben. Gestalten wie mich.

Bruder, wusstest du, dass DJ ein echt gefährlicher Job ist? Ok, Taxifahrer ist auch gefährlich. Man weiß ja nie, wen man da so herumfahren muss. Aber DJ, das ist erst recht riskant. Ich hab mal so einen Bericht vom Musikschutzministerium gelesen, da stand drin, dass der Beruf des Discjockeys einer der gefährlichsten überhaupt ist. Hab das ja zuerst auch nicht geglaubt, aber ich mach das ja schon 30 Jahre und da kann ich nur sagen: stimmt!

Er ist gefährlicher als Bohrlochbrandlöscher, Stuntman und Minenräumer. Riskanter als Astronaut, Kosmonaut, Taikonaut oder wie auch immer du Jobs in der Schwerelosigkeit nennst.

Aber auch gefährlicher als Stahlwerkhochofenbetriebstemperaturkontrolleur, Boxschiedsrichter, Polarforscher, Undercoverpolizist oder Fensterreiniger am Burj Khalifa. Gefährlicher als Bodyguard, Löwendompteur im FKK-Zirkus von Hiddensee, Drogenkurier in Kolumbien oder Formel-Eins-Parkplatzwächter. Das kannst du alles vergessen, Bruder. DJ ist viel gefährlicher. Frage mich, warum es noch keine Normen für Schutzkleidung gibt. Helm, Weste, Panzerkopfhörer und so. Würde uns echt langsam mal zustehen. So gefährlich ist das, was ich da mache.

Können Sie da vorne rechts fahren, bitte? Platz der Luftgitarre ist ja gerade gesperrt. Also am Merengue-Damm am besten rechts und dann die Cumbia-Allee runter. Dann am Friedhof der Schlagergefallenen vorbei, genau. Danke.

Ok, Bruder, vielleicht war ich am Anfang etwas doof. So was sage ich nicht ganz leicht von mir selbst, aber es ist wahrscheinlich angemessen. Vielleicht hätte ich an meinem ersten Abend in diesem Club auf die Frage der jungen Kellnerin, die ja nun meine Kollegin war, etwas anderes antworten sollen. Aber ich musste ehrlich sein. Wenn es um Musik geht, kann ich nicht aus meiner Haut.

Während sie den Tresen für den anstehenden Abend vorbereitete, hing ich so auf der anderen Seite rum. Nippte an meinem Gin Tonic. Dem zweiten oder dritten, ich zählte an diesem Abend nicht so genau. War trotz der Longdrinks irre nervös. Weniger wegen der Frau, obwohl es einigen Grund gab, ihretwegen nervös zu werden, als wegen der Musikauswahl. Ich hoffte, dass ich die richtige und passende Musik eingesteckt hatte. Unter all den Platten, die ich angeschleppt hatte, musste doch etwas sein, das die Leute hier zum Tanzen brachte.

Wir sagten beide nichts. Sie war emsig damit beschäftigt, den Kühlschrank aufzufüllen. Ich hatte damit zu tun, das Glas zu leeren. Diese Stille war mir trotzdem unangenehm. Vielleicht weil die Barfrau sehr hübsch war und ich alter Narzisst dachte, sie hätte keinen Bock, sich mit dem DJ zu unterhalten, der da vor Einlass an ihrem Tresen rumhing. Vielleicht war sie auch nur sehr auf ihre derzeitige Arbeit konzentriert.

Wo wir hier gerade im Stau stehen ... Wäre es nicht besser, wenn wir über die B52 fahren und dann die Umgehung über die Simon-Garfunkel-Brücke nehmen? Ja, ich weiß, da kann’s manchmal zu Überflutungen können, aber jetzt im Sommer passiert das ja eher selten.

Um die Stimmung etwas zu lockern, schlug ich vor, sie solle sich einen Song wünschen. Den würde ich dann im Laufe des Abends spielen. Ein verwegener Vorschlag, ich weiß, aber was tut man nicht alles, um eine hübsche, aber schweigsame Barfrau aus der Reserve zu locken?

Sie hörte einen Augenblick auf, die Theke zu wischen und schaute mich an. Ich dachte immer, es gäbe keine wirklich schwarzen Augen, aber diese Barfrau hier bewies mir das Gegenteil.

„Hast du was von Depeche Mode?“, fragte sie nach einem kurzen Moment der Stille.

Mist, erwischt. Auf dem ganz falschen Fuß. Einem Fuß, der in meiner Musikwelt gar nicht existiert. Depeche Mode. Hatte ich schon mal gehört – musikalisch aber ein blinder Fleck in meinem Universum. Ich war halb enttäuscht, halb empört.

„Depeche Mode?“, murmelte ich, „Äh, nö. Habe ich nicht dabei“ und nahm einen langen Zug von meinem Gin Tonic.

„Warum nicht?“, fragte sie und wirkte dabei aufrichtig interessiert.

Und da war ich halt ehrlich: „Weil ich Depeche Mode für eine total überbewertete, langweilige Band halte. Eine, die unglücklicherweise unglaublich viele Hits hatte, welche hier in diesem Laden sicher viele Menschen auf die Tanzfläche holen würden.“

Höchstwahrscheinlich war ich der erste DJ in diesem Laden, der überhaupt nichts mit Depeche Mode anfangen konnte.

Sie hob nur die Augenbrauen, drehte sich um und inspizierte ein Longdrinkglas. Meinen Gin Tonic bekam ich an diesem Abend jedes Mal wortlos hingestellt.

Ich weiß, das klingt vielleicht ein bisschen blöd, aber wär’s möglich, eine kleine Abkürzung fahren? Wenn Sie da vorne links abbiegen, dann kommen Sie auf die Straße der 160 bpm, da geht’s etwas schneller, dann auf den Kreisverkehr am Place Du Gahan, und wenn wir dann rechts auf die Allee der Aeronauten einbiegen, dann sparen wir echt ein bisschen Zeit. Glauben Sie mir.

Dass der Job des DJs so gefährlich wie kaum ein anderer ist, Bruder, das bekam ich im Laufe der nächsten Abende zu spüren. Es fing ganz harmlos an. Mit Stift und Zettel. Die legte mir die Chefin zu Beginn meiner Schicht neben den Plattenspieler. Natürlich dachte ich: ‚Oh das ist aber nett. Extra einen Notizblock hinzulegen, damit all die Frauen, die mein Set so geil finden, ihre Telefonnummer hinterlassen können.‘ Fand ich super.

Stift und Zettel wurden allerdings nur ausgiebig dazu genutzt, Wünsche für die musikalische Gestaltung des Abends abzugeben. Eine Telefonnummer hinterließ niemand. Ich beschloss, das Gekritzel auf dem Notizblock fürs Erste zu ignorieren. Das meiste, was dort geschrieben stand, hatte ich sowieso nicht dabei. Ich hatte noch nicht mal die erste Platte von den Circle Jerks komplett durchgespielt, da wurden die Songwünsche um einiges energischer.

„Spiel doch mal Michael Jackson!“ Die erste Frau, die ihren Kopf durch die Luke zu meinem Kabuff steckte, funkelte mich an wie eine böse, giftige Spinne. Eine von den Spinnen, die morgens einen Eimer Zwietracht statt ein bis zwei Tassen Kaffee zu sich nehmen. Aus ihren Augen blitzten mir Hass, alkoholgetränkte Zerstörungswut und der jähzornige Wunsch nach Musik entgegen, die außer ihr hier niemand hören wollte.

„Ich will, dass du jetzt sofort was von Michael Jackson spielst!“, fuhr sie mich an.

Sie kletterte die Treppe hoch und kam einen Schritt auf mich zu. Schwankend, aber trotzdem bedrohlich. Vielleicht, weil sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger entschieden zu nah an meinem Gesicht rumfuchtelte.

„Ich habe nichts von Michael Jackson“, sagte ich knapp. „Das hier ist eine Indie/Alternative-Disco. Da gibt’s nichts von Michel Jackson. Außerdem finde ich den scheiße.“

So war’s ja nun mal.

Der Zorn der Furie nahm dadurch nur noch mehr Fahrt auf. „Hast du dich eigentlich irgendwie auf den Abend vorbereitet?“, keifte sie. Zumindest sie schien sich bestens darauf vorbereitet zu haben, dem Schallplattenunterhalter auf möglichst fiese Weise auf die Nerven zu gehen.

Vorsichtig schaute ich mich um und vergewisserte mich des Alarmknopfs neben der Treppe. Wenn alles schief ging, könnte Peter, der Türsteher, in zwei Minuten hier oben sein.

Ich sagte nichts mehr, sondern konzentrierte mich darauf, die nächste Nummer in der Pipeline mit eleganter Überblendung auf den Weg zu schicken. Ein wunderbarer Elektro-Pop-Song auf Mazedonisch. Mit Sängerin. Kannte niemand, verstand niemand und mitsingen konnte auch keiner, aber musikalisch passte das wunderbar zu der gerade angelegten New-Wave-Strecke. Die Tanzfläche war danach wie leergefegt und die Michael-Jackson-Verehrerin aus meiner Box verschwunden.

Wenn ich mich nicht ganz doll irre, kommen wir dann hier schräg links hinterm im Kraut-Viertel raus. Glauben Sie mir, das war echt seltsam. Wie sich früher alle aufgeregt haben, dass man so was bauen konnte. Aber jetzt ist das ja echt eine angesagte Gegend, gerade bei den ganzen Ex-Pats. Diese ganzen winzigen Gassen, da kann man sich schon schnell verirren. Eigentlich muss man sich nur an die großen Straßen halten, dann kommt man gut durch. Aber Obacht: Am Czukay-Suzuki-Carree, Ecke Von-Spar-Ring ist immer noch diese große Wanderbaustelle.

Weißt du, Bruder, in diesem kurzen Moment des Friedens dachte ich plötzlich: Ich bin ein Büffel. Ich bin ein ruhiges starkes Arbeitstier. Mein Reisfeld ist diese Tanzfläche. Ich trage das Joch des Musikunterhalters auf meinen Schultern und ich trage es mit Geduld und pflüge stoisch das weite Feld der unabhängigen Tanzmusik. Ich werde mich nicht von jedem kleinen Affen aus der Ruhe bringen lassen, der hier auf der Treppe um Aufmerksamkeit zetert. Ich bin ein ruhiger, starker, ausgeglichener Wasserbüffel, dessen Hufe durch das Brackwasser seines Arbeitsfeldes gleiten. Ich bin ein Büffel und sitze das Gezeter jedes kleinen Affen aus. Sollte er mir jedoch noch näher kommen, könnte es einen Tritt mit den Hufen geben.

Na, so richtig schnell geht das heute ja nicht voran. Aber wenn Sie jetzt da vorn an der zweiten Ampel rechts bleiben, dann können wir noch schneller fahren. Da ist rechts auf der Ecke das Dylan-Mausoleum und dahinter kommen gleich die Neil-Young-Arkaden. Da dann vorbei durch die Robert-Smith-Unterführung und, wenn wir wieder rauskommen, dann links in die Kleine Britpop-Zeile. Ja, genau so! Läuft ja prima!

Ein paar Abende später kam der Schlafwandler. Junger Typ mit Bart. Bestimmt ganz in Ordnung, wenn man mit ihm an der Bar abhängt. Aber nicht, wenn er in seinem ausgeleierten 2nd-Hand-Polo-Shirt vor dir steht und rumwimmert.

„Hallo, du. Sag mal, hast du auch was von den Beatles?“, fragte er und bekam dabei kaum die Zähne auseinander. „Meine Freundin ist gerade umgezogen. Die ist so müde, die würde jetzt voll gern ‚I’m only sleeping‘ von den Beatles hören.“

„I’m only sleeping“! Das tu ich schon, wenn ich nur den Titel höre! Aber die Leute, Bruder, all diese unwissenden Ignoranten verstehen es nicht. Verstehen nicht, dass ihr derzeitiger Lieblingssong einfach total untauglich zum Tanzen ist. „I’m only sleeping“ ist kein Tanzflächenfüller, sondern die so ziemlich lahmste Beatlesnummer überhaupt.

Ich kannte sie bis zu diesem Moment nicht. Ich hatte ja nicht mal eine Beatlesplatte. Monate später habe ich mir den Song mal spaßeshalber angehört. Was eine lahme Scheiße, Bruder! Nicht ein bisschen Arsch in der Hose. Als ich „I’m only sleeping“ zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, was ich dem Typen im ausgeleierten Polohemd hätte sagen müssen.

„Zum Tanzen ist das nix, du Hippie“, hätte ich sagen sollen. Und weiter: „Deine Freundin würde also total gern ‚I’m only sleeping‘ hören. Und ich würde jetzt total gern sehen, wie du ein ordentliches T-Shirt anziehst, bevor du hier hochgeschlufft kommst. Aber du bist nur ein ausgefranstes T-Shirt, das glaubt, mit seiner gummiartigen Schluffi-Art tut es keinem was Böses, also kommt es auch bei seinen beschissenen Songwünschen durch. Du bist ja nicht mal ein Slacker. Warum, du Sack-Shirt, trägt dieser Song wohl diesen Namen? Damit man dazu gut tanzen kann? Glaubst du wirklich, John, Paul und Ringo und der andere Typ hatten so viel Humor, dass sie dahinter eine tanzbare Up-Tempo-Nummer verstecken würden? Im Übrigen fallen die Beatles auch nicht unter meine Indie/Alternative-Definition. Es ist mir scheißegal, ob deine Freundin gerade aus dem Bett gefallen oder müde vom Umzug ist. Wenn sie müde ist, soll sie sich wieder ins Bett legen und dich nicht hier hochschicken, damit du mir hier auf den Sack gehst mit deinen scheißunpassenden Musikwünschen und deiner widerwärtigen Schluffi-laschi-Kannste-nicht-Haste-nicht-mal-eben-Art.“

Habe ich so natürlich nicht gesagt.

Eher habe ich mir nach kurzer Auskunft zum Stand der Beatles-Situation an diesem Abend („Tut mir leid. Habe ich nicht dabei.“) die Kopfhörer aufgesetzt und mich um die Musik gekümmert.

Aus einer Laune heraus spielte ich dann „I hate people“ von G.G. Allin, dann „Get out of my DJ booth, baby“ von MFC Chicken. Beides geil und tanzbar. Kannte aber auch keiner. Deshalb tanzte auch keiner. Die Leute hören einfach nicht auf die Musik, wenn sie in einem Club tanzen gehen.

Da vorne rechts müssen Sie ein bisschen aufpassen. Das ist die Deutschrocksiedlung. Scheißgegend mittlerweile. Früher ging’s ja noch. Da war alles hier ein bisschen bieder, aber manche Ecken waren echt ok. Aber seit man hier nur noch auf der rechten Spur vorwärtskommt, ist das echt nicht mehr schön. Heute würde ich da nicht mal besoffen lang laufen. Nur noch Idioten unterwegs. Vielleicht nehmen wir stattdessen einfach in die Dackelblut-Gasse. Kennen Sie gar nicht? Früher gab’s hier mal die schönsten Blumen am Arsch der Hölle. In dem kleinen Laden von Oma Hans. Ach, den kennen Sie? Würde ja gern mal wissen, ob es den noch gibt, das war damals gleich da vorne links. Hab aber mal gehört, der wäre jetzt zu. Oder war das eine Straße weiter? Ich weiß es nicht mehr. Ich fahre hier ja nicht mehr so oft lang.

Oh, Bruder, du glaubst, dass das, was ich da tue, glamourös ist, was? Ein Scheiß ist es. Ein richtig dicker Haufen Scheiße. Ich könnte dir die ganze Nacht davon erzählen, was alles passiert, wenn ich in diesem Kabuff sitze. Es ist unglaublich. Manchmal auch unglaublich langweilig. Aber ab und zu kommen sie wirklich zu mir hoch. Diese unglaublich hübschen jungen Frauen. Die den DJ so angrinsen, dass einem schwindlig wird. Manchmal setzen sie sich erst mal fünf Minuten hin und gucken dir einfach nur zu. Davon darf man sich nicht verrückt machen lassen. Wenn du es nicht leiden kannst, dass dir beim Arbeiten jemand auf den Rücken starrt, dann such dir was anderes. Mafiaboss oder so. So was muss man aushalten. Wenn die ersten fünf Minuten, in denen die hübschen jungen Frauen bei dir rumsitzen, vorbei sind, passiert immer Folgendes: Räuspern, dann ein zaghafter Kommentar zum Arbeitsumfeld: „Ach, hier sitzt du? Ist ja ganz hübsch.“

Dann kommt der Musikwunsch: „Darf ich mir was wünschen?“

„Klar“, sage ich und glotze weiter auf dem Laptop. „Wünschen kann man sich viel.“

Das verstehen sie meistens nicht.

„Oh, super. Kannst du was von den Sportfreunden Stiller spielen?“

„Nee du, ich soll nichts Deutschsprachiges spielen. Ansage vom Chef.“

„Oooch, echt? Schade.“

Wenn die Mädchen dann wieder gegangen sind, weil ich nichts spiele, das sie verstehen, bin ich in der Stimmung für was Anspruchsvolles. „Sometimes you eat the bear, sometimes the bear eats you“ von Pat Todd & The Rank Outsiders passt dann ganz gut. Ich nehme mir immer wieder mal vor, mir fünf Songs für ein Set als Straßenmusiker drauf zu schaffen. Der wäre dabei.

Aber Bruder, oft ist es ein Graus, all diese Menschen mit ihrem schlechten Geschmack und ihren penetranten Forderungen abzuwehren. Was ist mit David Guetta? Kommen da die Leute auch hochgeschlichen und sagen ihm, was er zu spielen hat? Ich glaube nicht. Aber ich habe auch nicht so eine Sonnenbrille wie David Guetta. Vielleicht liegt’s daran. Mit so einer Sonnenbrille könnte ich auch die abwehren, die, die glauben, sie wüssten und könnten alles besser. Die Oberschlauen. Die sind so ähnlich unterwegs wie der Schluffi im Polo-Shirt.

Erst sagen auch sie nur „Hallo.“ Und dann erstmal nichts. Dann bin ich schon misstrauisch und sage auch nichts.

„Darf ich mal gucken?“, fragen sie dann.

„Was?“

„Ob ich mal gucken darf. An deinem Rechner. Ich meine, können wir mal tauschen? Ich leg auch ab und zu auf. Vielleicht hab ich ja ne bessere Idee als d...““

„Nein! Hast du’n Knall? Raus hier!“, kommt es dann wie aus der Pistole geschossen. Und hätte ich eine Pistole, würde ich glatt schießen.

Ach so, jetzt sind wir schon am Cabaret-Voltaire-Karrée vorbei? Schade. Wenn Sie vorhin nämlich auf die Cock-Sparrer-Terrassen und dann am New-Romantic-Kai auf die Redding-Allee abgebogen wären, wären wir noch ein bisschen schneller gewesen. Jetzt könnten wir aber noch über die Ian-Curtis- und dann links auf die Banshee-Zeile. Das wäre immer noch kürzer, als wenn wir geradewegs über die Bowie-Promenade fahren würden.

Mitten in der Schicht, Bruder, so zwischen zwei und drei Uhr, erscheint dann immer die Fee. Die Gothic-Cosplay-Fee mit tätowiertem Dekolleté, um genau zu sein. Ich sehe sie nie kommen, sie ist irgendwann einfach da. Das ist ein bisschen unheimlich. Erst riecht es unerklärlicherweise nach Patschuli, und dann steht sie wie ein Geistwesen plötzlich neben mir. Die Cosplay-Fee will immer was von den Editors hören. Die habe ich dann meist schon gespielt. Und zweimal was von einer Band spielen, geht gegen meinen DJ-Kodex. Sobald ich ihr das erkläre, will sie immer einen bestimmten Song von Volbeat hören. Mittlerweile weiß ich schon, welcher es sein soll. Es hat sich da so ein Ritual zwischen uns entwickelt.

Erst fragt sie nach „was Rockigem“.

„Volbeat?“, schlage ich dann vor. Große Zustimmung von der Fee.

„Wie wäre es mit ‚Say your number‘?“, frage ich dann weiter.

Dann flippt sie total aus. Den Song habe ich gar nicht da. Aber den wünscht sie sich jedes Mal. Was sie anscheinend vergessen hat, denn sie freut sich jedes Mal wie ein kleines Kind, dass ich ihr dieses Lied vorschlage.

„Oh ja, das wäre super! Das ist mein Lieblingssong!“

Dann freut sie sich und geht zur Tanzfläche, und wartet auf ihren Song. Der nie kommen wird. Volbeat sagt dir was, oder? Nee, nee, nicht die mit „Seemann“. Was Englisches. Nee, auch kein R’n’B. Mehr so Rockmusik. Ja, wie Elvis oder Buddy Holly. Ganz übles Rockgeschepper. Ich bin aber kein Experte für Volbeat. Will ich auch gar nicht sein.

Mein Standardspruch, wenn ich weiß, dass ich ein Lied eh nicht habe, ist: „Ich schau mal nach.“ Das klingt dann so, als würde ich in meiner riesigen Datenbank rumkramen. Ich sage das, um Zeit zu gewinnen, wenn sich Leute irgendeinen langweiligen Scheiß wünschen, den ich aus Prinzip nicht dabeihabe. Weil ich ja keine humane Musikbox bin, sondern ein Mensch mit Geschmack. Mit Musikgeschmack. Andere haben Marmeladengeschmack. Oder Fischgeschmack. Oder Autogeschmack. Ich habe Musikgeschmack. Deshalb haben die mich ja irgendwann angeheuert. Bei Fisch, Marmelade oder Autos werden die Experten nie hinterfragt. Denen glaubt man einfach, wenn sie was geil finden. Wenn es um Musik geht, glauben aber seltsamerweise alle, dass sie mitreden können.

Weißt du, Bruder, man züchtet sich in diesen Nächten unfreiwillig eine bestimmte Art der Arroganz an. Einen elitären Hass auf alle, die nicht so viel Zeit damit verbringen, Songs und Bands auszugraben. Einen Hass auf alle, die dann mal eben vorbei schauen und meckern, wenn man seinen Job so macht, wie man es für richtig hält.

Sehen Sie, gleich sind wir da. Jetzt noch über die Bad-Brains-Rotunde und am Grant-Hart-Weg runter. Wenn Sie dann die dritte Abbiegung rechts nehmen, kommen wir über die Straße des 17. GG-Allin-and-The-Jabbers-Bootlegs am besten voran.

Irgendwann, Bruder, sind dann alle weg. Sind müde, besoffen, gelangweilt von der Musik oder auf dem Weg zum One-Night-Stand. Dafür kann ja der DJ nichts, wenn er endlos geile Musik auflegt und das undankbare Gesocks nur debil am Tresen klebt. Der zynische Plattenunterhalter freut sich, wenn er zu einer bestimmten Uhrzeit den Laden konsequent leer gespielt hat. Geld bekommt er ja trotzdem. Und vielleicht ist es die Rache für die mickrige Bezahlung. Es ist eine große Kunst, die Musikauswahl zum Ende hin so mies zu gestalten, dass Punkt 5 Uhr der Laptop zugeklappt werden kann.

Aber dieser Plan wird oft durchkreuzt. Die, die den Plan durchkreuzen, sind meist die fiesesten Typen. Rocker. Mein Bruder, du weißt um meine Geduld. Geduld wie ein Wasserbüffel, der durch ein Feld pflügt. Doch wenn nur noch fünf bärtige Metaller da sind, die immer warten, dass der Laden leer ist und sie den DJ dazu nötigen können, endlich mal „ihre“ Musik zu spielen, wird sie schon mal auf die Probe gestellt. Wenn ich ein geduldiger Büffel bin, sind die Rocker die kleinen nervigen Affen, die ihm im Nacken sitzen, ihn am Fell zwicken und ihm immer zwischen die Hufe laufen. Und glaub mir, die Rockeraffen landen immer irgendwann in deiner DJ-Bude.

„Spiel mal was Hartes“, kommt es dann energisch aus einer Lücke im Bart, etwas unterhalb des Ochsenrings in der Nase, aber oberhalb des Wacken-Festivals-2005-Shirts. „Es sind eh nur noch fünf Leute da und die tanzen alle. Spiel doch mal Pantera. Oder Sepultura. Haste Napalm Death? Dann gehen die Mädels auch weg. Komm Alter, spiel mal was richtig Hartes. Haste was richtig Hartes da?“

Ich reagiere dann meist mit „That’s how I got to memphis“ von Solomon Burkes Nashville-Platte. Hilft astrein gegen fiesen Rockeraffenbefall.

Wenn Sie gleich auf der Lakomy-Allee sind, dann fahren Sie doch hintenrum auf die Throbbing-Gristle-Chaussee. Das wäre echt ein Traum. Dann können Sie mich am Kraftwerk auf der Ari-Up-Promenade rauslassen. Direkt da, wo der Nina-Hagen-Damm anfängt. Ok, hier wäre super. Das ging ja doch ganz fix. Passt so. Schönen Abend noch.

Ach Bruder, lass uns nicht vom Geld reden. Du weißt ja, was man nachts verdient. Zum Leben zu wenig und für das andere reicht es auch nicht. Was meinst du? Falscher Laden, meinst du? Vielleicht mal woanders probieren? Ach, na ja, glaube nicht. Das Publikum braucht mal Brüche. Die muss man sich erziehen. Nur so wird man richtig groß und unsterblich. Frag mal David Guetta. Danke für den Tipp, aber ich komm schon so klar. Glaube mir, ich kenn mich aus. Erzähl ich dir denn, wie du Taxi fahren sollst?

Alberner Hafen I
(fast zweieinhalb Punkrocksongs)

Bei so viel trübem Dunst über der Stadt fühlt er sich oft komisch, man könnte sagen – ihm ist ganz blümerant.

Anziehen bringt dann gar nichts.

Aufstehen erst recht nicht.

Also bleibt er einfach liegen, wie er ist, wo er ist, wie er war.

Er weiß genau, das geht jetzt tagelang so weiter und er weiß genau, das kann jetzt auch mal Wochen dauern.

Da spricht dann die Erfahrung aus ihm.

Redet in Zungen, die nicht seine sind.

Diese Suppe, die da draußen angeboten und serviert wird.

Diese Suppe da draußen hat er nie bestellt.

Diese Suppe, so fad und elendig zusammengekocht aus Feuchtigkeit und Dunkelheit und Dampf und altem Dreck.

Diese Suppe ist eine Seuche, die ihm unablässig und tagtäglich in die Knochen kriecht und jede seiner Fasern ruiniert.

Diese Suppe schmeckt ihm einfach nicht. Hat sie noch nie.Richtig hungrig war er eh noch nie.

Er ist jetzt schon wieder satt, wenn er nur aus dem Fenster schaut.