Durs Grünbein

Oper

Berenice / Die Antilope / Die Weiden

Suhrkamp

Inhaltsverzeichnis

Berenice. Oper in fünf Akten

»Con trenta due denti.« Notizen zu einer Oper

Die Antilope. Oper in sechs Bildern

Die Weiden. Oper in sechs Bildern

Eins, zwei, drei Opern

Kompositorische Allianz

Stücke von Durs Grünbein bei Suhrkamp

Ergänzende Angaben und Rechte-Hinweise

Für Eva

Alle drei Operntexte entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten.

Berenice

Oper in fünf Akten

Musik von

Johannes Maria Staud

Personen

Egaeus 1 (Der Schauspieler) — Tiefe Sprechstimme

Egaeus 2 (Der Sänger) — Baßbariton

Berenice — Sopran

Der Vamp — Mezzosopran

Edgar Allan Poe — Schauspieler / Hohe Sprechstimme

Chor der Familiengeister — Achtstimmiges gemischtes Vokalensemble

Das Hausmädchen — Hoher Sopran im Chor

Die Tote Mutter — Alt im Chor

Der Hausarzt — Baß im Chor

Ein Diener — Tenor im Chor

Ort der Handlung

Ein Landhaus im neogotischen Stil

Vor den Fenstern der Park von Arnheim

Gegebenenfalls kann die Handlung auf mehrere Schauplätze verteilt werden, wie etwa:

Landschaftspark, Bibliothekszimmer, Schreibstube, Friedhof usw.

Erster Akt

1. Szene

CHOR DER FAMILIENGEISTER

Mannigfaltig ist alles Elend.

Vielerlei Formen kennt irdische Not.

Den Horizont übersteigend, den weiten,

In Farben des Regenbogens spielt sie,

Dem Himmel gleich, dem fernen Gewölb —

Deutlich sichtbar wie dieses, zuinnerst

Mit feinsten Schatten vermischt.

Den Horizont übersteigend, den weiten,

Ganz wie der Regenbogen! Wie kam es,

Daß vom Schönen nur das Abscheuliche blieb?

Ein Gleichnis des Elends nur

Von dem, was einst Frieden verhieß?

Quälgeist Erinnerung: entweder rückt er

Als dauernder Schmerz uns zuleibe

Oder es hat, was als Todesangst bleibt,

Mit den Ekstasen begonnen,

Die es dereinst vielleicht gab.

2. Szene

EGAEUS

Egaeus, so bin ich getauft. Mein Familienname? Vergeßt ihn.

Im ganzen Land steht kein zweites Gemäuer, so alt,

So erhaben wie dies graue, düstere Stammhaus der Unsern.

Ein Geschlecht von Phantasten hat man die Sippe genannt.

Der Indizien sind übergenug, die den Steckbrief bestätigen —

Einzelheiten, die für sich sprechen — der lokale Charakter allein

Des Familiensitzes — im Festsaal die Fresken — die Gobelins

In den Schlafgemächern — die Steinmetzkunst mancher der Pfeiler

In der Waffenkammer — und jene Aura erst unserer Galerie

Mit den Werken der Alten Meister — die Manier der Bibliothek,

Höchst absonderlich, was ihren Bücherbestand angeht —

Gedenk ich der Kindheit, sehe ich diesen Raum —

Sehe die Bücherwände … Doch still jetzt, kein Wort mehr.

Hier starb meine Mutter.

3. Szene

ECHO

… starb meine Mutter.

EGAEUS

Hier kam ich zur Welt.

ECHO

… kam ich zur Welt.

EGAEUS

(Lauscht dem Echo nach. Singt:)

»Anima mia, Jahrtausende wandernd,

In wie vielen Körpern schon hast du gelebt?«

Nur Trägheit bestreitet der Seele ihr früheres Leben. Aus Trägheit

Vergessen die Menschen, wie oft sie gelebt.

ECHO

… oft sie gelebt.

EGAEUS

Ihr zweifelt? — Was solls, wir wollen nicht streiten.

Selbst überzeugt, muß ich nicht überzeugen. Mir reicht

Mein Gedächtnis. Ich weiß von ätherischen Wesen — von Augen,

Absolut ausdrucksvoll — von Klängen, traurig und schön zugleich.

Es gibt ein Erinnern, das keiner je abstreift. Es gibt ein Gemüt,

Dem Schatten gleich — wechselhaft, unbestimmt, flüchtig und vage.

Und wie einen Schatten wirst du es niemals mehr los,

Solange Vernunft dich, die eigene Sonne, bescheint.

In jenem Zimmer kam ich zur Welt.

Aufgetaucht aus Jahrtausenden Nacht,

Die uns scheint wie das Nichts und ist doch das Immer,

Verschlug es mich in ein Zauberreich eines schönen Tags,

In die wilden Domänen klösterlicher Gelehrsamkeit.

Kein Wunder, daß ich mich staunend umsah,

Die Augen weit aufgerissen, im Palast der Vorstellungskraft.

Daß die Knabenzeit mir über den Büchern verging,

Vergeudet mit Träumen, die Jugend. Das Wunder

War dies: daß die Jahre vorbeimarschierten, und ich

Saß noch immer im Vaterhaus, ein erwachsener Mann.

Seltsam auch dies: daß der Quell meines Lebens

Mit einem Mal stockte und stillstand.

Erstaunlich, wie in den einfachsten Alltagsfragen

Alles ins Gegenteil umschlug, seitenverkehrt.

Das Reale der Welt, als Vision übermannte es mich,

Und war nur mehr Vision. Wie ausgetauscht war,

Was in wilden Träumen mir zustieß. Was einmal Stoff,

Bloßer Stoff war fürs Leben, war nun das Leben selbst.

4. Szene

EGAEUS (DER SÄNGER), BERENICE

Duett »Ballade von den Geschwisterkindern«

EGAEUS

Berenice und ich warn Gespielen,

Cousin und Cousine, vom selben Stamm.

Von früh an erwählt unter vielen,

Im Haus meines Vaters zusammen.

EGAEUS

Selten warn zwei so verschieden wie wir.

Der Kränkliche ich, ein düsterer Junge.

Sie überschäumend, das muntere Tier,

Voll Anmut, stets auf dem Sprung.

EGAEUS

Ihrs war am Berghang das wilde Streifen,

Meins das Studieren in mönchischer Klause.

Ich saß versunken, verliebt ins Begreifen.

War in uralten Folianten zu Haus.

EGAEUS

So strahlend schön, kaum von dieser Welt.

O Sylphe verborgen in Arnheims Hecken!

Du Nymphe am Springbrunnen dort, am Quell!

Und plötzlich — war da nur Rätsel und Schrecken:

Ein Schauermärchen, und kein Wort beschreibts.

Ein Übel, unheimlich, hielt sie umkreist.

Wie Sandsturm durchfuhr es den zarten Leib.

Die Wandlung, ich sah sie. Ein böser Geist,

BERENICE

Der machte mich Arme zuschanden.

EGAEUS

Er raubte die Anmut dem holden Ding,

Verwirrte den Geist ihr: jetzt war sie die Andre.

BERENICE

Der grausame Räuber — er kam und er ging.

CHOR

Und das Opfer? Wo blieb sie, seit er sie ließ?

EGAEUS

Ich hab sie gekannt kaum. Und die ich da sah,

Das war nicht mehr sie, nicht sie — Berenice!

5. Szene

DER HAUSARZT

In der endlosen Folge von Gebrechen, ausgelöst von jener allerersten

Verhängnisvollen Krankheit, die einen so furchtbaren Wandel,

Seelisch wie körperlich, im Zustand seiner Cousine bewirkte,

Sei als besonders bösartig und zermürbend erwähnt eine Art Epilepsie.

Jene Fallsucht, die mitunter zu völliger Trance führte — einer Trance,

Die fast einer Selbstauflösung glich. Doch jedesmal,

Mit bestürzender Plötzlichkeit erwachte sie wieder.

6. Szene

Auftritt Edgar Allan Poe — ein Mann von zarter Statur, wie ihn die Photographien zeigen. Er ist vor allem nervös. Ihm folgt der Vamp — ein laszives Wesen von einiger Übergröße.

EDGAR ALLAN POE

Baltimore ist eine so scheußliche Stadt, besonders nachts. Wer als Dichter

Verdammt ist, in so einer Stadt zu leben, der braucht keine Feinde.

Der Horror ist ihm ein treuer Begleiter.

»Der Terror, von dem ich schreibe, kommt nicht aus Deutschland —

Es ist ein Terror der Seele.«

DER VAMP

(Äfft ihn nach:)

»Es ist ein Terror der Seele …«

EDGAR ALLAN POE

Wer bist du? Es kommt mir bekannt vor, dein langes Gesicht.

DER VAMP

Ich bin, der sich nachts an die Bettkante schleicht — dein Phantom.

Dein Körper weiß mehr von mir als dein Gehirn.

EDGAR ALLAN POE

Hinweg, du Gespenst der Novelle.

DER VAMP

(Lacht schallend:)

Wies beliebt, auf der Stelle.

Beide ab.

7. Szene

EGAEUS

Unterdessen nahm meine eigene Krankheit — denn keine andere

Bezeichnung verdiente mein Zustand — nahm meine eigene Krankheit

Rasch ihren Lauf. Schließlich wuchs sie sich aus zu einer seltenen

Form der Monomanie — die mit jeder Stunde,

Jedem Augenblick heftiger wurde — bis sie zuletzt

Völlig die Herrschaft gewann über mich. Jene Monomanie,

Wie die Ärzte sie nannten, zeigte sich in einer morbiden

Reizbarkeit jener Teile des Hirns, die in der Sprache der Metaphysik

Die rezeptiven heißen. Ich sehe ein, es ist nicht leicht, mir zu folgen.

Ja, ich fürchte, er übersteigt euern gewöhnlichen Verstand,

Mein Versuch, einen Eindruck zu geben von jenem nervösen,

Gesteigerten Interesse, mit dem mein Bewußtsein sich

In sich selbst verstrickte —

In Betrachtung der allerbanalsten Dinge.

EGAEUS (DER SÄNGER)

Müßig für Stunden, stundenlang brütend,

Saß ich verzaubert von Ornamenten

Am Rand alter Bücher, von Typographien —

Ganze Sommer an Wandteppich-Blüten

Und Muster in dunkler Klause verschwendend.

Am Lampenschirm Schatten vorüberziehn

Sah ich des Nachts, über schwelender Asche

Mich selber verlierend. Die Tage vergingen

Vom Duft einer Blume. Ein Wort, irgendeins,

Oft wiederholt ichs, den Sinn zu erhaschen,

Bis nichts von ihm übrigblieb als ein Klingen.

So fern in Gedanken, so ganz mit mir eins,

Vergaß ich das Dasein, reglos das Sein.

Betäubt war mein Körper, der Wille stand still.

DER HAUSARZT

Solcherart waren die harmlosesten noch, die geringeren Launen,

Bewirkt durch einen Geisteszustand, der sich, wenn auch nicht beispiellos,

Doch jeder Erklärung und Analyse entzog.

EGAEUS

Versteht mich recht: diese überaus ernste und unverhältnismäßige,

Pathologische Fixiertheit auf Dinge, die ihrer Natur nach ganz nichtig sind,

Darf nicht verwechselt werden mit jener Veranlagung zur Grübelei,

Die allen Menschen gemeinsam ist — der sich besonders Personen

Mit glühender Phantasie gern überlassen. Denn dies war nicht etwa,

Wie man meinen möchte, nur die extreme Variante eines gewissen Spleens,

Vielmehr nach Herkunft und Wesen ein ganz eignes Symptom.

Alle ab.

Zweiter Akt

8. Szene

DER VAMP

»Wenn in ungeheuren Streifen die Regen rinnen,

Gitterstäben gleich eines riesigen Kerkers,

Und ein stummes Volk widerwärtiger Spinnen

Die Hirne mit Netzen umstrickend, uns ärgert …«

EDGAR ALLAN POE

Wer singt da? Allzu bekannt vor kommt mir dieser Ton.

DER VAMP

(Stellt sich hinter ihn.)

Du kennst mich.

EDGAR ALLAN POE

Wer bist du?

DER VAMP

Ich bin dein Vampir.

EDGAR ALLAN POE

Was willst du?

DER VAMP

Ich saug dir die Adern aus durchs Papier.

Beide ab.

9. Szene

EGAEUS

Der gewöhnliche Fall ist: der Träumer, der sein Objekt der Begierde,

Das keineswegs nichtig ist, mit der Zeit aus den Augen verliert.

Er verirrt sich im Dschungel der Deduktionen und Suggestionen —

Sein Tagtraum de luxe hilft ihm schließlich begreifen,

Daß der Grund seiner Träume, das incitamentum, wie man so sagt,

Überm Träumen verlorenging. — Ganz anders mein Fall:

Hier war das Objekt ein für allemal völlig banal.

ECHO

»… völlig banal, ein für allemal.«

EGAEUS

Völlig irreal!

ECHO

»… irreal, real.«

EGAEUS

Die gestörte Phantasie allein legte jederlei wirre Bedeutung hinein.

Niemals war mir, was ich da sah, irgendwie angenehm. Und am Ende

Des Tagtraums hatte der Anlaß, anstatt verschwunden zu sein,

Ein gesteigertes Interesse entfacht — und dies war, dies war

Das Übel schlechthin meiner Krankheit. Mit einem Wort: jene Kräfte,

Die wirksam wurden in meinem Bewußtsein, sie waren,

Noch einmal sei es gesagt, rein rezeptiv

ECHO

»… rezeptiv.«

EGAEUS

Im Falle des Tagträumers aber sind dieselben wesentlich spekulativ.

ECHO

»… spekulativ.«

EGAEUS

(Lauscht wieder dem Echo nach. Elegisch:)

So viele Bücher umgaben mich …

Vielleicht warn die Bücher ja mein Symptom.

Morbus litteris. — Die Krankheit Lesen …

DIE TOTE MUTTER

Ach, es waren die Bücher. Sie erst entfachten

Die Krankheit in seinem Hirn. Sie allein,

All diese Schmöker, so phantastisch und wirr,

Warn der Grund seines furchtbaren Leidens.

Mein Sohn, wer außer ihm dort las denn Latein?

Von verschiedenen Seiten her auftretend.

10. Szene

BERENICE, DAS HAUSMÄDCHEN

Duett »Von den allesverschlingenden Büchern«

DAS HAUSMÄDCHEN

Ach, er las, Tag und Nacht. Buch um Buch.

Tief gesenkt seine Stirn. Gott, was sucht,

Ja, was sucht er da nur, unser junger Herr?

Dacht ich still, und das Herz war mir schwer.

BERENICE UND DAS HAUSMÄDCHEN

Gott, was suchte, was suchte er nur im Papier?

DAS HAUSMÄDCHEN

Verzeihung, Ihr habt mich gerufen?

BERENICE

Ich dachte schon, du bist taub.

DAS HAUSMÄDCHEN

So jung noch und schon so streng.

BERENICE

Mimose du, tu bloß nicht so.

DAS HAUSMÄDCHEN

Meint Ihr nicht, Ihr seid etwas launisch

Für eine Tochter aus gutem Haus?

Egaeus, Egaeus, immer nur sprichst du

Von ihm, wie im Märchen das Schwesterchen,

Das da bangt um sein Brüderchen. Der Ärmste:

Die böse Hexe verwandelt ihn in ein Reh.

Bind doch dein goldenes Strumpfband ab

Und leg es ihm um den Hals.

BERENICE

Etwa eifersüchtig, du kleines Luder?

DAS HAUSMÄDCHEN

Eifersüchtig auf wen?

Beide prusten laut los.

Komm, wir singen.

BERENICE

Ach, und was er da las. Demokrit, Augustin.

Immerfort ging das so. Platon her, Plotin hin.

»Gottes Staat«, »Christi Fleisch« — wie gelehrt

Er doch war, und die Lider so schwer.

BERENICE UND DAS HAUSMÄDCHEN

Gott, was suchte, was suchte er nur im Papier?

DAS HAUSMÄDCHEN

Ganz entrückt saß er da. Jeder morsche Foliant

Galt ihm mehr als ein Mensch. Kaum gekannt

Hat er uns, die sich sorgten um ihn.

Ich war Luft, hab ihm lautlos gedient.

BERENICE

Von wegen Reh. Brüderchen und Schwesterchen:

Nicht er, der Bücherwurm — ich bin das Reh.

DAS HAUSMÄDCHEN

Du bist das Wild, das hinaus will zur Jagd

Und heimkommt, verwundet und blutend.

BERENICE

Wir beide bluten. Ich und du, meine Liebe.

DAS HAUSMÄDCHEN

Blutjung, ja wir bluten. Ach, welche Schweinerei.

BERENICE

Und mein Haar, meine Schultern, mein Kleid:

All das stahl ihm nur kostbare Zeit.

Egaeus, mein Bruder, nie sah er mich an.

Mich, das Mädchen, die Frau — er, der Mann.

DAS HAUSMÄDCHEN

Du weißt, wie es endet das Märchen, nicht wahr?

»Nun komm ich noch diesmal, dann nimmermehr.«

Sie treten ab nach verschiedenen Seiten.

11. Szene

EGAEUS

Gewiß nahm ihr Leiden mich mit. In den hellen Momenten

Meiner geistigen Krise, wenn mir die tiefe Zerrüttung

Ihres heiteren Lebens zu Herzen ging, saß ich tief verstört

In bitterem Sinnen, und wußte nicht aus noch ein. Wie geschah es,

Daß sie so rasch sich verändert hatte? — Seltsam nur,

Derlei Betrachtungen hatten nichts mit meiner Exzentrik zu tun.

Was mich wirklich krank machte, wirklich verstörte, war dies:

Daß ihr Äußres verfiel. Kaum noch erkannt ich in ihr — Berenice.

12. Szene

Auftritt Edgar Allan Poe. Der Vamp.

EDGAR ALLAN POE