Widmung

Für ein spannendes
Lesevergnügen.

Die Handlung und alle handelnden Personen
sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit
lebenden oder realen Personen ist
rein zufällig.

Martina Stubenschrott

family troubles

Familienprobleme

Band 2

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Die Palmen bogen sich sachte im Wind. Der Himmel war azurblau. Alicia starrte aus dem Fenster. Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass sie in einem Hörsaal der California State University in Los Angeles saß und tatsächlich studierte. Die Lehrveranstaltung, die sie gerade eben besuchte, interessierte sie leider nicht die Bohne. Der Professor trug vor wie eine Schlaftablette. Die massenhaften Folien ratterte er im Schnelldurchgang herunter, als ob er einen Preis fürs monotone Vorlesen bekommen würde. Wenn nicht mandatory attendance – Anwesenheitspflicht – wäre, würde sie ihre Zeit anders nutzen. Am Strand sitzen und die Wellen beobachten, zum Beispiel. Aber die weniger anregenden Fächer gehörten eben auch dazu, wenn sie das Studium durchziehen wollte.

Sie dachte zurück an ihre Schulzeit. Zum Glück hatte sie das Lycée in Paris mit Schwerpunkt Wirtschaft und Sozialwissenschaften beendet. Hauptsächlich war das einer engagierten Lehrerin zu verdanken, die nicht lockerließ in dem Bestreben ihr zu einem Abschluss zu verhelfen. Zu jener Zeit erschien ihr die Schule pointless und insensé, da sie ohnehin nie eine Chance haben würde auf gut bezahlte Jobs in seriösen Unternehmen. Wer stellte schon „an orphan“, ein Waisenkind, mit dubioser Vergangenheit ein? Sie war sich sicher gewesen, dass sich ihr Leben in Nachtlokalen und im geschickten Manövrieren im Untergrund abspielen würde. Madame Blanc hatte sich jedoch bei den anderen Lehrkräften für sie eingesetzt und hartnäckig den persönlichen Kontakt gesucht. Sie war überzeugt davon gewesen, dass ihre eigenwillige Schülerin talentiert sei. Der Abschluss würde ihr eine echte Chance auf Wohlstand ermöglichen, hatte sie gefaselt. Wenn Alicia ehrlich war, hatte sie die graduation der Lehrerin zuliebe hingebogen. Und um ihre Freundin Zoe nicht allein zu lassen. Wozu sollte ein Schulabschluss gut sein, wenn sie im dark business tätig war? Bis vor zwei Jahren lebte sie nach dem Motto: „Take it or leave it“, friss oder stirb. Die Kindheit war ihr früh abhanden gekommen. Sehr früh.

Madame Blanc ließ sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen, sodass Alicia sich schließlich tatsächlich hinsetzte und lernte, zumal sie eine schnelle Auffassungsgabe hatte. Zoe kostete es einiges mehr an Arbeit das Lycée zu beenden. Aufgrund ihrer beider zahlreichen Fehlstunden waren ihnen einige Unterrichtseinheiten entgangen. Ihre Lehrerin hatte ihnen Nachhilfeunterricht angeboten und sie bei den Vorbereitungen unterstützt. Wenn es Engel auf Erden gab, dann war Madame Blanc einer von ihnen. Die Lehrkräfte, die Alicia weniger wohlgesonnen waren, räumten ihr aufgrund der ausdauernden Interventionen der Französischlehrerin eine letzte Chance ein. Diese nutzte sie. Jahre später ermöglichte Alicia der Abschluss am Lycée den Anschluss auf der Cal State LA.

Vor einiger Zeit hatte sie sich für den Studiengang „Business Administration Entrepreneurship“ eingeschrieben. Die Formalitäten zu klären war aufwendig gewesen. Zuerst schien unklar, ob ihre Voraussetzungen ausreichten. Nun befand sie sich mitten im Studium. Wahrscheinlich würde sie etwas länger brauchen als die vorgesehene Zeit. Die Lebensjahre, die sie den anderen students voraushatte, waren jedoch ihr Vorteil. Sie wusste was sie wollte. Sie sog alles Neue in sich auf und erledigte, was zu tun war. Meistens jedenfalls.

Ihre Geschäftspartnerin und beste Freundin Zoe vertrat sie in ihrem Club „Gepard“, wenn sie aufgrund der Uni viel um die Ohren hatte. Das business lag Alicia sehr am Herzen. Nur aufgrund Zoes verlässlicher und fähiger Arbeit war es ihr möglich, die Wochentage in Ruhe ihrem Studium zu widmen. Dafür war sie Zoe sehr dankbar.

Alicia überkam die Erinnerung, als sie das erste Mal einen Fuß nach LA gesetzt hatte. Damals, vor etwa zwei Jahren, lernte sie Teile ihrer „blood family“ kennen. Das veränderte ihr Leben komplett. Der Traum vom eigenen nightclub hatte sich wahrhaftig vor ihren Augen manifestiert. Dank ihrer geschickten Interventionen und der großzügigen Erbschaft. Seit sie umgeben von ihren amis et famille war, spürte sie, wie sich ihr Innerstes öffnete. Es war nicht mehr notwendig, ihre gewagten Träume unter Verschluss zu halten. Diese waren nicht länger verrückt, sondern möglich. Es lag einzig und allein an ihr, sie umzusetzen.

Auch in Sachen Männer war ihr Leben so stabil wie noch nie. Seit etwa zwei Jahren war sie mit Kaleb zusammen. Die Beziehung gab ihr Halt. Ihr Freund hatte sich gemeinsam mit ihrem Vater Adam selbstständig gemacht und eine Personenschutzfirma gegründet. Kaleb liebte seine Arbeit, obwohl sie sich deswegen selten sahen. Meistens waren sie morgens in Eile und abends fielen sie müde ins Bett. Den Sonntag versuchten sie sich füreinander freizuhalten, was mehr oder weniger gut funktionierte.

Alicias Leben hatte sich mit dem Trip nach LA vollkommen verändert. Von einem Tag auf den anderen war sie plötzlich Teil einer großen Familie gewesen. Das hatte sie dazu bewogen, sesshaft zu werden. Sie pflegte immer noch ein herzliches Verhältnis zu ihrem Cousin Tyler, dem sie damals eine Niere gespendet hatte. Er war ein nerd, ein Computerfreak und hatte vollkommen zu Recht ein Leistungsstipendium erhalten. Sie lächelte. Er könnte ihr kleiner Bruder sein. Es gab eine Zeit, wo Tyler täglich bei ihr vorbeigekommen war, um mit ihr zu quatschen und gemeinsam zu essen. Jetzt hörten sie sich zumindest zweimal im Monat über telegram oder altmodisch übers Handy.

Das traditionelle Familiendinner, auf das ihr verstorbener Großvater Zacchary Coleman so viel Wert gelegt hatte, behielten sie auf etwas andere Weise bei. Einmal im Monat trafen sie sich entweder bei Alicia oder aber Anthonys Villa oder Ethans Haus. Anthony und Ethan waren die Brüder ihrer verstorbenen Mutter Beatrice Coleman. Alicia war selbst erstaunt über das enge Verhältnis, das sich relativ rasch entwickelt hatte. Anthony war wie ein guter Freund und großer Bruder für sie. Er war ihr von Anfang mit Wohlwollen, Freundlichkeit und Offenheit begegnet. Trotz der 10 Jahre Altersunterschied verstanden sie sich sehr gut.

Ethan war Mitte 40 und gänzlich anders. Steif und manchmal etwas elitär, von oben herab. Seine bevormundende Art erinnerte sie an ihren Granddad. Ethan hatte wohl am meisten unter dessen Einfluss gestanden. Der Tod von Zacchary hatte ihm jedoch endlich ermöglicht, aus dem family business auszusteigen. Jahrelang hatte er als die rechte Hand ihres Granddads fungiert. Da Ethan damals die Hauptverantwortung trug, war seine Zeit dem legalen und mehr noch dem illegalen business der Familie gewidmet gewesen. Jetzt studierte er Rechtswissenschaften und war sozusagen ihr Kommilitone. Die juristische Absicherung war immer schon Teil seines Jobs gewesen, jedoch hatten die Colemans bisher horrende Summen an lawyers bezahlt, da sie auch noch deren Schweigen miteinkalkulieren mussten, wie er Alicia einmal im Vertrauen erzählte.

Anthony, der lange als „no good“ und black sheep der Familie galt, übernahm zum Erstaunen der anderen erfolgreich die operative Führung der Geschäfte. Wie Alicia es geahnt hatte, besaß er Talent fürs big business. Sie war jedoch froh, dass ihr Vater und ihr Freund aus der Coleman Company ausgestiegen waren. Die Verwicklungen waren zu persönlich und von bösem Blut gewesen. Adam wie auch Kaleb freuten sich über die Freiheit selbst zu gestalten und ihr eigener Boss zu sein.

Alicia strich sich eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht und lächelte. Die Stimme des Lehrenden rauschte an ihr vorbei. Wer hätte gedacht, dass sie einmal ein Haus am Meer besitzen würde? Sie nutzte ihre casa in Venice als Büro für all ihre Tätigkeiten. Zum Leidwesen von Kaleb verstreute sie ihre Unterlagen und Lernutensilien überall. Sie genoss es, umgeben von Besitz zu sein und erfreute sich an den kleinen Dingen. Einem teuren, gut in der Hand liegenden Kugelschreiber zum Beispiel, der wie von selbst über die Seiten glitt. Oder aber buntes, schönes Papier. So etwas hatte sie als Kind nie besessen. Sie liebte diesen Krimskrams.

Ihr boyfriend hingegen war ordentlich und minimalistisch. Er verfügte über einen eigenen Arbeitsraum im Haus, obwohl er diesen kaum benutzte. Die Unterlagen ließ er im Büro, was verständlich war. Personenschutz war untrennbar verbunden mit Vertraulichkeit und Verschwiegenheit. Der Startup war gut angelaufen. Ihr Vater und Kaleb waren bereits auf ein ansehnliches kleines Unternehmen gewachsen. Adam hatte ein paar Leute aus den Zeiten von Zacchary mitgenommen. Zu denen zählten die Leibwächter Lois und Miguel, die Alicia in der Vergangenheit des Öfteren hilfreich zur Seite gestanden hatten.

Alicias Gedanken glitten aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Heute war Freitag. Sie freute sich auf das Wochenende. Sie würde seit langem wieder einmal eine Tanzshow persönlich übernehmen. Das war nicht notwendig, aber es reizte sie. Es war ihr wichtig, im Club Präsenz zu zeigen und in Persona erreichbar zu sein, um mitzubekommen, was im Gepard ablief. Jeden Donnerstagnachmittag traf sie sich mit Zoe zu einem Jourfix, um Entscheidungen gemeinsam abzustimmen. Der Club war donnerstags, freitags und samstags geöffnet und gut frequentiert. Er war mittlerweile zu einem Geheimtipp geworden. Alicia hatte ihr Angebot um eine feine, kleine Speisekarte ergänzt und ihr Tanzspektrum um männliche Tänzer erweitert, die donnerstags eine heiße Showeinlage hinlegten. Dieser Wochentag war seitdem ein hotspot. Der Club wurde aufgrund des speziellen offers zu einem besonderen Anziehungspunkt für gay people.

Alicia verfügte über Talent zu erkennen, was die Menschen brauchten und setzte dies in ausgezeichneter Qualität um. Sie achtete auf gut qualifiziertes Personal, das sie auch dementsprechend bezahlte. Ihre Leute erschienen gern zur Arbeit. Die Kommunikation war locker und entspannt. Die gute Atmosphäre im Team trug ihren Teil dazu bei, dass sich die Gäste wohlfühlten. Konflikte wurden rasch und ohne viel Aufsehen geregelt. Schläger oder Typen, die sich daneben benahmen, bekamen Hausverbot.

The excellent offer verschaffte dem Club einen guten Ruf. Alicia war stolz auf ihr Werk und auf das Leben, das sie führte.

Endlich war die Lehrstunde zu Ende. Merci dieu, selbst wenn sie die Stimme der Schlaftablette nur als Hintergrundlärm wahrnahm, war sie nervig.

„Hi, lernen wir am Wochenende gemeinsam für die Prüfung?“ fragte Miriam.

„Was…? Es tut mir leid, ich bin mit Arbeit eingedeckt“, gab Alicia zerstreut zurück. Sie brauchte einen Augenblick, um sich auf Miriam zu konzentrieren. „Aber wir können nächste Woche am Mittwoch nach der Uni zwei Stunden anhängen, wenn du magst.“

Miriam strahlte und nickte. Alicia verabschiedete sich von ihrer Studienkollegin. Es war gut, eine Freundin an der Uni zu haben. Sie selbst lernte leicht und gab ihr Wissen bereitwillig weiter. Miriam hingegen war gewissenhaft anwesend und half ihr aus, wenn sie mal die eine oder andere Einheit versäumte. Alte Gewohnheiten schlichen sich doch immer wieder ein.

Alicia packte ihre Unterlagen ohne Eile zusammen und schlenderte langsam nach draußen zum Parkplatz, um sich mit ihrem Ford Ranger in den dichten Verkehr einzufädeln. Auch wenn sie manche Studienfächer nicht gerade fesselten, sie war durch die Ausbildung in der Lage, ihren Club besser zu führen. Sie nutzte steuerliche Vorteile und Schlupflöcher, tat sich leichter, zu planen, ein realistisches Budget zu erstellen und intelligent Marketing zu betreiben. Die Inputs, die sie in Kommunikation und Führung erhielt, halfen ihr im Umgang mit schwierigen Geschäftsleuten. Und die Kontakte und Netzwerke, die sie durch die Uni knüpfte, würden sich früher oder später als nützlich erweisen. Das Studium eröffnete neue Perspektiven und unterstützte sie bei der Umsetzung ihres businessplans, der die nächsten Jahre umfasste. Wer keine Vision in die Zukunft entwickelte, blieb nicht lange in der Geschäftswelt bestehen.

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„Bonsoir mesdames et messieurs, profitez du spectacle!“ begrüßte Alicia ihr Publikum mit sanfter, einladender Stimme. Sie trug sexy boots, Netzstrümpfe, schwarze Hotpants und eine schwarze Corsage. Zoe stand in einem weißen Nichts aus Seide neben ihr, welches ihre üppigen, weichen Rundungen zur Geltung brachte. Die Stimmung im Club war aufgeheizt. Viele klatschten, einige pfiffen – dann begann die Show.

Sie bewegten sich zur Musik, lasziv und verführend, tauschten Berührungen und Küsse aus – wie sie es früher schon so oft getan hatten. Alicia genoss jeden Augenblick und bewegte ihren Körper sinnlich und mit Freude. Es gefiel ihr, ihre Reize bewusst einzusetzen, ein gewagtes Spiel mit Zoe zu betreiben und in den Köpfen des Publikums Fantasien auszulösen. Es war Ewigkeiten her, seit sie das letzte Mal auf der Bühne gestanden hatte. Das Tanzen lag ihr im Blut. Mit dieser Tätigkeit und anderen kleinen deals hatte sie früher die Kohle rangeschafft.

Die Show endete unter tosendem Applaus. Alicia ging sich gemächlich umziehen und wechselte dort und da ein paar Worte mit ihren Angestellten. Als sie die Garderobe verließ, entdeckte sie Kaleb am zweiten Floor. Sie schritt beschwingt und mit einem Lächeln auf den Lippen auf die kleine Runde zu, um ihren Freund und sein Team zu begrüßen.

Er schien nicht gerade bester Laune zu sein. Sie betrachtete sein kantiges Gesicht, dass durch die kurzen, schwarzen stoppeligen Haare und den Dreitagesbart düster und gefährlich wirkte. Seine Augen funkelten, der verschlossene Mund und die angespannte Körperhaltung sprachen Bände.

„¿Puedo hablar contigo por un momento?“, fragte er gereizt. Alicia nickte und wunderte sich, welche Laus ihm über die Leber gelaufen war. Als sie zu ihrem Büro gingen, erinnerte sie sich an die Szene vor gut zwei Jahren, als Kaleb und sie sich noch kaum kannten und in dem office übereinander hergefallen waren. Sie waren so gierig gewesen. Er hatte sie durch seine Küsse wissen lassen, dass er sie mit Haut und Haar wollte. Sie dachte gern an den leidenschaftlichen Sex, zu unpassender Zeit an unpassenden Orten zurück. Ihr Verstand hatte sich manchmal verabschiedet und sie dazu veranlasst, es auf der Stelle zu treiben. Alicia lächelte, schloss die Bürotür hinter sich, sodass die Musik nur mehr gedämpft zu hören war, legte ihre Arme um ihn und wollte ihn küssen. Er wehrte sie verärgert ab.

„Ok, what’s up?“, fragte sie irritiert.

„Muss das sein, dass du auf der Bühne tanzt? In dem Outfit?“

„Was?“ Sie sah ihn ungläubig an und spürte, wie sich in ihrem Inneren jede Menge Energie zusammenbraute.

„Meine Jungs starren dich an. Ich mag das nicht.“

„Spinnst du jetzt komplett?“, fuhr sie ihn an. Sex war für heute gestorben. Sie mochte es nicht, wenn er versuchte, sie zu domestizieren, sie zu seinem braven und sittsamen Weibchen zu machen. Sie verstand ihn nicht. Er hatte sie wild und ohne gekünstelte, gesellschaftliche Maske kennengelernt. Wie kam er auf die Idee, sie würde eine Seite ihres Seins ihm zuliebe unterdrücken oder gar negieren. So etwas würde sie niemals von ihm verlangen.

„Ich will, dass sie dich nicht anstarren, als wärst du eine Hure. Was ist daran verkehrt?“ insistierte er.

„Alles“, erwiderte sie und ließ ihn stehen. Was sollte sie auf diesen Schwachsinn auch sagen. Sie ließ sich von ihm nicht vorschreiben, was sie anzuziehen hatte oder was sie tat. Dazu würde es nie kommen. Es war gerade das Wilde in ihm, dass sie zu ihm hingezogen hatte. Wenn er das Wilde in ihr nicht akzeptierte und jetzt anfing, einer dieser Machos zu werden, die eine Vorzeigefrau wollten, dann würde er sich eine Andere suchen müssen.

Alicia kochte vor Wut. Sie schaffte es gerade noch einigermaßen, ihre Angelegenheiten im Club zu delegieren. Dann gab sie ihrer Leibwächterin Michelle frei und fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Venice. Sie wusste, dass Kaleb das ärgern würde. Meistens hatte sie einen Chauffeur oder sie fuhr selbst. In LA war kaum jemand zu Fuß unterwegs. Sie war mittlerweile schon ziemlich daran gewöhnt. Aber heute war ihr danach, anders zu handeln als üblicherweise. Sie verweilte an einem kleinen Imbiss, um ein Bier zu trinken und einen Burrito zu essen.

Am liebsten würde sie gar nicht heimkommen, einfach, um ihn wütend zu machen. Er musste nicht immer wissen, wo sie war. Andererseits war das kindisch. Sie seufzte und beschloss, das letzte Stück zu Fuß zu laufen. Das würde ihr helfen, den Ärger etwas verrauchen zu lassen.

Kaleb stand mit einem Bier in der Hand auf der Veranda und wartete bereits auf sie. „¿Fuiste a pie?“, fragte er anklagend anstatt sie zu begrüßen. Alicia antwortete nicht. Er war schon wieder da, der vorwurfsvolle Ton. Er wusste, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn er Rechenschaft über ihren Tag verlangte. Sie fragte ihn solche Dinge nie. Weder wer seine Kunden waren, noch, was genau er getan hatte und schon gar nicht, ob er zu Fuß gegangen war. Das lag zum Teil an seinem Job. Aber es war mehr als das. Es war nicht ihre Art, ihn wegen seiner Lebensweise zu kritisieren.

Alicia ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Er folgte ihr. Gerade jetzt hatte sie keine Lust auf ihn. Sie wollte allein sein und drehte das Wasser abrupt ab. Es passte ihr nicht, dass er sie nackt anstarrte. Ein Handtuch um ihren Körper gewickelt, ging sie ins Schlafzimmer, zog rasch einen Slip an und streifte ein schwarzes Shirt über. Er war ihr wieder nachgegangen und fragte in diesem Ton, bei dem sie sofort grantig wurde.

„¿Qué te pasa? Im Haus schaut es aus, als ob ladrones hier gewesen wären. Dein Zeug ist überall verteilt. Und plötzlich gehst du wieder zu Fuß nach Hause. Ich dachte, das Thema hätten wir hinreichend durch. Du weißt, dass es gefährlich ist.“

Alicia hasste es, wenn er Dinge miteinander vermischte. Das eine hatte mit dem anderen rein gar nichts zu tun. Außerdem war Los Angeles keine gefährliche city. Und im Übrigen würde sie sich sicher nicht rechtfertigen wegen ihres Lernstils.

„Ich wollte heute mis amigos zu uns nach Hause einladen und ich konnte sie nicht einmal hereinbitten. Überall liegt dein Zeug.“

„Das hast du schon gesagt“, gab Alicia knapp zurück. „Es ist mein Haus und ich lass mein Zeug liegen, wo ich will.“

Er erstarrte. Sie atmete tief durch. Sie wusste, das hätte sie nicht sagen sollen. Das Haus war von ihrem Geld gekauft, aber es war ihr gemeinsames Zuhause. Sie hatten es zusammen eingerichtet und er trug ebenso zum Lebensunterhalt bei wie sie. Sie würde niemals einen Mann aufgrund seines Geldes wählen. Deshalb war es ihr auch egal, dass sie mehr davon besaß als er. Sie war ohne Geld aufgewachsen und hatte erst vor zwei Jahren den Treuhandfond ihrer Mutter geerbt. Für sie war die Kohle bloß ein Stück Papier, das ihr ein paar Annehmlichkeiten ermöglichte. Sie war es gewohnt, selbst für ihr Einkommen zu sorgen und sich an die Umstände anzupassen. „Worum geht es dir eigentlich?“, hakte sie mit versöhnlicher Stimme nach.

Er schwieg.

„Ich werde nicht plötzlich zur Vorzeigefrau, nur weil du deinen Angestellten eine Dame präsentieren willst“, kam sie wieder auf das eigentliche Thema zurück.

„Ich will, dass sie dich respektieren.“

„Das tun sie und wenn nicht, dann wäre es mir auch egal.“ Sie hatte sich noch nie nach dem gerichtet, was andere über sie dachten. Und sie würde jetzt gewiss nicht damit anfangen.

Er schwieg wieder. Sie seufzte, ging einen Schritt auf ihn zu und meinte: „Ich habe etwas frische Luft gebraucht nach heute. Ehrlich gesagt habe ich gedacht, dass wir die Zeit für uns nutzen. Comme avant…“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm und wollte ihn mit sich ziehen. Er blieb unbewegt.

Das letzte Jahr war für beide sehr intensiv gewesen. Familiär hatte sich alles beruhigt, aber durch Alicias Studium und Kalebs Startup war wenig gemeinsame Zeit geblieben. Alicia vermisste die Gespräche, die Dates und den spontanen heißen Sex. Stattdessen war eine andere Art von Vertrautheit entstanden. Tagsüber sahen sie sich kaum, abends kuschelten sie miteinander und schliefen meistens rasch ein. Die Sonntage nutzten sie zum Relaxen, nichts tun und für Sex. Manchmal gingen sie gemeinsam Laufen, meistens trainierte Kaleb jedoch in der Firma im eigens dafür eingerichteten Fitnessraum.

„Ich bin jetzt ein seriöser Geschäftsmann und trage die Verantwortung für das business und meine Leute…“

„Ja und ich studiere an der Uni. Und trotzdem bin ich immer noch die, die du vor gut zwei Jahren kennengelernt hast.“

„Du willst diese Frau sein. Du willst dein altes Ich nicht loslassen.“

„Wenn du damit meinst, dass ich keine schicke Lady bin, dann hast du Recht. Ich will frei atmen und das tun, was mir gefällt und nicht das, was die Leute erwarten.“

Er schwieg wieder.

„Ich werde mein Zeug vom Wohnzimmer wegräumen und versuchen, mein Chaos auf mein Büro zu beschränken“, meinte sie, um ihm ein Friedensangebot anzubieten. Er antwortete nicht.

Ein leises Knarren unterbrach die Stille. Beide hatten es vernommen und verstummten augenblicklich. Ihre Arm- und Nackenhärchen stellten sich auf. Kaleb deutete mit einem Kopfnicken an, dass sie im Schlafzimmer bleiben solle und bewegte sich lautlos Richtung Eingang. Alicia hörte ein Klicken. Sie kannte das Geräusch. Jemand hatte eine Waffe schussbereit gemacht. Sie nahm die ciseaux, die auf der Kommode lag und schlich sich leise nach unten.

Kaleb stand zwei Männern gegenüber. Sie waren nicht vermummt. Demnach handelte es sich um einen gezielten „Besuch“. Die Männer redeten auf Spanisch. Alicia verstand jedes Wort. Entweder Kaleb würde den Job erledigen oder sie würden ihn auf der Stelle umlegen. Sie hatte keine Ahnung, um welchen „emploi“ es ging. Klar war nur, dass die Typen es ernst meinten. Kaleb hatte sein eigenes Geschäft aufgezogen, um auf ehrlichem Weg Geld zu verdienen. Mit Sicherheit bezog sich der Job auf etwas Schmutziges und Illegales.

Eine Holzdiele knarrte. Einer der beiden fremden hombres bemerkte Alicia und richtete seine Waffe auf sie. Kaleb reagierte lautlos und in einer fließenden Bewegung. Panthergleich. Ein Schuss löste sich, während er den Typ entwaffnete und die Pistole mit dem Fuß unter das Sofa kickte. Weiter kam er nicht, denn der zweite Mann hatte auch rasch reagiert und richtete seine Waffe direkt auf Kalebs Kopf. Die Szene gefror wie in einem Standbild. Aber nur kurz. Der andere Mann bewegte sich nun sehr schnell auf Alicia zu. Sie versuchte zu fliehen, aber er erwischte sie auf der Treppe, packte sie grob an den Haaren und riss sie nach hinten. Es tat scheißweh. Alicia schrie auf und stieß ihrem Angreifer die Schere in den Oberschenkel. Er jaulte wie ein Hund und ließ sie für den Bruchteil einer Sekunde los. Dieser Moment reichte Kaleb, um seinen Kontrahenten zu entwaffnen und den Spieß umzudrehen. Pattstellung.

„Déjala ir o tu amigo está muerto“, sagte Kaleb tonlos. Wenn der Typ sich nicht sofort von Alicia entfernte, dann würde er dessen Partner kaltmachen. Er meinte jedes Wort. Der Mann vor ihm spürte genau, dass Kaleb nicht zögern würde, seine Warnung umzusetzen und deutete seinem Kumpel, sich von Alicia zu entfernen. Kaleb begleitete die Eindringlinge mit geladener Waffe zur Tür und verschloss diese hinter den Männern.

Alicia blieb, wo sie war und hielt eine Hand auf ihren Oberarm gepresst. Mühsam stand sie auf. Ihre Kopfhaut schmerzte. Sie fühlte, wie warmes Blut aus ihrem Arm tropfte und stand noch etwas unter Schock.

„Du solltest doch im Schlafzimmer bleiben“, entfuhr es Kaleb gereizt.

„Du müsstest mich inzwischen besser kennen“, erwiderte Alicia ruhig.

Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er ging mit schnellen Schritten auf sie zu und fragte besorgt: „¿Estás herido?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist nur ein Streifschuss.“

Kaleb fluchte und holte Verbandszeug, um einen Druckverband anzulegen. Dann kontaktierte er den Arzt, den sie immer riefen, wenn es nicht möglich war, ins Krankenhaus zu fahren. Er konnte der Polizei nicht sagen, was hier lief. Damit würde er seinen und den Tod der Menschen besiegeln, die er liebte. Der Arzt war 30 Minuten später da. Wie Alicia vermutet hatte, war es halb so wild. Ein glatter Durchschuss. Ihr war aufgrund des Blutverlusts ein bisschen schwummrig. Sie benötigte dringend ein Bett und wenigstens ein paar Stunden Schlaf. Morgen würde sie Kaleb fragen, was hier eigentlich lief. Wenn die Typen es wagten, sie in ihrem Haus zu bedrohen, dann wollte sie wissen was Sache war.