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Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

Roman • Voland & Quist

Sonar 7

Originaltitel: Ponocni boogie, erschienen bei Quorum, Zagreb 1987, zweite
ergänzte Ausgabe erschienen bei Meandar, Zagreb 2002

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2010

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Lektorat: Stephan Ditschke, Hamburg

Umschlaggestaltung: HawaiiF3, Leipzig

ISBN: 978-3-938424-55-1

E-Book-Erstellung: nimatypografik

www.voland-quist.de

Edo Popovic, geboren 1957, lebt in Zagreb. Er war Mitbegründer einer der einflussreichsten Underground-Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens und veröffentlichte mehrere Romane und Erzählbände. Edo Popovic gilt als die Stimme des urbanen Kroatiens und der Verlierer der gesellschaftlichen Transformation. Auf Deutsch erschienen bereits die Romane »Ausfahrt Zagreb-Süd«, »Kalda« und »Die Spieler« bei Voland & Quist.

»Mitternachtsboogie« wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation – es fing das Lebensgefühl der Jugend am Ende der Tito-Ära wie kein anderes Buch ein. In einer gewagten Mischung aus lyrischer und urbaner Sprache erzählt Popovic von langen Nächten in Zagreber Kneipen und Cafés oder den Aufenthalten in West-Deutschland, wo die Studenten immer noch vom Sozialismus träumten, während in Zagreb die Zuversicht wuchs, dass dieser bald sterben würde.

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein gemeinsames Programm des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, Goethe-Institut und S. Fischer Stiftung.

Die Reihe Sonar wird herausgegeben von Christine Koschmieder.

Die im Kopf rebellieren, brüllen, vermehren sich.

Nana

Inhalt

Der Mann, der den eigenen Schatten tötete

Die Rampe oder jemand anderes

Mitternachtsboogie

Die nackte Stadt

Der gelbe Bleistift

Die Schildkröte

Tatsächlich Berlin und nichts anderes

Die B52 ist nicht gekommen

Die Mondsüchtigen

Weidenkätzchen-Epidemie

Marisky B. in memoriam

Rebeca

Das Gedicht des vergessenen Telefons

Frühstück mit Snjezana

Die Geschichte dieses Buches

BOOGIE +

Edo Popovic

Unter dem Regenbogen

Nachwort

Weitere E-Books von Edo Popovic bei Voland & Quist:

Der Mann, der den eigenen Schatten tötete

Ich hatte lange geschlafen. Als ich endlich die Augen öffnete, waren dreißig Jahre vergangen.

In der Dämmerung sah ich fluoreszent-blaue Schienen … stille Straßen, über die Autos wie Glühwürmchen krochen … kalkweiß gestrichene Häuser an den Rändern dunkler Wälder … eiserne Brückenarabesken … einen Neonfrosch mit gelber Krone … Glaskuppeln von Fabrikhallen, die mit Ruß bedeckt waren … die Festungen der Arbeiterviertel mit ihren abgeblätterten Fassaden … ein Mädchen mit einer Zigarette im Mund, das sich hinter einem hell erleuchteten Fenster auszog … leere Flüsse aus Stahl …

Einst fuhr eine Flotte aus Papierschiffchen darüber, die von Bleisoldaten gesteuert wurden. Die Schiffe sind in Vergessenheit geraten, aber die Bleisoldaten mit ihren fiebernden Blicken wandern noch immer durch die Städte.

Ein VW ohne Räder, auf die Seite gekippt, in einer Nebenstraße … Dunkelhäutige Dealer quatschen in den Schatten der Hauseingänge miteinander und lachen laut … Penner wärmen sich an den Kanalisationsschächten auf … Hast du mal ne Mark … In den Schaufenstern sitzen vergessene Huren, unausgeschlafen, aber schön … Das Vögeln hat sich in einen Albtraum verwandelt … Menschen schreien auf, sobald sie sich im Vorbeigehen aus Versehen berühren … Drei Milliarden Menschen laufen über Straßen, Wiesen, durch Wälder, Wüsten – sie schreien panisch …

Dreißig Jahre, sagte ich zu mir selbst.

Eisiger Regen bohrte kleine Löcher in meine Wangen.

Ich suchte Unterschlupf in einem Antiquariat und stöberte in den Regalen herum. Fels’ Buch »Mein Land« zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich kaufte es, obwohl ich schon eine neuere Ausgabe besaß. Eine Widmung stand darin, mit schwarzer Tinte geschrieben:

Nana, es muss alles WENDERS werden.

E.

Dezember 1978

*****

– Als ich nach Frankfurt kam, war ich siebzehn und meine Augen waren größer, in diesem Alter sieht der Mensch viel mehr – legt Jürgen los.

– Das gilt nicht, das hast du schon geschrieben – sage ich.

Er zieht resigniert die Schultern hoch.

– Wenn du etwas Neues sagen oder schreiben willst, musst du dir eine neue Sprache ausdenken, die sich von allen bisher bekannten Sprachen total unterscheidet.

– Oder eine neue Tinte.

– Ja, ja … Wenders … Er ist schon okay.

Ricks Café löst sich im trüben Licht auf. Am hinteren Ende klappert ein Zigarettenautomat … Über die Tische gebeugt murmeln Menschen vor sich hin, als würden sie beten … Vor den Fenstern huschen Schatten von Regenschirmen vorbei … Die Leinwand über der Theke versinkt zärtlich in meinen Augen … Der Mensch auf dem Scheiterhaufen seiner eigenen Bücher. Eine Meute humorvoller Kritiker (sie sind humorvoll, da sie sich vor Lachen kugeln, und sie sind Kritiker, da sie ihn steinigen) brüllt: »Du brauchst einen Psychiater, Rechtschreibung und eine Kinderstube«, und ihn verlässt die Kraft, weil er die Nase voll hat von dem ewigen Gezerre. Im Hintergrund wird der gelbe Himmel von zwei grünen ionischen Säulen und einem roten Tank zerrissen.

– Worte sind kleine Arschlöcher – sagt Jürgen. – Man muss sie vorsichtig und zärtlich drücken, bis sie anfangen zu bluten. Man muss sie mit viel Umsicht und Taktgefühl aneinanderreihen, denn sie vertragen sich nicht, wegen der Ästhetik, der Ideologie, der Abnutzung …

Bogart ist heute Abend nicht da. Auch der alte Schwarze am Klavier ist heute Abend nicht da. Heute Abend wird niemand sagen: »Play it again, Sam«.

*****

Wie viele Dezember hat ein Jahr?

*****

Ich habe irgendwo gelesen, dass man, wenn man an jemanden denkt, ihn vergisst und ihn dann wieder aus der Vergessenheit herausreißt. Nana sprach immer laut, zu laut für meinen Geschmack. Nana hielt sich beim Gähnen nicht die Hand vor den Mund. Nana verteilte ihre Schlüpfer in der ganzen Wohnung. Nana machte schrecklichen Lärm, während ich schrieb, da sie ausgerechnet den weißen Schlüpfer suchen musste, du weißt schon, den aus Spitze, den ich letzen Herbst in Rom gekauft habe. Nana kümmerte sich mütterlich um Sabine, sie ging mit ihr spazieren, besuchte Freunde mit ihr, fuhr mit ihr in den Urlaub. Sabine ist Nanas Pudel.

Am Ende des vierten Jahres unseres gemeinsamen Lebens (ich muss immer lachen, wenn jemand vom gemeinsamen Leben spricht, denn die Menschen durchleben alles allein, und gemeinsam kann nur ihr Badezimmer sein oder das Wohnzimmer oder bestenfalls das Bett), also am Ende des vierten Jahres des »gemeinsamen Lebens« erhob ich eines Nachmittags den Blick von dem Manuskript, an dem ich gerade arbeitete, und bemerkte ungewöhnliche Emsigkeit an Nana: Sie stopfte fleißig Blumenvasen, Bücher, Sabines Futternapf, Gläser, den tragbaren Fernseher in Pappkartons …

– So geht das nicht – sagte ich –, den Fernseher habe ich gekauft.

Sie stellte den Fernseher wortlos zurück auf die Kommode und machte weiter mit den Küchenhaken, den Schrubbern, den Handtüchern …

– Du gehst also – sagte ich und wusste, dass das ziemlich dumm klingen musste.

Sie hob kurz ihren Kopf.

– Ich bin schon seit Langem nicht mehr hier – sagte sie und faltete dabei einen zerrissenen Lappen zusammen –, aber jetzt gehe ich weg.

Was will sie bloß mit diesem Lappen, dachte ich.

*****

Mit Nana zusammen zu sein, bedeutet, sich zu fragen, ob jemand beim Ficken alle Muskeln anspannt und plötzlich ruft: »Jesus! Sabine! Ich muss mit ihr Gassi gehen!«

Allein zu sein, bedeutet, sich das nicht fragen zu müssen.

Oder: Zeit zu haben, den eisigen Regen zu beobachten wie er zu Schnee wird.

*****

Ein Polaroidfoto, das ich an jenem Tag machte, als Nana wegging:

– Eine blaue Schicht durchwoben von weißen Streifen (Nana nannte es den Himmel)

– Dürre, knotige, grünliche Bäume

– Eine Reihe verlassener grauer Gebäude, die abgerissen werden sollen

– Ein Stück des leeren Bürgersteigs und der leeren Straße

– Drei Straßenlaternen

– Ein Müllcontainer, übervoll und vergessen

Die Straßenlaternen werden schon tagsüber angeschaltet, so gegen fünf. Dann gehen die Menschen mit ihren blassen Schatten spazieren. Auf der Terrasse, von der aus ich das Foto aufnahm, habe ich heute einen Schneemann gebaut. Seine Augen sind zwei blaue Knöpfe. Mund, Ohren und Nase sind nicht vorhanden.

*****

Seit ein paar Tagen stimmt mit dem Fernseher irgendwas nicht: Vom dunklen Bildschirm kommen nur Schreie. Die Zeitungsseiten sind von toten Zeichen und exotischen Leichen übersät. Ich habe ein ausgezeichnetes Alibi: Mein wissenschaftliches Interesse an Kommunikation, Neurochirurgie, Linguistik und Nuklearphysik ist gleich null, all meine Sympathien gelten den Walen, Walrossen, Afghanen, Türken, Schwulen und anderen Hochrisikogruppen, und mein Körper, der immer noch unter Narkose steht, ist soeben von einer Ausstellung moderner Skulpturen und zeitgenössischer Abtreibungstechniken, die in der Vorhalle des Interconti eröffnet wurde, zurückverfrachtet worden.

*****

Der Schneemann hat weder Arme noch Beine. Er war ehrlich erfreut, als er mich sah. Er brachte kein Wort hervor, da er keinen Mund hat … ich glaube, das sagte ich bereits. Nur seine beiden Augen fielen entzückt ab. Ich hob sie vom Terrassenboden auf, drückte sie zärtlich wieder an seinen unschönen, aber sympathischen Kopf und klopfte ihm auf den Rücken. Alles wird gut.

*****

Aufgrund der bisweilen geschlossenen Wolkendecke, der Schnee­fälle und der durchschlagenden Tradition wurden heute die Störungen im Fernseher behoben. Die Schreie verwandelten sich dank des technologischen Fortschritts und im Sinne des Umweltschutzes in Stille, und die Zeitungen, das sollte besonders betont werden, riechen wieder nach Zirodent und Aftershave.

*****

Ich mache mir jedes Mal in die Hose, wenn Nanas zerrissener Küchenlappen vor meinen Augen auftaucht.

*****

Heute Morgen habe ich vergessen, den Müll rauszubringen … ich habe die Namen vieler Menschen und Gegenstände vergessen … ich habe vergessen, welcher Tag heute ist … ich habe vergessen.

Ich bin aufgewacht, in Schweiß gebadet, das zum Ersten.

Zweitens kniete Nana vor dem Bett.

– Ich mache dir ein Pünktchen hinter das Ohr – sagte sie mit beruhigender Stimme.

– Ich habe von einem langen Slalomlauf beim Weltcup geträumt – sagte ich.

– Und wie war’s? – fragte sie.

– Gut – sagte ich.

*****

Der Schneemann kennt die Namen aller Menschen und aller Gegenstände, nur dass er sie nicht aussprechen kann.

*****

Ich kehre wieder zurück zu Nana. Ich tue das, weil ich Angst habe, sonst eine schlechtere Wahl zu treffen. Oder, was noch schlimmer wäre, dass sie nicht zu mir zurückkommt, so wie sie es schon unzählige Male getan hat. In meinen Träumen und in meinen Alpträumen. Ganze Sturzbäche aus Cognac, verstärkt durch Truppen gut trainierter Narkotika haben mich nicht aus der Scheiße herausretten können, sie haben mich nicht von der Beklommenheit befreit. Ich ramme der Beklommenheit das Messer mit voller Wucht in die Lenden und in den Hals. Das violette, dickflüssige Blut zerspritzt zu Wolken aus Konfetti. Der weibliche Körper ist wie Aspik und bebt kaum merklich. Ich masturbiere regelmäßig. Die Erinnerungen sind deutlich, trotz der Zeit, die verflossen ist. Eine Therapie aus Zudröhnen und Wichsen für einen guten Tag und einen guten Teint. Als ich zum Höhepunkt komme, knackt etwas in meinem Kopf, und anstelle von Nanas Bild flimmert das Bild einer anderen Frau vor meinen Augen.

Ich jaule auf wie ein Tier.

*****

Manchmal kommen nachts Penner in die verlassenen Häuser. Ihre Anwesenheit erkennt man an den vielen kleinen Flammen, an denen sie sich aufwärmen.

Sie wärmen sich auf und warten auf den Tod, auf wärmere Tage, auf die Polizei.

*****

Mit Fels in der Tasche ging ich ins Antiquariat. Das Mädchen an der Kasse aß gerade Kuchen und las ein Magazin. Sie hob unwillig ihren Kopf und leckte sich Zucker von den Lippen.

– Ich habe das hier vor einigen Wochen bei Ihnen gekauft – sagte ich und zeigte dabei auf das Buch.

– Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit dem Buch?

Nein, es sei alles in Ordnung, das Buch ist ja gebraucht, aber ob sie sich eventuell an das Mädchen erinnern könne, das es an den Laden verkauft hat?

Nein, sie erinnere sich nicht, aber warum ich denn meine, dass es ein Mädchen gewesen sei?

Ich zeigte ihr die Widmung.

– Das heißt doch nichts – sagte sie und biss ein Stück von ihrem Kuchen ab –, vielleicht hat dieser »E.« das Buch ja verkauft oder wer auch immer.

Ich ging zur Tür.

Auf jeden Fall, so rief sie mir nach, gebe es hier viele Bücher mit Widmungen, also wenn ich daran Interesse hätte …

Ich drehte mich um und winkte ihr zu.

*****

Starke Südwinde hatten eingesetzt. Der Schneemann taute auf. Ich stand tagelang stumm vor ihm, und er stürzte ein, verschwand ohne einen Schimmer von Vorwurf oder Anschuldigung in seinen Augen. Nur mit ein wenig Angst und Traurigkeit.

*****

Heute Morgen habe ich zwei Knöpfe aus der Pfütze auf der Terrasse gefischt. Heute Nacht habe ich nicht geweint, aber das gilt nicht, denn es war im Traum und im Voraus.

*****

Ferne Autogeräusche … Das Gluckern von Wasser in den Wänden … Jemand röchelt im Treppenhaus … Ich lege mir die Knöpfe auf meine Augen und trete ans Fenster.

Manchmal wache ich auf, umgeben von Menschen, die mir einst nahe standen und die mit der zeit so klein wie Haselnüsse geworden sind, damit sie alle in mein Gedächtnis passen. Ich sehe sie, ich versuche zu lächeln. Und sie fallen – erschrocken von meinem starren Blick – in das Vergessen, sie verschwinden.

Die Rampe oder jemand anderes

Ich muss sprechen! Ich fühle mich irgendwie betrogen, aber das bedeutet gar nichts. Freunde, die Stachel eures Schweigens sind merkwürdig. Merkwürdig sind auch eure Kiefer voller vergilbter Reißzähne. Ihr nennt das ein freundschaftliches Lächeln, aber ich erkenne Wut, genauso wie am Anfang großer nächtlicher Partys, wenn wir uns prügelten und bei der Apotheke an der Ecke herumgrölten. Merkwürdig war auch mein abgetragener Anzug, der für Gehorsam angefertigt wurde, und das Bett, in das ich mich nachts legte, und was war es nur für ein wunderbares Gefühl, Freunde, das Adressbuch aufzuschlagen und nicht eine Telefonnummer zu finden, die mich erfreuen konnte. Auf der anderen Seite das Jahr – kann es sein, dass es wirklich nur ein Jahr war –, das Jahr des Schweigens.

*****

Ich bin also zurückgekommen. Alle waren mehr oder weniger peinlich berührt.

– Du?! – krächzten sie, sie rannten über die Zimmerdecke, fielen auf die Tische, zum Kaputtlachen.

In Ordnung. Ich habe gar nicht erwartet, dass aus ihren Mündern Magnolienblüten sprießen würden und Wiesen­blumensträuße. Ich habe auch nicht erwartet, dass sie mich entzückt abknutschen, an den Ohren ziehen und mit ihren Umarmungen ersticken würden. Das hat nichts mit Freundschaft zu tun, das ist reine Pornografie. Wenn ich überhaupt etwas erwartet habe, wirklich erwartet, war das eigentlich ein hübscher Schlag in die Fresse – ein Schlag des Schweigens. Und ich habe ihn auch abbekommen. Es gibt Bisse und Schreie, die sich in den allerzahmsten und idyllischsten Landschaften verbergen. Das sind die schlimmsten.

– Was guckt ihr so blöd? – fragte ich. – Wo ist Marina?

Sie heißt natürlich nicht Marina, sie heißt ganz anders, aber ich will sie hier nicht kompromittieren.

Sie konzentrierten sich volle fünf Minuten.

– Lass sie in Frieden – zischte schließlich einer. – Du hast ihr das Herz gebrochen.

Jesus, Snjezana, Korkenzieher, Glas, Aschenbecher, hört ihr das? Ich habe ihr das Herz gebrochen! Jetzt war es an mir, mich zur Ordnung zu rufen.

– Und womit habe ich ihr Herz gebrochen, du Klugscheißer? – sagte ich nach einer langen Pause.

– Sie hat alles gehört!

– Du Schwein!

– Wie konntest du ihr das nur antun?

– Sie will dich nicht mehr sehen!

*****

Die Dinge haben sich – so scheint es mir – schnell verändert. Sie verändern sich noch immer in diesen Tagen, in denen mein Wunsch nach Flucht von jener ursprünglichen Angst vor dem Ungewissen überlagert wird, von der ich mich trotz meiner Bildung, den Märchen, dem Absinken der Temperatur und der Nächstenliebe immer noch nicht befreit habe.

– Marina ist nicht zu Hause – sagt ihre Alte. – Sie hat jetzt einen Freund, einen richtigen.

Und was zum Teufel bin ich? Ein abgetriebener Fötus, den man in den Mülleimer geworfen und der sich irgendwie wieder aufgerappelt hat und einfach groß geworden ist, ganz auf sich selbst gestellt? Nur dass ich bei der Rückkehr zum Ursprung meine komplette Haut aufgekratzt habe, die ganze Schale, die sich abgelagert hat, alle Gewohnheiten. Je harmloser und unschuldiger die Welt ist, desto grausamer sind meine Handlungsweisen, desto blutiger sind meine Hände.

Auf der Straße bedrohen mich Menschen, die ich nicht kenne und denen genau das reicht, um mich zu hassen. Sie schlagen mit ihren Ellenbogen auf mich ein, spucken mir ins Gesicht, verlangen meinen Kopf und winken dabei mit ihrer Reinheit. Die, für die zwei plus zwei vier ist, immer nur vier, verachten mich. Nur dann, wenn sie gut gelaunt sind, werden auch andere Lösungen zugelassen, aber das kommt selten vor. Ihre Vorgehensweise beinhaltet magische Quadrate, im Vergleich dazu sind Gefängniszellen das reinste Vogelgezwitscher. Ob man will oder nicht, man wird plattgedrückt, zusammengestaucht und dann in eins dieser Quadrate gepresst, man kann sich nur wundern. Fertig aus. Und wenn man protestiert, wenn man sich zu widersetzen versucht, grinsen sie nur und rollen dich zusammen wie einen Teppich. Hätte ich versucht, Marinas Alter irgendetwas zu erwidern, wäre meine Antwort ein Schrei gewesen, eine Bewegung, ein Schweigen, ein hämisches Lachen. Und sie hätte nichts verstanden. Die Menschen kapieren keine ehrlichen Aussagen. Sie sind getrimmt auf Parolen und große Worte, ordentlich zusammengefaltet, gestärkt, sauber.

*****

– Tja – meine Freunde zuckten bei zufälligen Begegnungen mit den Schultern.

– Was soll’s – sagte ich.

– Oh Mann – sie blickten sich um, auf der Suche nach einem Fluchtweg.

– Auuu – ich schaute nach oben.

– Mhm, ja – sie wühlten in ihren Taschen herum.

– Ach was – staunte ich.

– Wir sehen uns – sie kniffen ihre Augen zusammen.

– Klar – ich drehte ihnen den Rücken zu.

*****

Es ist vorbei! Ich bin unten durch! Man hat mich rausgekickt! Hilfe! Ich habe meinen Kopf verloren. Ich bin geplatzt. Meine zweite Hälfte ist mir abhandengekommen, die zahmere, so scheint es zumindest. Ich gehe nicht mehr raus. Ich ernähre mich von kleinen, gelben russischen Ameisen, die Wände sind voll davon. Später perfektioniere ich das und stelle das Essen fast vollständig ein. Um Energie zu sparen, reduziere ich sogar die Bewegungen in der Wohnung. Nur in der äußersten Not.

Am Anfang glaubte ich, dass jemand auf wundersame Weise in meinem Zimmer erscheinen und sich auf ein kurzes, freundschaftliches Gespräch einlassen würde, ohne Blitzlichter und aufdringliche Journalisten. Nächtelang starrte ich ins Dunkel, und meine Geduld wurde in dem Moment belohnt, in dem ich die Bläschen der Dunkelheit spürte, eine kaum zu bemerkende Bewegung unter dem Fenster oder in einer dunklen Ecke. Trunken vor Schlaflosigkeit, vor Liebe, vor Hass sprang ich aus dem Bett und grölte aufgeschreckt herum. Und während die Schreie an den Wänden zerschellten, fiel ich in einen Schlaf, der tagelang anhielt.

*****

Dieser Hoffnungsschimmer gehört nicht mir. Eigentlich gehört er mir doch, aber ich habe mich nicht nach ihm gedrängt. Das heißt, ich kann mich nicht daran erinnern, es getan zu haben. Ich bin geneigt zu glauben, dass das Mädchen an allem schuld ist, das gestern auf ihrem Fahrrad an meinem Fenster vorbeigefahren ist und das, als es sich umschaute, meinen Blick hinter der Gardine streifte, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es jetzt noch immer zurückblickt.

Türklingeln kann allerlei bedeuten, genauso wie das Klingeln des Telefons. Ha! Das ist sie! Das sind sie! Sie würden am liebsten eine Glasur über alles ziehen, wegen all der Jahre, wegen der Betäubungsmittel, wegen des Chaos in der Athletik. Ich kann mir das gut vorstellen. Ich schleiche mich in den Flur und spähe durch den Spion. Dunkelheit.

– Ich bin nicht da, niemand ist da – sage ich und weiche zur Seite. Für alle Fälle.

Hinter der Tür pulsiert die Stille wie Schlaflosigkeit. Kalter Rattengestank strömt herein, eine Million kreischender Augen lauern in den Rissen der Wände. Ich könnte einen Schritt machen, nur einen Schritt durch die Stille, und vielleicht würde sogar etwas passieren. Also dann: Tanti saluti e mille baci.

*****

Ich fand mich auf der Straße wieder. Gestern Abend. Frack, Zylinder, gestärktes Hemd, mit allen Schikanen. Ich hatte meine schönste Ausführung aus dem Jahr 1918 angenommen. Deshalb war ich nicht überrascht, als ein Mädchen an mich herantrat und mich küsste. Und da wir uns überhaupt nicht kannten, konnte es sich nicht um ein Missverständnis handeln. Ich machte mir beinahe in die Hosen. Der Eintrag über unser Treffen befindet sich auf einem iberischen Steinrelief aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.