Andreas Maier

Was wir waren

Suhrkamp

Was wir waren

Die Sargträger waren bei der Beerdigung betrunken. Das wäre mein Onkel an diesem Tag sicherlich auch gewesen, hätte er ihn erlebt.

Onkel J., Heimatkunde

Inhalt

Neulich war ich im Keller des Verlags

Neulich sah ich meinen Onkel zum letzten Mal

Neulich dachte ich an dieses eigenartige Leben

Neulich erhielt ich einen Leserbrief

Neulich bestimmten wir einen Begriff

Neulich wurde ich gefragt, was der Mensch sei

Neulich war ich im Ausland

Neulich war ich in einem venezianischen Palazzo

Neulich dachte ich an meinen Bart

Neulich stand ich unter Kühen

Neulich begann ich zu zittern

Neulich in Freiburg

Neulich war der Peter bei mir

Neulich wurde ich mal wieder unpolitisch

Neulich bin ich alt geworden

Neulich dachte ich über Besenkammern nach

Neulich dachte ich über das Unwort nach

Neulich beendete ich einen Roman

Neulich dachte ich an die Zeit, als alles in Ordnung war

Neulich waren wir beim Karl

Neulich fuhr ich nach Wien

Neulich war ich im Keller des Verlags

Neulich war ich im Keller des Frankfurter Suhrkamp Verlags. Erinnerungen. Friedberg, meine Heimat, die ersten Bücher, Anke. Mit ihr begann meine zweite Wahrheitsphase, die sich von der ersten nicht wesentlich unterschied, nur daß der Schmerz größer wurde und ins gar nicht mehr Ermeßbare stieg. Ein Schmerz, so groß wie die Welt. Ein Schmerz, wie er nur durch Lesen entstehen kann, durch Mädchen und den lieben Gott, den ich aber damals noch nicht so nannte. Wir Kultursublimierten vögeln uns nicht durchs Leben, wir fliegen auf andere Weise. Bei uns ist das Vögeln nur der Gipfel des Fliegens. Andere – die, deren Leben ein Vögelleben ist – haben keine weitere Form des Fliegens und keine Stufe darüber. Es ist ihre Lebensbewegung. Wir dagegen gehen zu Fastnachtssitzungen und haben nicht einmal dort regelmäßig Sex. So blieben uns neben der Liebe noch ein Leben und eine offene Wunde. Die Wörter wuchern immer unkontrollierter in uns hinein, da sind wir vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre und haben noch nie etwas vom Universalienstreit gehört. Als hätten die Wörter materiellen Charakter wie ein Kuß oder ein Schwert. Dann brauchen wir Jahrzehnte, um mit Hilfe von Wörtern den Wörtern wieder einigermaßen beizukommen, sie in uns abzubauen, rückzubauen. Neulich sagte ein infolge des siebten Bieres philosophisch gewordener Wendländer zu mir: »Wir müssen die Worte (unser Leben) wieder rückholen wie Atommüll aus einem nicht funktionsfähigen Endlager, denn es wird nie ein funktionsfähiges Endlager geben, nirgends auf der Welt und für keines der Worte in uns.« So gab es neben der Liebe und dem Vögeln also noch ein Leben und wurde mehr oder minder ausschließlich zu jenem wortgeborenen Schmerz. Insofern stand ich dort unten im Keller des Frankfurter Suhrkamp Verlags im Zentrum des Schmerzes. »Und du bist das Endlager, aus dem jetzt rückgeholt werden muß, weil es nichts taugt«, sagte der Wendländer.

Alles lud sich stets mit allem auf, der Gang in die Buchhandlung, die Nächte und Tage, die Erzählungen und die Menschen, der Frühling und der Sommer, das Innen und das Außen waren nie zu trennen, die Bücher und die Welt. Anke, sie war in diesen Kolumnen noch gar nicht an der Reihe. Im nachhinein wie ein Riese, als seien wir damals alle zehn Meter groß gewesen oder größer. Wie mythische Gestalten ragst du mit all den anderen, die wichtig waren, in deiner eigenen Vergangenheit empor. Wegen Anke hatte ich die Buchhändlertochter verlassen. Der erste Verlust und der, aus dem sich alle weiteren ableiten, wie immer. Immer ist irgendwann das erste Mal für alles, und später sitzt du bei Ärzten herum oder schreibst und errichtest verzweifelt Endlager in dir. Und so kam ich, der ich ein Vierteljahrhundert zuvor Tag für Tag in die Bindernagelsche Buchhandlung in Friedberg in der Wetterau gelaufen war, um mir Suhrkamp-Taschenbücher (bzw. Insel, das waren dann die Klassiker) zu kaufen, mich damit vollzustopfen und, wie meine Mutter stets zu sagen pflegte, zu verderben (besonders, wenn sie mich mit einem Insel-Nietzsche-Taschenbuch sah, Nietzsche war für sie der »negativste« Autor überhaupt), so kam ich ein Vierteljahrhundert später ins Archiv in den Keller des Suhrkamp Verlags und sah zum ersten Mal all die Originale, die Manuskripte, Texte, Blätter, Typoskripte, die ganzen Uranfänge, hielt Stiller in den Händen, Rilke, und alles wurde gerade in Kisten gepackt und außer Haus geschafft, denn es war eben in diesem Moment verkauft worden. Ich sah, wie die Kisten in Sattelschleppern aus der Lindenstraße abtransportiert wurden, und sagte mir, so einfach ist es also, einen Keller leer zu räumen, und so schwer wird es sein, dich leer zu räumen. Ich habe immerhin schon damit angefangen. Immer mehr sind diese Kolumnen zu einer Räumungsaktion geworden, schon lange bevor der Verlag geräumt wurde. Ich habe in ihnen Zug um Zug alles vom Neulich ins Einstmals geräumt, und am Ende ist aus alldem, meinem Leben, der Wetterau, Anke, der Buchhändlertochter, den Kolumnen und den Straßen, dem Verlag und den Wörtern, ein Buch geworden, ein Suhrkamp-Buch, was sonst. Es ist zum Verzweifeln und im Grunde, sagte der Wendländer, »genau dasselbe, was in einer sogenannten Wiederaufbereitungsanlage passiert. Eine Umverpackung mit dem Effekt eines potenzierten Müllvolumens.«