Bis auf die Sache mit dem toten Priester war es ein erfreuliches Wochenende.
Es war das Wochenende, an dem mir mit aller Deutlichkeit aufging, dass die Vergangenheit niemals vergangen ist, gleichgültig wie sehr wir auch immer versuchen, unsere Erinnerung zu planieren. Es war das Wochenende, an dem ich endlich beschloss, eine ernsthafte Figur in der Geschichte meines Lebens zu werden. Es war das Wochenende, mit dem der größte Fall meiner Laufbahn begann.
Zunächst sah ich keinerlei Größe, eigentlich nicht einmal einen Fall. Andere allerdings reagierten sensibler auf die aktuellen Ereignisse und jene, die noch bevorstanden. Ruby zum Beispiel. Dann auch Captain Davy Mogaill, mein Rabbi. Wie der Captain sich ausdrückte: »Welchen größeren Fall könnte ein Detective knacken als das Geheimnis seiner eigenen Herkunft?«
Diese Bemerkung ließ er an einem beschaulichen Nachmittag in Nugent’s Bar fallen. Diese kleine Weisheit neben anderen. Ich für mein Teil erzählte meinem Rabbi von Ruby und dem traurigen Anlass unseres für den folgenden Sonntagabend geplanten Fluges nach Dublin.
Während wir bei unserer angenehmen, langen und alkoholgeschwängerten Unterhaltung beisammensaßen, musste der alte Father Tim zweifellos zum ersten Mal begriffen haben, was ihn erwartete.
Zurück zu jenem Freitag, an dem dies alles begann:
Es war nach fünf an einem Nachmittag im April und zufälligerweise auch mein Geburtstag – allerdings verrate ich nicht, der wievielte. Ruby rief an, um mich davon in Kenntnis zu setzen, dass ich an diesem Abend einen netten Anzug und Krawatte anziehen solle, da sie nämlich mit mir zum Dinner in ein Lokal auf der East Side wolle, dessen piekfeines Niveau mir fremd war. Dank Ruby sind solche Ankündigungen inzwischen ein fester Bestandteil meines Lebens.
»Also, ich weiß nicht –«, sagte ich.
Ruby fiel mir ins Wort. »Ich lade dich ein.«
Worauf ich schnell erwiderte: »Wohin gehen wir und wann?«
Sie nannte mir die noble Adresse eines Restaurants, dessen Namen ich schon oft unter den Fotos zu Berichten der Times über Wohltätigkeitsbälle gelesen habe, und sagte, wir sollten uns dort um Punkt acht treffen. Womit mir zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten blieben, um im Revier Feierabend zu machen, mir auf dem Nachhauseweg die längst überfällige Rasur und einen frischen Haarschnitt verpassen zu lassen, zu duschen und noch eine Weile in Shorts und mit einigen Fingerbreit Johnny Walker Red Label herumzusitzen, den Abholschein für meinen guten Anzug zu finden, der sich in der koreanischen Reinigung befand, und meine Schuhe mit den Troddeln zu wienern. Anschließend würde ich ein Taxi benötigen, vorzugsweise eines mit einem Fahrer, der auch ohne meine Hilfe wusste, wie er von meiner irdischen Wohnung in Hell’s Kitchen quer durch die Stadt zum Planeten namens Park Avenue kam. Ich war als erster dort, und das nicht mal sonderlich pünktlich. Es war Viertel nach acht.
Das Restaurant zierte einer dieser Namen, die irgendwer schrecklich schick fand, ich aber einfach nur schrecklich. Ich glaube, halbwegs verständlich übersetzt dürfte das Lokal »Das Lama mit der paradoxen Garderobe« heißen. Vorbei am dezent beleuchteten Kommandoposten des Oberkellners, des Maître d’hôtel, sah ich, dass sich im Speiseraum alles drängelte, was man so für die New Yorker Schickeria hielt: Graue Eminenzen, die Hof hielten für katzbuckelnde jung-dynamische Managertypen in Armani-Anzügen, ehemalige Frauen einstiger Potentaten, Onkel Tom-Republikaner, unter Anklage stehende Wall Street-Hechte, schillernde Ladys mit langen Beinen und kurzen Lebensläufen sowie ein Sortiment weißer Typen mittleren Alters mit Bifokal-Pilotenbrillen, Anzügen von Bijan und kleinen Pferdeschwänzen.
»Oui, monsieur?« Der Maître d’ musterte mich verdrießlich mit Augen so schwarz wie seine Smokingjacke. Schließlich kräuselte er die Lippen, was ihn jahrelange Übung gekostet haben musste, und fragte: »Puis-je vous aider?«
Ich war nicht beeindruckt. Zufälligerweise weiß ich etwas über Frankreich, nämlich dass es ein Pflicht-Reiseziel für New Yorker ist, die auf Unverschämtheiten versessen sind; statt jedoch nach Übersee zu reisen, tut’s zur Not auch jedes x-beliebige französische Restaurant in Manhattan. Außerdem besaß der Akzent dieses Knaben viel zu viel vom Grand Concourse, wo eigentlich die Champs-Élysées durchklingen sollten. Überdies kam ich mir in meinem anthrazitfarbenen Kammgarnanzug, der lachsfarbenen Krawatte und den nach Schuhwichse duftenden, frisch polierten Schuhe ausgesprochen gut und gepflegt vor. Ich bin vielleicht der typische Barzahler, aber ein Banause bin ich deshalb noch lange nicht.
»Ich suche eine Dame«, erwiderte ich. Hinzugefügt hätte ich gern noch: Vergiss deine Nummer, Pierre, wir wissen doch beide, dass du deine Trinkgelder mit nach Hause in die Bronx nimmst. Aber ich bremste mich. Stattdessen sagte ich also: »Vielleicht ist sie ja schon hier. Ich schau mich einfach mal um.«
»Sir, das glaube ich kaum!« Pierre war völlig aus dem Häuschen und sogar richtiggehend schockiert, das arme Ding. Tapfer schob er sich zwischen mich und den Türbogen in den Speiseraum.
»Was –?«, setzte ich an.
»Damen ohne Herrenbegleitung erhalten von mir keinen Tisch.«
»Wie kommt denn so was? Ist das hier ein Schwulenladen?«
Dann von hinter mir Ruby mit einem Lachen in der Stimme: »Oh, Hock – benimm dich.«
Ich drehte mich um und sah sie auf mich zukommen. Aus seinem Wagen heraus genoss auch ihr Taxifahrer noch einen letzten Blick. An solche Dinge musste ich mich noch gewöhnen; Ruby ist wirklich ein Anblick, und ich bin nicht der einzige Mann in der Stadt, der Augen dafür hat. An diesem Abend trug sie einen dieser kleinen, mit Perlen besetzten schwarzen Fummel, die genau an den richtigen Stellen glitzern. Um ihre nackten braunen Schultern schmiegte sich ein Hauch von durchscheinendem, wollenen Flaum und um ihr Dekolleté glitzernder Strass, kastanienbraun war ihr Lippenstift, und in den Ohren trug sie winzige Diamantstecker.
Die Schauspielerin Miss Ruby Flagg weiß, wie sie sich für eine gute Kritik verpacken muss. Und an diesem Abend meines Geburtstages war sie in der Tat hübsch verpackt. Pierre hingegen bekam von der Festtagsstimmung nichts mit.
Entsetzt über mich appellierte er an Ruby. »Mademoiselle – s’il vous plaît!«
Sie sagte einfach: »Der Tisch für Detective Neil Hockaday.«
Pierre musterte mich wieder, verzichtete diesmal auf die gekräuselte Lippe, vielleicht aus Respekt vor dem Höflichkeitstitel, wahrscheinlich aber nicht. Jedenfalls konsultierte er seine Reservierungsliste, wobei er sich reichlich Zeit ließ, bevor er schließlich verkündete: »Ah, oui. Monsieur Hockaday – zwei Personen. Très bien.«
Wir folgten ihm zu einem Tisch in der Ecke. Dieser ausgesprochen gute Platz überraschte mich schon ein wenig, bis mir klar wurde, dass Ruby während ihrer Zeit in der Werbebranche vermutlich recht häufig geschäftlich hier gewesen sein und zweifellos haufenweise Geld hier gelassen haben musste.
Es war noch gar nicht so lange her, dass Ruby Geschäftskostüme getragen und eine Vielzahl von Zauberwässerchen verscherbelt hatte, die eine beeindruckende Bandbreite von Körpergerüchen beseitigten. Dafür erhielt sie ein beträchtliches Gehalt plus Bonuszulagen und flottem Spesenkonto. Als kluges Mädchen bunkerte sie einen Großteil dieses »albernen Geldes«, wie sie es nennt, und investierte in eine Manhattaner Immobilie – genauer gesagt in ein windschiefes, fahrstuhlloses Backsteingebäude unten an der South Street, in dem sie sich eine Wohnung und ein Ziemlich-Off Broadway-Theater einrichtete, das sich weniger durch Kartenverkäufe finanziert als vielmehr von Mieteinnahmen aus einem Friseursalon im ersten Stock und dem Restaurant im Erdgeschoß lebt.
Das war nun schon einige Jahre her. Doch jeder aus ihrer Vergangenheit erinnerte sich mit Sicherheit noch an Ruby Flagg. Angefangen mit unserem Freund dem Maître d’.
»Danke, Pierre«, sagte sie zu ihm, während er ihr den Stuhl zurechtrückte. Ich musste selber sehen, wie ich klarkam. Als er auf seinen Lackschuhen davonsteppte, fragte ich Ruby: »Heißt der Kerl wirklich Pierre?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Aber er scheint glücklich zu sein, wenn ich ihn so nenne.«
Ein Sommelier eilte herbei und begrüßte Ruby mit einem Handkuss. Was ich mit einem dummen, missmutigen Blick quittierte. Ruby erkundigte sich nach seiner Frau und den Kindern, und er erwiderte, der Familie gehe es blendend. Dann durfte er abzwitschern und uns eine dieser geblümten Perrier-Jouët-Flaschen holen. Schließlich wandte sie sich mir zu und meinte: »Weißt du – gerade du solltest dich doch von Typen wie ihm nicht aus der Fassung bringen lassen.«
Inzwischen hatte ich mit meinen finsteren Blicken aufgehört. Stattdessen lächelte ich jetzt dümmlich das kleine Grübchen in Rubys Kinn an, und auch die reizende Spalte im Ausschnitt ihres Abendkleides. Ich sagte: »Sprichst du von Pierre?«
»Du weißt genau, wovon ich spreche. Wieso lässt du dem Mann nicht einfach seine kleinen Anmaßungen? Wo wärest du selbst ohne Täuschungen bei der Arbeit?«
Was eine grobe Untertreibung war. Allerdings muss ich leider einräumen, dass ich im Dienst nur selten einen Anzug trage, nicht mal einen von der formlosen Variante aus dem Sonderangebotskeller bei A&S, wie von den meisten mir bekannten Detectives bevorzugt. Und die Behauptung, meine Arbeitskleidung sei schlicht, könnte leicht als sträfliche Untertreibung angesehen werden. Meistens trage ich abgelegte Sachen von der Heilsarmee, die ich über die Jahre gesammelt habe – bis auf meine eigene gute, alte Yankees-Baseballkappe, circa 1963, und ein Paar schwarzer, knöchelhoher P-F Flyer Turnschuhe. Diese besitze ich bereits seit der Zeit, als ich mit der einst schönen Judy McKelvey verheiratet gewesen war, wir in Queens in einem niedlichen Haus mit Zaun drumherum unglücklich lebten, und ich einen Haufen Kids von der P.A.L. Baskettballiga des Viertels trainierte. Unordentlich rasiert und in meinen üblichen Klamotten würden Sie mich wahrscheinlich aus einer Gruppe von Männern, die nichts mehr zu verlieren und kein Ziel haben, nicht herausgreifen können, und genauso soll’s auch sein bei der SCUM Patrol – der Kurzform für Street Crimes Unit-Manhattan.
An diesem Abend jedoch hatte ich ein Ziel. Tatsächlich hatten wir noch einen sehr weiten Weg vor uns, bevor wir Schlaf finden würden. Schnell wechselte ich das Thema. »Reden wir über unsere Reise.«
»Gute Idee«, stimmte Ruby zu.
Der Sommelier kehrte mit dem Champagner an unseren Tisch zurück, schenkte zwei Gläser ein, stellte die Flasche in einen Eiskübel und ging. Ruby hob ihr Glas und sagte: »Auf uns und auf Irland, und auf deinen armen Onkel Liam – und außerdem auch noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein lieber Hock.«
Also tranken wir auf all das. Woraufhin ich einen zweiten Toast aussprach. »Und jetzt auf Ruby Flagg, mit Sicherheit die exotischste Frau in den Straßen von Dún Laoghaire.«
Ruby lachte. »Du meinst wohl: die einzige exotische Frau.«
»Du solltest nicht zu überrascht sein, wenn du dort das eine oder andere Gesicht siehst, das genauso dunkel ist wie deines«, sagte ich. »Vor ein paar hundert Jahren gab’s die spanische Armada, die ihre Spuren hinterlassen hat.«
»Stehst du auf schwarze Iren?«
»Ich mag beide.«
»Das würden die meisten irischen Männer anders sehen.« Sie lachte wieder. So wie sie es machte, gefiel es mir. Ich starrte ihre perfekten, weißen Zähne, ihre kastanienbraunen Lippen und die Spitze ihrer rosafarbenen Zunge an. Schon möglich, dass ich gesabbert habe.
»Woran denkst du, Ire?«, fragte Ruby.
»Ich denke daran, wie wir beide auf einem Sandstrand so weiß wie Zucker liegen und du mir was auf Französisch erzählst. Ich sehe dich an, und solche Gedanken kommen mir in den Sinn.«
Sie verdrehte ihre leuchtenden, hellbraunen Augen. »Ich darf nicht vergessen, dass du anders bist als die meisten Iren, stimmt’s?«
»Genau wie Onkel Liam«, sagte ich. »Falls du dir Sorgen machst, dass er dich nicht mögen wird, vergiss es.«
»Und wie gefiel ihm deine Frau?«
Musste sie davon anfangen? »Das ist schon lange her«, wiegelte ich ab.
»Ach, ja?«
In diesem Augenblick musste ich einfach denken, wie gut es für das Ego eines Mannes wie mir in der Mitte seines Lebens ist, im Fokus der abstrakten Eifersucht einer Frau zu stehen. Besonders einer Frau, die aussah wie Ruby.
»Lange genug«, sagte ich.
»Tut mir leid.«
»Vergiss es.«
»Okay.« Ruby fuhrwerkte mit einer gestärkten Serviette herum. »Weißt du, das mit deinem Onkel tut mir wirklich leid. Es ist zu blöd, dass du mit mir auf die andere Seite reist, um ihn zu besuchen, wo er doch … na ja, wo’s ihm eben geht, wie’s ihm geht.«
»Du meinst, wo er doch stirbt. Das wolltest du doch sagen.«
Ruby beugte sich zu mir und tätschelte meinen Arm, wie sich Leute bei Beerdigungen berühren. Hier saß ich und dachte bereits an solche Dinge wie eine Beerdigung. Ich bekam kaum mit, wie Ruby sagte: »Ich wünschte einfach nur, ich könnte deinen Onkel unter glücklicheren Umständen kennenlernen.«
Die Nachricht über Liams Gesundheitszustand hatte mich die Woche zuvor in einem Brief aus Irland erreicht, den ein gewisser Patrick Snoody geschrieben hatte, selbsternannter »treuer Freund« meines Onkels. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Snoody hatte geschrieben, um mich davon in Kenntnis zu setzen, dass Liam aufgrund seines schwachen Herzens nun ans Bett gefesselt sei; er schrieb, Liam habe »vielleicht noch ein Jahr oder auch mehr«; er brachte die typisch irische Beileidsbezeugung zum Ausdruck: »Ich bedaure natürlich sehr, Sie beunruhigen zu müssen.« Und nun, am Sonntagabend und unter diesen traurigen Vorzeichen, würden Ruby und ich nach Dublin fliegen, um einem angeschlagenen alten Knaben zu zeigen, dass das Leben weitergeht. Mehr konnte ich nicht tun.
»Ich bin kein Schwarzmaler«, sagte ich zu Ruby. »Ich sehen den Tatsachen nur ins Gesicht. Liam stirbt, und ich glaube, er selbst würde dieses Wort auch benutzen.«
Ein Kellner kam, flitzte geschäftig um Ruby herum und ignorierte mich völlig. Endlich war er soweit, unsere Bestellungen entgegenzunehmen, und endlich waren wir mit Essen fertig, das wirklich ausgezeichnet war und fast jeden Penny wert, den Ruby dafür zahlen musste. Als wir dann schließlich über Kaffee und Port saßen, ergab sich abermals dieses äußerst unappetitliche Thema.
»Wie war sie?«
»Sie –?« Als müsste ich fragen.
»Du weißt schon, wen ich meine.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich habe heute Geburtstag!«
»Deshalb gehe ich ja auch mit dir in dieses nette Lokal und sage herzlichen Glückwunsch. Jetzt fände ich’s aber nett, wenn du für dein Abendbrot ein bisschen singst. Ist das vielleicht zuviel verlangt? Du weißt doch, wie man singt, oder nicht? Immerhin warst du ja mal Chorknabe, Hock, warst du doch?«
Wann genau hatte ich das erwähnt? Die mit Abstand furchterregendste Sache bei Frauen ist, dass sie sich absolut an alles erinnern, was man ihnen einmal gesagt hat.
Was meine Zeit als Chorknabe betrifft, so war das schon richtig. Ich hatte im Knabenchor der Holy Cross Church an der West Forty-second Street den Sopran gesungen, als Harry Truman im Weißen Haus saß, Sunset Boulevard in den Kinos lief und es überall von gerissenen Kommunisten wimmelte, die Tag und Nacht daran arbeiteten, den American Way of Life zu untergraben.
Father Timothy Kelly hatte sich wegen dieser Kommunisten ganz besonders große Sorgen gemacht. Er war überzeugt, dass die Roten mit Satan im Bunde standen und sich vor allem anderen der Aufgabe verschrieben hatten, die jungen Menschen seiner Pfarre zu verderben. Folgerichtig hoffte Father Tim, uns leicht zu beeindruckenden Hell’s Kitchen-Jungs durch das Singen der Lieder des Herrn dazu bewegen zu können, stets auf unsere besseren Engel zu hören. Ein ganz besonderes Interesse hatte Father Tim, mich vor den subversiven Kräften jener Tage zu beschützen, da ich zufälligerweise der Neffe seines engen und sehr guten Freundes aus Dún Laoghaire war – mein Onkel Liam.
Eine Ewigkeit hatte ich schon nicht mehr an den Knabenchor gedacht. Genauso wenig an Father Tim, wie ich mich schäme einzugestehen. Jedenfalls seit Father Tim aus dem Viertel fortgezogen war, um den Lohn seines Berufslebens in Empfang zu nehmen: ein Zimmer in einem Heim für pensionierte Priester in einer baumbestandenen Straße in Riverdale oben in der Bronx. Einmal hatte ich ihn dort besucht, etwa eine Woche, nachdem er fortgezogen war. Danach rief ich noch drei- oder viermal an, nur um in Verbindung zu bleiben, wie ich es versprochen hatte. Dann wurde ich zu einem typischen Drecksack und verdrängte den alten Knaben auch aus meinem Kopf.
»Als Chorknabe habe ich zum Himmel gesungen«, erklärte ich Ruby. »An meinem Hochzeitstag sagte man mir, Ehen würden im Himmel geschlossen. Also wirst du verstehen, dass ich nicht viel Sinn darin sehe, heute noch zu singen.«
»Klar«, meinte Ruby, »und heute siehst du auch in der Ehe nicht mehr viel Sinn. Und deshalb wirst du mich deinem kleinen, alten irischen Onkel auch als – als was … deine kleine Freundin vorstellen?«
»So würde ich es nicht ausdrücken.«
»Wie willst du es denn ausdrücken, wenn du Liam von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst und er mich einfach nicht übersehen kann?«
»Ich werde ihm sagen, dass wir beide uns in einem langen, langsamen Tanz befinden.«
»Aha! Deine Worte kenne ich wohl, Mister Charmeur. Nur dass sie jetzt nicht mal mehr halb so clever klingen wie beim ersten Mal.«
Sie erinnern sich an absolut alles!
»Was willst du von mir?«, fragte ich.
»Du sagst nette Dinge, Hock, und das mag ich. Aber manchmal ist nett eben nicht genug.« Ruby hatte sich aus ihrem Stuhl zu mir vorgebeugt, und ich hatte die Wärme ihres Atems und die Hitze ihrer karamelfarbenen Haut genossen. Jetzt aber lehnte sie sich wieder zurück. »Wenn du über gewisse Dinge redest, hast du so eine Art, Worte in Mauern zu verwandeln.«
»Gewisse Dinge?«
»Zum Beispiel über deinen Vater. Deine Mutter –«
Ich fiel ihr ins Wort. »Entschuldige bitte, aber ich dachte, wir sprechen über meine Frau. Meine Ex-Frau.«
»Ja, über die auch. Wir reden über all die leeren Stellen, die Flecken deines Lebens, an denen Menschen Löcher in dir hinterlassen haben. Wenn ich mit einem Mann einen langen, langsamen Tanz tanze, dann will ich wissen, wo die Löcher sind.«
»Warum – du willst nicht riskieren hineinzustolpern?«
Ruby lächelte geduldig, als sei sie eine geduldige Nonne und ich der große, etwas begriffsstutzige Junge ihrer Klasse. »Soweit es andere Männer betrifft, die ich vor dir gekannt habe, ist das sicher richtig. Da du aber ein Cop bist, und ich dagegen absolut nichts tun kann, wer weiß, es könnte ja durchaus passieren, dass ich dich von Zeit zu Zeit retten müsste, oder? Du verstehst also, dass ich wissen muss, wo die Löcher sind.«
Ich versuchte es mit einem Scherz, einer Mauer. »Ich dachte, du magst mich nur wegen dem Sex.«
»Ich hab dir schon mal gesagt, mein Freund, dass ich es sehr ernst meine. Was bedeutet, bei unserem Tänzchen geht’s um weit mehr als nur um Drüsen. Außerdem muss ich dir leider mitteilen, dass du mit deiner Überzeugung schrecklich allein auf der Welt wärest, falls du dich für einen Großen Irischen Lover halten solltest.«
»Vergiss nicht – ich bin anders als die meisten irischen Männer, stimmt’s?«, nuschelte ich.
Meine Eitelkeit war angeschlagen, und das wusste Ruby genau. Und sie wusste auch, dass sie mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Also fragte sie wieder. »Wie war sie?«
»Sie hatte ein tolles Grübchen.«
»Du hast sie wegen einem Grübchen geheiratet?«
»Wäre ich der erste Mann, der sich in ein Grübchen verliebt und dann den Fehler begangen hat, das ganze Mädchen zu heiraten?«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Ich könnte noch sagen, dass es mich ziemlich beunruhigt, wie sehr ich das Grübchen in deinem Kinn liebe.«
»Ist das ein Antrag?«
»Im Moment ist’s erst mal ein Scherz.«
»Was ist mit deinem Vater? Willst du dich über ihn auch lustig machen?«
Sie hatte eine der leeren Stellen in mir erwischt. »Ich habe dir bereits alles erzählt, was ich weiß«, sagte ich. »Und das ist nicht besonders viel.«
Mein unbekannter Soldatenvater, von dem meine Mutter ihr ganzes Leben lang nur sagen konnte: »Dein Papa ist im Nebel verschwunden, mehr gibt's da nicht zu sagen; es tut viel zu weh, so von ihm zu sprechen, als wäre er je aus Fleisch und Blut gewesen.« Über den sein Bruder Liam bei seinen zahlreichen Besuchen nach dem Krieg nichts Aufschlussreicheres hinzuzufügen hatte.
Natürlich hatte Ruby das Foto gesehen, vielleicht das einzige, das es von meinem geheimnisvollen Vater gibt – jenes Foto, das auf der Kommode in meinem Schlafzimmer steht. Private First Class Aidan Hockaday von der United States Army in seiner steifen Uniform, deren Anblick allein schon gewaltig Respekt einflößt; ein gut aussehender junger Ire, der irgendwo im Krieg gegen Hitler und den Tojo als vermisst auf der Strecke geblieben ist; sein Klang und sein Geruch und wie er sich anfühlt, das alles fehlt irgendwo in mir.
Ich besitze das Foto und ein tiefes Gefühl für diesen Mann. Ich habe klar und deutlich seine Stimme gehört, in seinen Briefen von den Schlachtfeldern Europas. Meine Mutter hat sie den Frauen aus der Nachbarschaft vorgelesen, wenn sie sich an Freitagabenden in unserem Wohnzimmer trafen, um in unserem Atwater-Kent-Radio Edward R. Murrow zuzuhören, der die Heimat zur Wachsamkeit anhielt. Ich war damals ein kleiner Junge in kurzen Hosen, der heimlich aus dem Nachbarzimmer lauschte, wenn meine Mutter die Worte meines Vaters vorlas, wobei ich irgendwie wusste, dass ich mir diese Briefe scharf einprägen sollte, selbst wenn ich nicht mal die Hälfte dessen verstand, was ich da hörte.
Ich wagte jedoch nie die Worte niederzuschreiben, und so ist das meiste davon verloren gegangen. Die Briefe gibt es nicht mehr, sie sind mit meiner Mutter ins Grab gegangen. Ruby hält dies für einen Diebstahl, und ich sehe es genauso.
Sonntagabend nach Irland. Um meinen einzigen noch lebenden Verwandten zu besuchen, meinen sterbenden Onkel Liam. Damit er Ruby kennenlernt, bevor auch er mich verlässt.
Ruby. Dort saß sie, mir gegenüber, im Schein des Kerzenlichts. Aber ich war in Gedanken meilenweit fort. Und doch hörte ich sie sagen: »Vielleicht wirst du nach dieser Reise mehr wissen. Willst du es wirklich wissen?«
Wie oft bin ich als kleiner Junge und als Mann nachts aufgestanden in dem festen Glauben, der Geist meines Vaters habe sich auf meiner Bettkante niedergelassen? Wie oft habe ich im Schlaf die Hand nach diesem Geist ausgestreckt, um etwas mehr zu haben von ihm als jene einzige Momentaufnahme aus Aidan Hockadays Leben, eingefangen in Licht und Schatten auf einem Stück Fotopapier?
»Vielleicht brauche ich einen Drink«, sagte ich. Ich gab dem Kellner ein Zeichen.
»Nur der Ordnung halber: ich missbillige das«, wandte Ruby ein.
Viel später, im Dämmerlicht eines grauenden Samstagmorgens, wurde ich mir des Geistes auf meiner Bettkante bewusst.
Ich streckte die Hand aus und bekam doch nur wie üblich Luft zu fassen. Ich mühte mich ab, Worte zu hören, da ich wusste, der Geist wollte sprechen. Aber nichts. Nur die vertraute Enttäuschung der Schlaflosigkeit.
Mit einem Zipfel meines Lakens wischte ich mir Schweiß von Gesicht und Hals. Dann schlüpfte ich aus dem Bett und ließ Ruby allein, die im Schlaf leise Geräusche machte.
Ich nahm das Foto meines Vaters von der Kommode und ging damit ins Wohnzimmer. Ich stellte es obenauf in meinen halb gepackten Koffer, der offen auf der Couch lag. In einer Kanne auf dem Herd in der Kochnische befand sich noch etwas Kaffee vom Vortag. Ich machte die Flamme darunter an und ging ins Bad, um mir mit Seife und kaltem Wasser das Gesicht zu waschen.
Als ich fertig war, schenkte ich mir eine Tasse bitteren, schwarzen Kaffee ein und setzte mich auf die Couch neben das Foto. Nur wir beide, Vater und Sohn. Willst du es wirklich wissen? Wenn dem so war, dann gab es nur noch eine letzte Chance, Antworten auf die Fragen über Aidan Hockaday zu bekommen; sie warteten auf der anderen Seite auf mich.
Vielleicht würde mir das Foto helfen. Ich fragte es: »Möchtest du mit mir nach Irland kommen?«
Ich beschloss, dass der Geist »Aber sicher, liebend gern begleite ich dich, Junge« antwortete. Und so versuchte ich, das Foto zwischen die Kleider in den Koffer zu zwängen; dann kam mir die glänzende Idee, dass ich das Gewicht des Gepäcks ein wenig verringern und vermeiden könnte, dass das Glas unterwegs zerbrach, wenn ich das Foto aus dem Rahmen nähme.
Die Metallbügel auf der Rückseite des Rahmens waren spröde und brachen heraus, als ich sie zurückbog. Dann löste ich den filzüberzogenen Karton und ließ das Foto herausgleiten. Es roch modrig, als sich eine kleine Staubwolke erhob; fast fünf Jahrzehnte Zeit und Schmutz unter Glas.
Einige Minuten lang hielt ich das Bild meines Vaters in Händen, starrte es zum ersten Mal in meinem Leben ohne gläserne Barriere an. Ich ließ meine Fingerspitzen über Aidan Hockadays Gesichtszüge gleiten; ich berührte das Spiegelbild meiner eigenen Nase und Lippen und Kinn.
Dann legte ich das Foto verkehrt herum zu meinen übrigen Sachen in den Koffer. Und entdeckte die elegante Handschrift …
Mit blauer Tinte, die all die Jahre durch das Gefängnis des Bilderrahmens vor dem Verblassen bewahrt worden war, hatte jemand ein Gedicht geschrieben:
»Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau,
»Sie haben meine Gans getötet und eine Katze.
Ertränkt, ertränkt in der Wassertonne,
Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau.