Ertränkt alle Hunde

Ertränkt alle Hunde

Ein Neil Hockaday-Roman | #3

Thomas Adcock

Übersetzt von Jürgen Bürger

Cover von Nikolaus Heidelbach

spraybooks Verlag

Inhalt

Danksagung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Werbung

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Anmerkungen des Übersetzers

Glossar

Über den Autor

Weitere Bücher von Thomas Adcock

Mehr spraybooks …

Danksagung

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle für die große Hilfe der Lebenden und Toten sowie der Schatten zwischen diesen Welten. Zu ersteren gehören vor allem mein Freund der Schauspieler und Schriftsteller Jeffrey Essman, der vielleicht doch kein vom Glauben abgefallener Katholik ist, dann meine Freundin und teure Lektorin Jane Chelius, die mich eines Tages während einer Zugfahrt entlang der spanischen Atlantikküste ermutigte, aus dem Herzen heraus zu schreiben, und schließlich meine Frau Kim Sykes, die nichts Geringeres ist als meine Hoffnung. 1939 starb der Dichter William Butler Yeats, der sich oft Sorgen machte, seine Poesie könnte die dunkleren Engel des Menschen wecken. Auszüge aus seinem »Remorse for Intemperate Speech« und »A Full Moon in March« (erschienen in Collected Poems of William Butler Yeats, Macmillan, New York, 1956) werden voller Dankbarkeit in diesem Buch verwendet. Die wunderbaren Theaterstücke von Brendan Behan (1923-64), des borstal boy persönlich, haben mich gelehrt, auf persönliche Geister zu lauschen, die in irischen Schatten wohnen. Und genau das habe ich beim Schreiben dieses Buches getan.

Für meine Tante Jean und Onkel Fred Bradshaw

Die Verschmelzung des Religiösen mit dem Politischen gebiert den Militanten, einen für eine Idee kämpfenden Krieger. Im Militanten sind zwei Figuren vereint: der Geistliche und der Soldat.

– Octavio Paz

Prolog

»Wie ist mir das alles zuwider! Bei Gott, wie sehr ist es mir zuwider.«

Nachdem dies gesagt war, befand er sich im Frieden mit allem, was er mir in dieser Nacht erzählt hatte.

Er drehte den Kopf zur Wand, gerade so, als wollte er an dem unsichtbaren Fenster die Wärme eines Morgens spüren.

Es war deutlich nach Mitternacht in den finstersten Stunden des frühen Sonntagmorgens, doch die Tageszeit besaß keinerlei Bedeutung für ihn. Ein sparsames Lächeln spielte um seine Lippen, während er dort in seinem Bett lag, ein Bett viel zu groß für ihn allein. Ich legte die Hand auf seine. Er ließ sie auf seiner pergamentenen Haut ruhen.

»Was genau ist dir zuwider?«, wollte ich wissen.

Er holte tief Luft, und seine blinden, blauen Augen schlossen sich. Dann zitierte er abermals von jenen Seiten, die er einst immer wieder gelesen und die sich in sein Gedächtnis eingegraben hatten: »Aus Irland geboren, wo dies alles begann, viel Hass, große Enge, verkrüppelt von Anfang an ... und mein fanatisches Herz wuchs schon im Mutterleib heran.«

Wo ich doch eine Reaktion hätte zeigen sollen, folgte nur Stille, ein betretenes Schweigen jener Art, die einem älteren Mann verrät, von einem jüngeren nicht verstanden worden zu sein. Seine nutzlosen Augen flatterten auf, und mit einem Anflug von Verzweiflung sagte er: »Es ist die Wurzel dieses Wahnsinns, die zu hassen ich gelernt habe, und es sind alte Männer an ihren Fenstern, die ich sogar noch mehr hasse.« Dann schob er meine Hand fort. »Und jetzt geh.« Das war für den Augenblick alles, ob ich nun verstand oder nicht. Er brauchte Ruhe.

Ich ging zur Tür und öffnete sie, drehte mich aber noch einmal zu ihm um. Was er spürte. Kaum merklich hob er den Kopf über den Berg von Decken und sagte: »Ich möchte, dass du mich nicht vergisst, wenn ich tot bin.«

»Habe ich das jemals?«

Eins

Bis auf die Sache mit dem toten Priester war es ein erfreuliches Wochenende.

Es war das Wochenende, an dem mir mit aller Deutlichkeit aufging, dass die Vergangenheit niemals vergangen ist, gleichgültig wie sehr wir auch immer versuchen, unsere Erinnerung zu planieren. Es war das Wochenende, an dem ich endlich beschloss, eine ernsthafte Figur in der Geschichte meines Lebens zu werden. Es war das Wochenende, mit dem der größte Fall meiner Laufbahn begann.

Zunächst sah ich keinerlei Größe, eigentlich nicht einmal einen Fall. Andere allerdings reagierten sensibler auf die aktuellen Ereignisse und jene, die noch bevorstanden. Ruby zum Beispiel. Dann auch Captain Davy Mogaill, mein Rabbi. Wie der Captain sich ausdrückte: »Welchen größeren Fall könnte ein Detective knacken als das Geheimnis seiner eigenen Herkunft?«

Diese Bemerkung ließ er an einem beschaulichen Nachmittag in Nugent’s Bar fallen. Diese kleine Weisheit neben anderen. Ich für mein Teil erzählte meinem Rabbi von Ruby und dem traurigen Anlass unseres für den folgenden Sonntagabend geplanten Fluges nach Dublin.

Während wir bei unserer angenehmen, langen und alkoholgeschwängerten Unterhaltung beisammensaßen, musste der alte Father Tim zweifellos zum ersten Mal begriffen haben, was ihn erwartete.

Zurück zu jenem Freitag, an dem dies alles begann:

Es war nach fünf an einem Nachmittag im April und zufälligerweise auch mein Geburtstag – allerdings verrate ich nicht, der wievielte. Ruby rief an, um mich davon in Kenntnis zu setzen, dass ich an diesem Abend einen netten Anzug und Krawatte anziehen solle, da sie nämlich mit mir zum Dinner in ein Lokal auf der East Side wolle, dessen piekfeines Niveau mir fremd war. Dank Ruby sind solche Ankündigungen inzwischen ein fester Bestandteil meines Lebens.

»Also, ich weiß nicht –«, sagte ich.

Ruby fiel mir ins Wort. »Ich lade dich ein.«

Worauf ich schnell erwiderte: »Wohin gehen wir und wann?«

Sie nannte mir die noble Adresse eines Restaurants, dessen Namen ich schon oft unter den Fotos zu Berichten der Times über Wohltätigkeitsbälle gelesen habe, und sagte, wir sollten uns dort um Punkt acht treffen. Womit mir zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten blieben, um im Revier Feierabend zu machen, mir auf dem Nachhauseweg die längst überfällige Rasur und einen frischen Haarschnitt verpassen zu lassen, zu duschen und noch eine Weile in Shorts und mit einigen Fingerbreit Johnny Walker Red Label herumzusitzen, den Abholschein für meinen guten Anzug zu finden, der sich in der koreanischen Reinigung befand, und meine Schuhe mit den Troddeln zu wienern. Anschließend würde ich ein Taxi benötigen, vorzugsweise eines mit einem Fahrer, der auch ohne meine Hilfe wusste, wie er von meiner irdischen Wohnung in Hell’s Kitchen quer durch die Stadt zum Planeten namens Park Avenue kam. Ich war als erster dort, und das nicht mal sonderlich pünktlich. Es war Viertel nach acht.

Das Restaurant zierte einer dieser Namen, die irgendwer schrecklich schick fand, ich aber einfach nur schrecklich. Ich glaube, halbwegs verständlich übersetzt dürfte das Lokal »Das Lama mit der paradoxen Garderobe« heißen. Vorbei am dezent beleuchteten Kommandoposten des Oberkellners, des Maître d’hôtel, sah ich, dass sich im Speiseraum alles drängelte, was man so für die New Yorker Schickeria hielt: Graue Eminenzen, die Hof hielten für katzbuckelnde jung-dynamische Managertypen in Armani-Anzügen, ehemalige Frauen einstiger Potentaten, Onkel Tom-Republikaner, unter Anklage stehende Wall Street-Hechte, schillernde Ladys mit langen Beinen und kurzen Lebensläufen sowie ein Sortiment weißer Typen mittleren Alters mit Bifokal-Pilotenbrillen, Anzügen von Bijan und kleinen Pferdeschwänzen.

»Oui, monsieur?« Der Maître d’ musterte mich verdrießlich mit Augen so schwarz wie seine Smokingjacke. Schließlich kräuselte er die Lippen, was ihn jahrelange Übung gekostet haben musste, und fragte: »Puis-je vous aider?«

Ich war nicht beeindruckt. Zufälligerweise weiß ich etwas über Frankreich, nämlich dass es ein Pflicht-Reiseziel für New Yorker ist, die auf Unverschämtheiten versessen sind; statt jedoch nach Übersee zu reisen, tut’s zur Not auch jedes x-beliebige französische Restaurant in Manhattan. Außerdem besaß der Akzent dieses Knaben viel zu viel vom Grand Concourse, wo eigentlich die Champs-Élysées durchklingen sollten. Überdies kam ich mir in meinem anthrazitfarbenen Kammgarnanzug, der lachsfarbenen Krawatte und den nach Schuhwichse duftenden, frisch polierten Schuhe ausgesprochen gut und gepflegt vor. Ich bin vielleicht der typische Barzahler, aber ein Banause bin ich deshalb noch lange nicht.

»Ich suche eine Dame«, erwiderte ich. Hinzugefügt hätte ich gern noch: Vergiss deine Nummer, Pierre, wir wissen doch beide, dass du deine Trinkgelder mit nach Hause in die Bronx nimmst. Aber ich bremste mich. Stattdessen sagte ich also: »Vielleicht ist sie ja schon hier. Ich schau mich einfach mal um.«

»Sir, das glaube ich kaum!« Pierre war völlig aus dem Häuschen und sogar richtiggehend schockiert, das arme Ding. Tapfer schob er sich zwischen mich und den Türbogen in den Speiseraum.

»Was –?«, setzte ich an.

»Damen ohne Herrenbegleitung erhalten von mir keinen Tisch.«

»Wie kommt denn so was? Ist das hier ein Schwulenladen?«

Dann von hinter mir Ruby mit einem Lachen in der Stimme: »Oh, Hock – benimm dich.«

Ich drehte mich um und sah sie auf mich zukommen. Aus seinem Wagen heraus genoss auch ihr Taxifahrer noch einen letzten Blick. An solche Dinge musste ich mich noch gewöhnen; Ruby ist wirklich ein Anblick, und ich bin nicht der einzige Mann in der Stadt, der Augen dafür hat. An diesem Abend trug sie einen dieser kleinen, mit Perlen besetzten schwarzen Fummel, die genau an den richtigen Stellen glitzern. Um ihre nackten braunen Schultern schmiegte sich ein Hauch von durchscheinendem, wollenen Flaum und um ihr Dekolleté glitzernder Strass, kastanienbraun war ihr Lippenstift, und in den Ohren trug sie winzige Diamantstecker.

Die Schauspielerin Miss Ruby Flagg weiß, wie sie sich für eine gute Kritik verpacken muss. Und an diesem Abend meines Geburtstages war sie in der Tat hübsch verpackt. Pierre hingegen bekam von der Festtagsstimmung nichts mit.

Entsetzt über mich appellierte er an Ruby. »Mademoiselle – s’il vous plaît!«

Sie sagte einfach: »Der Tisch für Detective Neil Hockaday.«

Pierre musterte mich wieder, verzichtete diesmal auf die gekräuselte Lippe, vielleicht aus Respekt vor dem Höflichkeitstitel, wahrscheinlich aber nicht. Jedenfalls konsultierte er seine Reservierungsliste, wobei er sich reichlich Zeit ließ, bevor er schließlich verkündete: »Ah, oui. Monsieur Hockaday – zwei Personen. Très bien

Wir folgten ihm zu einem Tisch in der Ecke. Dieser ausgesprochen gute Platz überraschte mich schon ein wenig, bis mir klar wurde, dass Ruby während ihrer Zeit in der Werbebranche vermutlich recht häufig geschäftlich hier gewesen sein und zweifellos haufenweise Geld hier gelassen haben musste.

Es war noch gar nicht so lange her, dass Ruby Geschäftskostüme getragen und eine Vielzahl von Zauberwässerchen verscherbelt hatte, die eine beeindruckende Bandbreite von Körpergerüchen beseitigten. Dafür erhielt sie ein beträchtliches Gehalt plus Bonuszulagen und flottem Spesenkonto. Als kluges Mädchen bunkerte sie einen Großteil dieses »albernen Geldes«, wie sie es nennt, und investierte in eine Manhattaner Immobilie – genauer gesagt in ein windschiefes, fahrstuhlloses Backsteingebäude unten an der South Street, in dem sie sich eine Wohnung und ein Ziemlich-Off Broadway-Theater einrichtete, das sich weniger durch Kartenverkäufe finanziert als vielmehr von Mieteinnahmen aus einem Friseursalon im ersten Stock und dem Restaurant im Erdgeschoß lebt.

Das war nun schon einige Jahre her. Doch jeder aus ihrer Vergangenheit erinnerte sich mit Sicherheit noch an Ruby Flagg. Angefangen mit unserem Freund dem Maître d’.

»Danke, Pierre«, sagte sie zu ihm, während er ihr den Stuhl zurechtrückte. Ich musste selber sehen, wie ich klarkam. Als er auf seinen Lackschuhen davonsteppte, fragte ich Ruby: »Heißt der Kerl wirklich Pierre?«

»Keine Ahnung«, sagte sie. »Aber er scheint glücklich zu sein, wenn ich ihn so nenne.«

Ein Sommelier eilte herbei und begrüßte Ruby mit einem Handkuss. Was ich mit einem dummen, missmutigen Blick quittierte. Ruby erkundigte sich nach seiner Frau und den Kindern, und er erwiderte, der Familie gehe es blendend. Dann durfte er abzwitschern und uns eine dieser geblümten Perrier-Jouët-Flaschen holen. Schließlich wandte sie sich mir zu und meinte: »Weißt du – gerade du solltest dich doch von Typen wie ihm nicht aus der Fassung bringen lassen.«

Inzwischen hatte ich mit meinen finsteren Blicken aufgehört. Stattdessen lächelte ich jetzt dümmlich das kleine Grübchen in Rubys Kinn an, und auch die reizende Spalte im Ausschnitt ihres Abendkleides. Ich sagte: »Sprichst du von Pierre?«

»Du weißt genau, wovon ich spreche. Wieso lässt du dem Mann nicht einfach seine kleinen Anmaßungen? Wo wärest du selbst ohne Täuschungen bei der Arbeit?«

Was eine grobe Untertreibung war. Allerdings muss ich leider einräumen, dass ich im Dienst nur selten einen Anzug trage, nicht mal einen von der formlosen Variante aus dem Sonderangebotskeller bei A&S, wie von den meisten mir bekannten Detectives bevorzugt. Und die Behauptung, meine Arbeitskleidung sei schlicht, könnte leicht als sträfliche Untertreibung angesehen werden. Meistens trage ich abgelegte Sachen von der Heilsarmee, die ich über die Jahre gesammelt habe – bis auf meine eigene gute, alte Yankees-Baseballkappe, circa 1963, und ein Paar schwarzer, knöchelhoher P-F Flyer Turnschuhe. Diese besitze ich bereits seit der Zeit, als ich mit der einst schönen Judy McKelvey verheiratet gewesen war, wir in Queens in einem niedlichen Haus mit Zaun drumherum unglücklich lebten, und ich einen Haufen Kids von der P.A.L. Baskettballiga des Viertels trainierte. Unordentlich rasiert und in meinen üblichen Klamotten würden Sie mich wahrscheinlich aus einer Gruppe von Männern, die nichts mehr zu verlieren und kein Ziel haben, nicht herausgreifen können, und genauso soll’s auch sein bei der SCUM Patrol – der Kurzform für Street Crimes Unit-Manhattan.

An diesem Abend jedoch hatte ich ein Ziel. Tatsächlich hatten wir noch einen sehr weiten Weg vor uns, bevor wir Schlaf finden würden. Schnell wechselte ich das Thema. »Reden wir über unsere Reise.«

»Gute Idee«, stimmte Ruby zu.

Der Sommelier kehrte mit dem Champagner an unseren Tisch zurück, schenkte zwei Gläser ein, stellte die Flasche in einen Eiskübel und ging. Ruby hob ihr Glas und sagte: »Auf uns und auf Irland, und auf deinen armen Onkel Liam – und außerdem auch noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein lieber Hock.«

Also tranken wir auf all das. Woraufhin ich einen zweiten Toast aussprach. »Und jetzt auf Ruby Flagg, mit Sicherheit die exotischste Frau in den Straßen von Dún Laoghaire.«

Ruby lachte. »Du meinst wohl: die einzige exotische Frau.«

»Du solltest nicht zu überrascht sein, wenn du dort das eine oder andere Gesicht siehst, das genauso dunkel ist wie deines«, sagte ich. »Vor ein paar hundert Jahren gab’s die spanische Armada, die ihre Spuren hinterlassen hat.«

»Stehst du auf schwarze Iren?«

»Ich mag beide.«

»Das würden die meisten irischen Männer anders sehen.« Sie lachte wieder. So wie sie es machte, gefiel es mir. Ich starrte ihre perfekten, weißen Zähne, ihre kastanienbraunen Lippen und die Spitze ihrer rosafarbenen Zunge an. Schon möglich, dass ich gesabbert habe.

»Woran denkst du, Ire?«, fragte Ruby.

»Ich denke daran, wie wir beide auf einem Sandstrand so weiß wie Zucker liegen und du mir was auf Französisch erzählst. Ich sehe dich an, und solche Gedanken kommen mir in den Sinn.«

Sie verdrehte ihre leuchtenden, hellbraunen Augen. »Ich darf nicht vergessen, dass du anders bist als die meisten Iren, stimmt’s?«

»Genau wie Onkel Liam«, sagte ich. »Falls du dir Sorgen machst, dass er dich nicht mögen wird, vergiss es.«

»Und wie gefiel ihm deine Frau?«

Musste sie davon anfangen? »Das ist schon lange her«, wiegelte ich ab.

»Ach, ja?«

In diesem Augenblick musste ich einfach denken, wie gut es für das Ego eines Mannes wie mir in der Mitte seines Lebens ist, im Fokus der abstrakten Eifersucht einer Frau zu stehen. Besonders einer Frau, die aussah wie Ruby.

»Lange genug«, sagte ich.

»Tut mir leid.«

»Vergiss es.«

»Okay.« Ruby fuhrwerkte mit einer gestärkten Serviette herum. »Weißt du, das mit deinem Onkel tut mir wirklich leid. Es ist zu blöd, dass du mit mir auf die andere Seite reist, um ihn zu besuchen, wo er doch … na ja, wo’s ihm eben geht, wie’s ihm geht.«

»Du meinst, wo er doch stirbt. Das wolltest du doch sagen.«

Ruby beugte sich zu mir und tätschelte meinen Arm, wie sich Leute bei Beerdigungen berühren. Hier saß ich und dachte bereits an solche Dinge wie eine Beerdigung. Ich bekam kaum mit, wie Ruby sagte: »Ich wünschte einfach nur, ich könnte deinen Onkel unter glücklicheren Umständen kennenlernen.«

Die Nachricht über Liams Gesundheitszustand hatte mich die Woche zuvor in einem Brief aus Irland erreicht, den ein gewisser Patrick Snoody geschrieben hatte, selbsternannter »treuer Freund« meines Onkels. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Snoody hatte geschrieben, um mich davon in Kenntnis zu setzen, dass Liam aufgrund seines schwachen Herzens nun ans Bett gefesselt sei; er schrieb, Liam habe »vielleicht noch ein Jahr oder auch mehr«; er brachte die typisch irische Beileidsbezeugung zum Ausdruck: »Ich bedaure natürlich sehr, Sie beunruhigen zu müssen.« Und nun, am Sonntagabend und unter diesen traurigen Vorzeichen, würden Ruby und ich nach Dublin fliegen, um einem angeschlagenen alten Knaben zu zeigen, dass das Leben weitergeht. Mehr konnte ich nicht tun.

»Ich bin kein Schwarzmaler«, sagte ich zu Ruby. »Ich sehen den Tatsachen nur ins Gesicht. Liam stirbt, und ich glaube, er selbst würde dieses Wort auch benutzen.«

Ein Kellner kam, flitzte geschäftig um Ruby herum und ignorierte mich völlig. Endlich war er soweit, unsere Bestellungen entgegenzunehmen, und endlich waren wir mit Essen fertig, das wirklich ausgezeichnet war und fast jeden Penny wert, den Ruby dafür zahlen musste. Als wir dann schließlich über Kaffee und Port saßen, ergab sich abermals dieses äußerst unappetitliche Thema.

»Wie war sie?«

»Sie –?« Als müsste ich fragen.

»Du weißt schon, wen ich meine.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich habe heute Geburtstag!«

»Deshalb gehe ich ja auch mit dir in dieses nette Lokal und sage herzlichen Glückwunsch. Jetzt fände ich’s aber nett, wenn du für dein Abendbrot ein bisschen singst. Ist das vielleicht zuviel verlangt? Du weißt doch, wie man singt, oder nicht? Immerhin warst du ja mal Chorknabe, Hock, warst du doch?«

Wann genau hatte ich das erwähnt? Die mit Abstand furchterregendste Sache bei Frauen ist, dass sie sich absolut an alles erinnern, was man ihnen einmal gesagt hat.

Was meine Zeit als Chorknabe betrifft, so war das schon richtig. Ich hatte im Knabenchor der Holy Cross Church an der West Forty-second Street den Sopran gesungen, als Harry Truman im Weißen Haus saß, Sunset Boulevard in den Kinos lief und es überall von gerissenen Kommunisten wimmelte, die Tag und Nacht daran arbeiteten, den American Way of Life zu untergraben.

Father Timothy Kelly hatte sich wegen dieser Kommunisten ganz besonders große Sorgen gemacht. Er war überzeugt, dass die Roten mit Satan im Bunde standen und sich vor allem anderen der Aufgabe verschrieben hatten, die jungen Menschen seiner Pfarre zu verderben. Folgerichtig hoffte Father Tim, uns leicht zu beeindruckenden Hell’s Kitchen-Jungs durch das Singen der Lieder des Herrn dazu bewegen zu können, stets auf unsere besseren Engel zu hören. Ein ganz besonderes Interesse hatte Father Tim, mich vor den subversiven Kräften jener Tage zu beschützen, da ich zufälligerweise der Neffe seines engen und sehr guten Freundes aus Dún Laoghaire war – mein Onkel Liam.

Eine Ewigkeit hatte ich schon nicht mehr an den Knabenchor gedacht. Genauso wenig an Father Tim, wie ich mich schäme einzugestehen. Jedenfalls seit Father Tim aus dem Viertel fortgezogen war, um den Lohn seines Berufslebens in Empfang zu nehmen: ein Zimmer in einem Heim für pensionierte Priester in einer baumbestandenen Straße in Riverdale oben in der Bronx. Einmal hatte ich ihn dort besucht, etwa eine Woche, nachdem er fortgezogen war. Danach rief ich noch drei- oder viermal an, nur um in Verbindung zu bleiben, wie ich es versprochen hatte. Dann wurde ich zu einem typischen Drecksack und verdrängte den alten Knaben auch aus meinem Kopf.

»Als Chorknabe habe ich zum Himmel gesungen«, erklärte ich Ruby. »An meinem Hochzeitstag sagte man mir, Ehen würden im Himmel geschlossen. Also wirst du verstehen, dass ich nicht viel Sinn darin sehe, heute noch zu singen.«

»Klar«, meinte Ruby, »und heute siehst du auch in der Ehe nicht mehr viel Sinn. Und deshalb wirst du mich deinem kleinen, alten irischen Onkel auch als – als was … deine kleine Freundin vorstellen?«

»So würde ich es nicht ausdrücken.«

»Wie willst du es denn ausdrücken, wenn du Liam von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst und er mich einfach nicht übersehen kann?«

»Ich werde ihm sagen, dass wir beide uns in einem langen, langsamen Tanz befinden.«

»Aha! Deine Worte kenne ich wohl, Mister Charmeur. Nur dass sie jetzt nicht mal mehr halb so clever klingen wie beim ersten Mal.«

Sie erinnern sich an absolut alles!

»Was willst du von mir?«, fragte ich.

»Du sagst nette Dinge, Hock, und das mag ich. Aber manchmal ist nett eben nicht genug.« Ruby hatte sich aus ihrem Stuhl zu mir vorgebeugt, und ich hatte die Wärme ihres Atems und die Hitze ihrer karamelfarbenen Haut genossen. Jetzt aber lehnte sie sich wieder zurück. »Wenn du über gewisse Dinge redest, hast du so eine Art, Worte in Mauern zu verwandeln.«

»Gewisse Dinge?«

»Zum Beispiel über deinen Vater. Deine Mutter –«

Ich fiel ihr ins Wort. »Entschuldige bitte, aber ich dachte, wir sprechen über meine Frau. Meine Ex-Frau.«

»Ja, über die auch. Wir reden über all die leeren Stellen, die Flecken deines Lebens, an denen Menschen Löcher in dir hinterlassen haben. Wenn ich mit einem Mann einen langen, langsamen Tanz tanze, dann will ich wissen, wo die Löcher sind.«

»Warum – du willst nicht riskieren hineinzustolpern?«

Ruby lächelte geduldig, als sei sie eine geduldige Nonne und ich der große, etwas begriffsstutzige Junge ihrer Klasse. »Soweit es andere Männer betrifft, die ich vor dir gekannt habe, ist das sicher richtig. Da du aber ein Cop bist, und ich dagegen absolut nichts tun kann, wer weiß, es könnte ja durchaus passieren, dass ich dich von Zeit zu Zeit retten müsste, oder? Du verstehst also, dass ich wissen muss, wo die Löcher sind.«

Ich versuchte es mit einem Scherz, einer Mauer. »Ich dachte, du magst mich nur wegen dem Sex.«

»Ich hab dir schon mal gesagt, mein Freund, dass ich es sehr ernst meine. Was bedeutet, bei unserem Tänzchen geht’s um weit mehr als nur um Drüsen. Außerdem muss ich dir leider mitteilen, dass du mit deiner Überzeugung schrecklich allein auf der Welt wärest, falls du dich für einen Großen Irischen Lover halten solltest.«

»Vergiss nicht – ich bin anders als die meisten irischen Männer, stimmt’s?«, nuschelte ich.

Meine Eitelkeit war angeschlagen, und das wusste Ruby genau. Und sie wusste auch, dass sie mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Also fragte sie wieder. »Wie war sie?«

»Sie hatte ein tolles Grübchen.«

»Du hast sie wegen einem Grübchen geheiratet?«

»Wäre ich der erste Mann, der sich in ein Grübchen verliebt und dann den Fehler begangen hat, das ganze Mädchen zu heiraten?«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Ich könnte noch sagen, dass es mich ziemlich beunruhigt, wie sehr ich das Grübchen in deinem Kinn liebe.«

»Ist das ein Antrag?«

»Im Moment ist’s erst mal ein Scherz.«

»Was ist mit deinem Vater? Willst du dich über ihn auch lustig machen?«

Sie hatte eine der leeren Stellen in mir erwischt. »Ich habe dir bereits alles erzählt, was ich weiß«, sagte ich. »Und das ist nicht besonders viel.«

Mein unbekannter Soldatenvater, von dem meine Mutter ihr ganzes Leben lang nur sagen konnte: »Dein Papa ist im Nebel verschwunden, mehr gibt's da nicht zu sagen; es tut viel zu weh, so von ihm zu sprechen, als wäre er je aus Fleisch und Blut gewesen.« Über den sein Bruder Liam bei seinen zahlreichen Besuchen nach dem Krieg nichts Aufschlussreicheres hinzuzufügen hatte.

Natürlich hatte Ruby das Foto gesehen, vielleicht das einzige, das es von meinem geheimnisvollen Vater gibt – jenes Foto, das auf der Kommode in meinem Schlafzimmer steht. Private First Class Aidan Hockaday von der United States Army in seiner steifen Uniform, deren Anblick allein schon gewaltig Respekt einflößt; ein gut aussehender junger Ire, der irgendwo im Krieg gegen Hitler und den Tojo als vermisst auf der Strecke geblieben ist; sein Klang und sein Geruch und wie er sich anfühlt, das alles fehlt irgendwo in mir.

Ich besitze das Foto und ein tiefes Gefühl für diesen Mann. Ich habe klar und deutlich seine Stimme gehört, in seinen Briefen von den Schlachtfeldern Europas. Meine Mutter hat sie den Frauen aus der Nachbarschaft vorgelesen, wenn sie sich an Freitagabenden in unserem Wohnzimmer trafen, um in unserem Atwater-Kent-Radio Edward R. Murrow zuzuhören, der die Heimat zur Wachsamkeit anhielt. Ich war damals ein kleiner Junge in kurzen Hosen, der heimlich aus dem Nachbarzimmer lauschte, wenn meine Mutter die Worte meines Vaters vorlas, wobei ich irgendwie wusste, dass ich mir diese Briefe scharf einprägen sollte, selbst wenn ich nicht mal die Hälfte dessen verstand, was ich da hörte.

Ich wagte jedoch nie die Worte niederzuschreiben, und so ist das meiste davon verloren gegangen. Die Briefe gibt es nicht mehr, sie sind mit meiner Mutter ins Grab gegangen. Ruby hält dies für einen Diebstahl, und ich sehe es genauso.

Sonntagabend nach Irland. Um meinen einzigen noch lebenden Verwandten zu besuchen, meinen sterbenden Onkel Liam. Damit er Ruby kennenlernt, bevor auch er mich verlässt.

Ruby. Dort saß sie, mir gegenüber, im Schein des Kerzenlichts. Aber ich war in Gedanken meilenweit fort. Und doch hörte ich sie sagen: »Vielleicht wirst du nach dieser Reise mehr wissen. Willst du es wirklich wissen?«

Wie oft bin ich als kleiner Junge und als Mann nachts aufgestanden in dem festen Glauben, der Geist meines Vaters habe sich auf meiner Bettkante niedergelassen? Wie oft habe ich im Schlaf die Hand nach diesem Geist ausgestreckt, um etwas mehr zu haben von ihm als jene einzige Momentaufnahme aus Aidan Hockadays Leben, eingefangen in Licht und Schatten auf einem Stück Fotopapier?

»Vielleicht brauche ich einen Drink«, sagte ich. Ich gab dem Kellner ein Zeichen.

»Nur der Ordnung halber: ich missbillige das«, wandte Ruby ein.

Viel später, im Dämmerlicht eines grauenden Samstagmorgens, wurde ich mir des Geistes auf meiner Bettkante bewusst.

Ich streckte die Hand aus und bekam doch nur wie üblich Luft zu fassen. Ich mühte mich ab, Worte zu hören, da ich wusste, der Geist wollte sprechen. Aber nichts. Nur die vertraute Enttäuschung der Schlaflosigkeit.

Mit einem Zipfel meines Lakens wischte ich mir Schweiß von Gesicht und Hals. Dann schlüpfte ich aus dem Bett und ließ Ruby allein, die im Schlaf leise Geräusche machte.

Ich nahm das Foto meines Vaters von der Kommode und ging damit ins Wohnzimmer. Ich stellte es obenauf in meinen halb gepackten Koffer, der offen auf der Couch lag. In einer Kanne auf dem Herd in der Kochnische befand sich noch etwas Kaffee vom Vortag. Ich machte die Flamme darunter an und ging ins Bad, um mir mit Seife und kaltem Wasser das Gesicht zu waschen.

Als ich fertig war, schenkte ich mir eine Tasse bitteren, schwarzen Kaffee ein und setzte mich auf die Couch neben das Foto. Nur wir beide, Vater und Sohn. Willst du es wirklich wissen? Wenn dem so war, dann gab es nur noch eine letzte Chance, Antworten auf die Fragen über Aidan Hockaday zu bekommen; sie warteten auf der anderen Seite auf mich.

Vielleicht würde mir das Foto helfen. Ich fragte es: »Möchtest du mit mir nach Irland kommen?«

Ich beschloss, dass der Geist »Aber sicher, liebend gern begleite ich dich, Junge« antwortete. Und so versuchte ich, das Foto zwischen die Kleider in den Koffer zu zwängen; dann kam mir die glänzende Idee, dass ich das Gewicht des Gepäcks ein wenig verringern und vermeiden könnte, dass das Glas unterwegs zerbrach, wenn ich das Foto aus dem Rahmen nähme.

Die Metallbügel auf der Rückseite des Rahmens waren spröde und brachen heraus, als ich sie zurückbog. Dann löste ich den filzüberzogenen Karton und ließ das Foto herausgleiten. Es roch modrig, als sich eine kleine Staubwolke erhob; fast fünf Jahrzehnte Zeit und Schmutz unter Glas.

Einige Minuten lang hielt ich das Bild meines Vaters in Händen, starrte es zum ersten Mal in meinem Leben ohne gläserne Barriere an. Ich ließ meine Fingerspitzen über Aidan Hockadays Gesichtszüge gleiten; ich berührte das Spiegelbild meiner eigenen Nase und Lippen und Kinn.

Dann legte ich das Foto verkehrt herum zu meinen übrigen Sachen in den Koffer. Und entdeckte die elegante Handschrift …

Mit blauer Tinte, die all die Jahre durch das Gefängnis des Bilderrahmens vor dem Verblassen bewahrt worden war, hatte jemand ein Gedicht geschrieben:

»Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau,

»Sie haben meine Gans getötet und eine Katze.

Ertränkt, ertränkt in der Wassertonne,

Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau.

Zwei

Er saß in seinem Zimmer, auf einem Sessel vor dem Fenster, das auf eine hübsche und friedliche Straße hinausführte. Die Mädchen aus dem Haus auf der anderen Straßenseite spielten Seilspringen; ein fetter Mann rauchte eine Zigarre und spazierte mit seinem fetten Zwillingshund an der Leine gemächlich vorbei; an der Treppe eines Hauses an der Straßenecke standen kleine Jungs und stritten sich um Murmeln. Durch das junge Frühlingslaub der den Block säumenden Ahorne und Platanen fiel das kräftige samstagmorgendliche Sonnenlicht und fleckte den Asphalt.

Mit einem tiefen Seufzer erwartungsvollen Bedauerns, das tausend Jahre alt klang, drehte er sich zu einem klingelnden Telefon auf dem Tisch neben sich. Er starrte auf das blinkende Lämpchen eines mit dem Telefon verbundenen Anrufbeantworters.

Als das Gerät sich nach dem sechsten Klingeln einschaltete, hörte er seine eigenen, aufgezeichneten Worte: »Father Timothy Kelly am Apparat … Im Moment bin ich nicht erreichbar … Hinterlassen Sie bitte Namen und Telefonnummer, ich werde Sie sobald wie möglich zurückrufen … Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Tag.«

Der Anrufbeantworter klickte einmal, um eine Nachricht entgegenzunehmen und aufzuzeichnen. Das Knistern und Knacken von statischem Rauschen. Und mit diesem Geräusch, das wusste er, drängte sich die unglückselige Vergangenheit in die Gegenwart.

Während der vergangenen zwei Tage hatte er zehn solcher Anrufe erhalten. Zehnmal hatte er den Hörer nicht abgenommen. Zehnmal war ihm klar, wer sich da so beharrlich weigerte, etwas zu sagen. Ja, bei Gott, er wusste es.

Nun aber sprach der Anrufer: »Was ist ein echter Patriot?«

Father Timothy Kelly kannte die Stimme. Ja, bei Gott. Er legte eine fahle, fleckige Hand auf seine pochende Brust.

In der Stimme schwangen unzählige Erinnerungen an einen anderen Ort mit: Das dunkle, träge Wasser der Liffey plätschert unter den O’Connell Street-Brücken; der Februarwind fegt durch Hecken entlang der Lehmstraßen außerhalb der Stadt; hinter dem Kuhstall stapft er mit matschbespritzten Stiefeln durch den Misthaufen, wo er und seine Brüder Pilze mit schwarzen Lamellen sammelten, wenn es zum Abendbrot der Familie nichts anderes gab …

… und später, bevor er das Land seiner Jugend verlassen musste, Kapuzen, mit denen die Gesichter seiner rechtschaffenen Kameraden maskiert waren.

Hatte er sich nicht all die Jahre so viele Male an diese Stimme und an diese Worte erinnert? Hatte er nicht erst letzte Nacht von ihnen geträumt?

Wieder fragte der Anrufer: »Was ist ein echter Patriot?«

Es hatte keinen Sinn mehr, es noch weiter zu ignorieren. Er nahm den Hörer ab und stieß einen weiteren tausend Jahre alten Seufzer aus. Der Anrufbeantworter zeichnete weiter auf.

Father Kelly antwortete seiner Vergangenheit mit den Worten, die in Erwiderung auf die gestellte Frage zu sagen er vor langer Zeit instruiert worden war: »Echte Patrioten haben Gewehre in den Händen und Gedichte in den Köpfen. Niemals wieder!«

Drei

Jeder New Yorker Cop, der noch dazu irischer Katholik ist, hat guten Grund, früher oder später Zyniker oder so etwas wie ein Mystiker zu werden. Oder, wie in meinem Fall, beides.

In meiner gnadenlosen Stadt gibt es wahrscheinlich acht Millionen Geschichten über irische Cops. Irische Cops – was fällt ihnen als Nächstes ein? Zu diesem äußerst beliebten Thema habe ich noch nie ein Buch gelesen oder einen Film im Kino oder Fernsehen gesehen, in dem mir mehr als bestenfalls die halbe Geschichte erzählt worden wäre. Dies liegt daran, dass Zynismus leicht zu haben und noch leichter zu erzählen ist, und weil Schriftsteller besonders faule Menschen sind.

Ein New Yorker Cop wird ungefähr dann zum Zyniker, wenn er zum zehnten Mal irgendeine Wohnungstür aufbrechen muss, um irgendeine schreiende Frau mit verquollenen schwarzen Augen und blutender Nase zu retten, die dann knurrend von hinten auf ihn losgeht, wenn er versucht, ihren Alten wegen der ihr angetanen Misshandlungen einzulochen. Eine düstere Weltsicht bewahrt einen Cop vor großem Kummer wie diesem, genau wie ein Asbestanzug einen Feuerwehrmann vor den Flammen schützt. Schriftsteller trinken den Zynismus natürlich mit der Muttermilch.

Aber an mystische Dinge zu glauben, das ist die schönere Seite der Polizeiarbeit. Ich persönlich glaube, dass die reine und schlichte Wahrheit selten rein und niemals schlicht ist; ich glaube an das geheimnisvolle Werk ereignisloser Tage; ich glaube an die Skepsis gegenüber Zufällen; ich glaube zutiefst an die Heiligen und die meisten anderen unsichtbaren und lautlosen Kräfte; ich glaube an den Heiligen Geist und an Geister, die nicht notwendigerweise geweihte Seelen sind.

Früher habe ich mal gedacht, es wäre sehr vernünftig von mir, an das zu glauben, was ich mache, vielleicht sogar intellektuell. Aber dank meines Vorgesetzten Inspector Tomasino Neglio weiß ich heute, dass dies lediglich auf eine gewisse mir eigene Phantasie zurückzuführen ist.

Vor ein paar Jahren lud mich der Inspector eines Abends zu Ehren meiner Beförderung zum Detective auf ein Steak ein. Nach einigen Drinks und nachdem er eine nette Show daraus gemacht hatte, mir meine goldene Dienstmarke in einem Etui aus echtem Aalleder zu überreichen, fühlte ich mich natürlich ziemlich gut, was auch für Neglio galt. Natürlich tranken wir noch ein paar Drinks mehr. Dann erst verriet mir der Inspector den wahren Grund für meine Beförderung. »Hock«, sagte er, »du besitzt eine sehr lebendige und rege Phantasie und bist so gerade eben noch nicht verrückt. Genau darauf lege ich bei einem Detective großen Wert.«

Oft frage ich mich allerdings: Ist es wirklich allein meine Vorstellungskraft?

Da saß ich also an einem heller werdenden Samstagmorgen lange vor meiner üblichen Aufstehzeit – gegen Mittag – mit einem Geist zusammen. Mit weit geöffneten Augen dank energischem Gesichtwaschen und dem starken, schwarzen Kaffee glaubte ich, wie ein Verrückter, mich gerade eben mit einem Foto unterhalten zu haben. Für den Mystiker in mir entsprach das alles durchaus der Realität.

Ich dachte an die grundlegenden Fragen in der Karriere eines jeden Cops: Fragen zu Zeit und Raum, zu Lebenden und Toten, Fragen von Recht gegen Unrecht. Und war ich wirklich allein dafür verantwortlich, dass ich mir solche Fragen stellte?

Nein, denn da war noch mehr; mehr als nur das Bild meines Vaters. Zum ersten Mal gab es nun Worte, gerade erst entdeckt, geschrieben auf die Rückseite von Aidan Hockadays Foto. Beantworteten sie die Fragen meines Lebens? Konnten sie mich auf den Weg zu den Antworten führen? Willst du es wirklich wissen?

Ich weiß, dass die meisten von uns zumindest an einige der Zehn Gebote glauben. Oder zumindest predigen wir sie.

Aber wir töten Spinnen und Schweine und Regenwälder und Einbrecher und Menschen unscheinbarer Völker und die Zeit und die Unschuld und Feinde und unangenehme Ideen und Initiative und Freude. Wir töten alles, was wir ungeschoren töten können, außer der Angst.

Und so tröstet sich ein irisch-katholischer New Yorker Cop wie ich mit der Erkenntnis, dass Gott selbst auch kein so besonders guter Cop ist.

Vier

Die Arthritis verursachte ein unangenehmes Stechen in den Beinen, und der Priester weinte, allerdings nicht wegen eines körperlichen Schmerzes. Neben ihm auf dem Telefontisch blinkte das rote Lämpchen des Anrufbeantworters. Ein Anruf, entgegengenommen und auf Band aufgezeichnet.

Er konnte aufstehen, zu der Kommode an der gegenüberliegenden Wand der winzigen Klosterzelle gehen und die Schublade aufziehen, in der er eine Flasche Jameson’s aufbewahrte, und das würde gegen den Schmerz in seinen alten Beinen helfen. Gegen die Tränen besaß er kein Mittel. Er versuchte, den Anblick unterhalb des Fensters zu genießen, aber es war jetzt nur mehr ein grelles und verschwommenes Bild; das Weinen hatte seine Augen in unscharfe Prismen verwandelt.

Er schob die Brille mit dem silbernen Metallgestell auf die Stirn hoch und wischte sich die Augen mit einem ordentlich gebügelten Taschentuch, in päpstlichem Goldfaden bestickt mit den Worten Roman Catholic Church of the Holy Cross, New York, N.Y. sowie den Jahren seiner Zeit im Priesteramt. Wieder füllten sich seine Augen, wieder wischte er sie ab.

Er stand auf und ging zur Kommode, um schließlich wenigstens etwas wegen seiner Beine zu unternehmen. In der Schublade tastete er nach dem Whiskey.

Draußen auf dem Flur waren Schritte zu hören, dann ein kräftiges Klopfen an seiner Tür. Schließlich die Stimme seines Zimmernachbarn. »Ist uns schon nach Frühstück?«

»Guten Morgen, Owen«, antwortete Father Timothy Kelly, drückte die Flasche Jameson’s an seine Lippen und inhalierte den holzigen Duft ihres Inhalts. »Ich bin heute ein bisschen trödelig. Geh schon vor, ich komme gleich nach.«

Sein Nachbar grunzte und ging weiter. Father Kelly lauschte auf die verhallenden Schritte. Dann nahm er einen tiefen, zittrigen Schluck aus der Flasche. Erneut musste er sein besticktes Taschentuch benutzen, diesmal, um sich Whiskey vom Kinn zu wischen. Was ihn an die vielen Säufer erinnerte, denen er im Laufe seines Lebens mit Rat zur Seite gestanden hatte. In einer anderen Schublade der Kommode fand er ein Glas, füllte es und kehrte zu seinem Sessel und dem Fenster zurück – um wie ein Gentleman zu trinken, auch wenn zu dieser Tageszeit nur ein Säufer trank.

Nach ein oder zwei Augenblicken begann seine Brust von neuem zu pochen, und er weinte wieder. Er bekreuzigte sich. Hatte er nicht immer schon gewusst, dass dieser Kummer wiederkehren würde? Wie oft hatte er den Bedrückten seiner Gemeinde die Weisheit mit auf den Weg gegeben: »Die Jugend verlässt einen niemals, sie meldet sich nur zu den ungelegensten Zeiten zurück«? Galt diese Lebensweisheit jetzt nicht auch für ihn?

Er leerte das Whiskeyglas zur Hälfte. Dann klingelte das Telefon wieder. Er nahm den Hörer nicht direkt ab. Wie bei allen anderen Anrufen während der vergangenen zwei Tage hörte er zunächst mit.

»Father Timothy Kelly am Apparat … Im Moment bin ich nicht erreichbar … Hinterlassen Sie bitte Namen und Telefonnummer, ich werde Sie sobald wie möglich zurückrufen … Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Tag.«

Diesmal allerdings folgte hierauf kein statisches Rauschen, und in der Stimme seines Anrufers schwang kein Echo des Liffey mit. Die Stimme hatte durchaus einen irischen Akzent, aber geboren und aufgewachsen war der Anrufer eindeutig in New York. Er war ausgesprochen erleichtert.

»Es ist Samstagmorgen, Father, und es geht um –«

Er nahm den Hörer ab und sagte: »Ja, ja – wer spricht denn da?«

»Neil Hockaday hier, Father …«

Seine Brust schmerzte, und er keuchte. Er bekreuzigte sich.

»Father Tim, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Der Priester log. »Bloß eine kleine Frühjahrserkältung.«

»Tut mir leid, dass ich nicht früher angerufen habe …«

Wieder log Father Tim, wie einsame Menschen es immer tun, wenn sie von denen um Verzeihung gebeten werden, die sie einsam machen. »Nun, ich weiß ja, wie es gehen kann.«

»Ich muss Sie sprechen, Father.«

Die Hände des Priesters zitterten. »Das klingt ja gerade so«, sagte er, »als wärest du in sehr großer Eile, mein Sohn.«

»Das bin ich. Es ist nicht mehr viel Zeit.«

»Ja«, seufzte der Priester, »so ist es.«

»Und, kann ich Sie sehen?«

»Natürlich, mein Sohn … allerdings nicht heute.« Heute, beschloss der Priester, würde er ins Kino gehen. Oh, was liebte er das Kino! Macht nichts, dass er es so viele Jahre von der Kanzel als Teil der kommunistischen Verschwörung gebrandmarkt hatte. Ein Priester hat das gleiche von Gott verliehene Recht auf Widersprüchlichkeiten wie jeder andere auch.

»Dann am Sonntag?«

»In Ordnung. Komm morgen zu mir.«

»Ich werde kommen.«

Der Priester dachte kurz nach, sagte dann: »Nicht hier. Treffen wir uns im alten Viertel. Ich werde die letzte Messe besuchen.«

»Sie meinen, in der Holy Cross?«

»Ja. Nach der Messe werde ich gern mit dir sprechen.«

Als die Verabredung getroffen war und Priester und Anrufer sich voneinander verabschiedet hatten, entschied Father Kelly sich für einen dritten Drink, bevor er zu den anderen nach unten ging. Whiskey würde ihm helfen, so zu tun, als sei dies nur ein weiteres, schier endloses Wochenende unter den anderen müden alten Priestern. Whiskey und das Kino.

Bevor er seinen Sessel verließ, legte er die tränenverschmierte Brille und das Taschentuch auf den Telefontisch. Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte noch die nächsten sechsunddreißig Stunden, bis die Tonbandkassetten entfernt wurden.