Erling Kagge

Gehen. Weiter gehen

Eine Anleitung

Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg

Insel Verlag

Ich danke meiner Mutter und meinem Vater, die mich auf Wanderungen mitnahmen, und Ingrid, Solveig und Nor.

You’re walking. And you don’t always realize itBut you’re always fallingWith each step, you fall forward slightlyAnd then catch yourself from fallingLaurie Anderson, Walking and falling

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Klara Lidénuntitled, (poster painting) 2010

Titel der Originalausgabe: Å gå. Ett Skritt om gangen

I

Eines Tages konnte meine Großmutter nicht mehr gehen.

An diesem Tag starb sie. Physisch lebte sie noch eine Weile, doch die neuen Knie, die man ihr anstelle der alten eingesetzt hatte, waren abgenutzt und konnten ihren Körper nicht mehr tragen. Da sie im Bett liegen musste, schwand auch die Kraft ihrer Muskeln. Das Verdauungssystem versagte. Das Herz schlug langsamer, ihr Puls wurde unregelmäßig. Die Lungen nahmen immer weniger Sauerstoff auf. Am Ende rang sie um Atem.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwei Töchter. Die jüngere, Solveig, war dreizehn Monate alt. Während ihre Großmutter sich langsam in einer embryonalen Lage zusammenkrümmte, spürte Solveig, dass es an der Zeit war, gehen zu lernen. Wenn sie die Arme über ihren Kopf hob und sich an meinen Fingern festhielt, konnte sie über den Fußboden des Wohnzimmers stapfen. Jedes Mal, wenn Solveig losließ und versuchte, einige Schritte allein zu gehen, entdeckte sie nicht nur, was oben und unten heißt, sondern dass es auch den Unterschied zwischen hoch und niedrig gibt. Als sie stolperte und mit der Stirn gegen die Kante des Wohnzimmertischs stieß, lernte sie, dass manche Dinge hart und andere Dinge weich sind. Gehen zu lernen gehört möglicherweise zu den gefährlichsten Dingen, die man im Laufe seines Lebens erlebt.

Schon bald konnte sie allein durchs Wohnzimmer gehen, dabei streckte sie die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Aus Unsicherheit lief sie mit kurzen Schritten in einer Art Stakkato. Als ich sie die ersten Male beobachtete, war ich überrascht, wie sie dabei ihre Zehen spreizte. Als wollte sie sich mit ihrer Hilfe am Fußboden festkrallen. »Des Kindes Fuß weiß noch nicht, daß er Fuß ist und möchte Schmetterling oder Apfel sein«, lautet die erste Zeile von Pablo Nerudas Gedicht »Vom Fuß seines Kindes aus«.

Mit einem Mal ging sie mit etwas sichereren Schritten durch die offene Terrassentür in den Garten. Die Füße hatten nicht mehr nur Kontakt mit dem Fußboden, sondern mit der Erdoberfläche. Mit Gras, Stein, Erde und schon bald Asphalt.

Ihre Persönlichkeit – ihr Temperament, ihre Neugierde und ihr Wille –, so schien es, war viel präsenter, wenn sie ging. Vielleicht irre ich mich, aber wenn ich sehe, wie ein Kind gehen lernt, wird mir klar, dass die Freude, es zu entdecken und es zu beherrschen, die stärkste Kraft ist, die es gibt. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, Grenzen zu erforschen und zu überschreiten, liegt in unserer Natur. Wir beginnen nicht nur, auf Entdeckungsreisen zu gehen, wir hören auch nicht mehr damit auf.

Als meine Großmutter in Lillehammer geboren wurde, dreiundneunzig Jahre vor Solveig, war die Familie noch auf die Füße angewiesen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Wollte Großmutter weiter weg, konnte sie den Zug nehmen, allerdings gab es für sie nicht allzu viele Anlässe, Lillehammer zu verlassen. Stattdessen kam die Welt zu ihr. In ihrer Jugend in Oppland lernte sie Autos aus Serienproduktion, Fahrräder und Flugzeuge kennen. Großmutter hat mir erzählt, dass Großvater sie bat, ihn nach Mjøsa zu begleiten, um sich gemeinsam ein Flugzeug anzusehen. Sie erzählte mit einer solchen Inbrunst davon, dass man hätte glauben können, es sei am Vortag passiert. Der Himmel war nicht länger den Vögeln und den Engeln vorbehalten.

*

Der Homo sapiens ist immer gegangen. Seit unsere Vorfahren vor siebzigtausend Jahren aus Ostafrika auswanderten, handelt unsere Geschichte vom Gehen. Die Bipedie, also das Gehen auf zwei Füßen, legte die Grundlage für alles, was wir heute sind. Unsere Vorfahren durchquerten Arabien, gingen zu Fuß weiter über den Himalaya und verbreiteten sich im Osten in Asien und zogen über die zugefrorene Beringstraße bis nach Amerika oder südlich bis nach Australien. Andere gingen westwärts in Richtung Europa und erreichten schließlich Norwegen. Diese ersten Menschen gingen weite Strecken zu Fuß, sie jagten mit neuen Techniken in größeren Gebieten, und sie erlebten mehr. Ihre Lebensweise führte dazu, dass ihr Gehirn sich schneller entwickelte als bei irgendeiner anderen Spezies. Erst lernten wir gehen, dann lernten wir, wie man ein Feuer macht und Speisen zubereitet, dann kam die Sprache.

Die Sprachen, die Menschen entwickelten, spiegeln wider, dass das Leben ein einziger langer Fußmarsch ist. Auf Sanskrit, einer der ältesten existierenden Sprachen der Welt, die ihren Ursprung in Indien hat, hat man der Vergangenheit das Wort gata gegeben, »wo wir gegangen sind«, und die Zukunft heißt anaˉgata, »dort, wohin wir noch nicht gekommen sind«. Gata ist sprachlich verwandt mit dem norwegischen gått, »gegangen«. Auf Sanskrit wird die Gegenwart ganz natürlich als »das, was direkt vor uns ist«, bezeichnet, pratyutpanna.

*

Ich weiß nicht, wie viele Touren ich unternommen habe.

Ich bin auf kurzen Wanderungen gewesen, und ich bin auf langen Wanderungen gewesen. Ich bin aus Städten hinausgegangen, ich bin in Städte hineingegangen. Ich bin in der Nacht und am Tag gelaufen, bin von meinen Geliebten aufgebrochen und zu meinen Freunden hingelaufen. Ich bin durch Wälder und über Berge gegangen, über eisbedeckte Weiten und durch von Menschen geschaffene Wildnis. Ich bin gegangen und habe mich gelangweilt, ich bin gegangen, um meiner Nervosität zu entgehen. Ich bin mit Schmerzen gegangen, ich bin voller Freude gegangen. Aber egal, wo und warum, ich bin immer weiter gegangen. Ich bin buchstäblich bis ans Ende der Welt gegangen.

Alle meine Gänge waren verschieden, aber wenn ich zurückblicke, entdecke ich eine Gemeinsamkeit: eine innere Stille. Gehen und Stille hängen zusammen. Stille ist abstrakt, Gehen ist konkret.

Bis ich eine Familie, ein Zuhause und einen Beruf hatte, habe ich nie darüber nachgedacht, warum es so wichtig ist zu gehen. Aber Kinder wollen Antworten: Warum sollen wir gehen, wenn es mit dem Auto doch schneller geht? Auch Erwachsene, mit denen ich gesprochen habe, können diese Frage stellen: Was ist der Witz daran, sich langsam von einem Ort zum anderen zu bewegen?

Ich habe es bisher mit der programmatischen Erklärung versucht, die einem sofort einfällt – die also das Gegenteil von der Essenz des Gehens, des Langsamen ist: Ich habe erklärt, dass einer, der geht, länger lebt. Dass er über ein besseres Erinnerungsvermögen verfügt. Dass der Blutdruck sinkt. Dass man seltener krank ist. Aber jedes Mal, wenn ich es sagte, wusste ich, dass es nur die halbe Wahrheit ist. Gehen ist selbstverständlich etwas sehr viel Größeres als das Aufzählen von Pluspunkten, die man in jeder Werbung für Vitamine lesen kann. Was steckt also wirklich dahinter?

Warum gehen wir? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?

Ich glaube, wir alle haben unsere eigene Antwort. Sollten wir zwei eines Tages nebeneinander hergehen, werden wir dabei unterschiedliche Erlebnisse haben. Aber wenn ich mir die Schuhe anziehe und die Gedanken wandern lasse, bin ich mir einer Sache sicher: Einen Fuß vor den anderen zu setzen, gehört mit zum Wichtigsten, was wir tun.

Also lasst uns gehen.

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