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WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE
AUS DEM
TECTUM VERLAG

Reihe Politikwissenschaften

WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE
AUS DEM
TECTUM VERLAG

Reihe Politikwissenschaften

Band 77

Dominik Meier mit Christian Blum

Logiken der Macht

Politik und wie man sie beherrscht

Tectum Verlag

Dominik Meier

Christian Blum

Logiken der Macht. Politik und wie man sie beherrscht

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag:

Reihe: Politikwissenschaften; Bd. 77

 

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018

ePub: 978-3-8288-7045-1

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4147-5 im Tectum Verlag erschienen.)

ISSN: 1869-7186

Umschlagabbildung: © Kim Bartelt

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

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www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

0 Einleitung

0.1 Vorrede

0.2 Struktur und Inhalt

0.3 Methode

1 Das Wesen der Macht

1.1 Definitorische Annäherung

1.2 Grundprinzipien der Macht

1.3 Mensch, Macht und Geschichte – die Anschlussfragen

2 Die Konkretionen der Macht

2.1 Machtformen

2.2 Macht und Symbolik

2.3 Machtfelder

2.3.1 Religion

2.3.2 Das ökonomische Machtfeld

2.3.3 Das politische Machtfeld

2.4 Das Gemeinwohl

2.5 Die Vektoren politischer Macht

2.5.1 Herrschaftskompetenz und Schulung

2.5.2 Herrschaftswissen und Strategie

2.5.3 Herrschaftsinstrumente und Organisation

2.5.4 Die Beherrschung der Machtvektoren: homo consultandus und homo consultans

3 Die Praxis der Macht

3.1 Das Macht-Schach-Modell

3.2 Befähigen

3.2.1 Politische Logik

3.2.2 Politische Sprache

3.2.3 Politisches Ethos

3.2.4 Die Werkzeuge und Techniken der Befähigung

3.3 Verdichten

3.3.1 Das Vier-Phasen-Modell

3.3.2 Die Werkzeuge und Techniken der Verdichtung

3.4 Gestalten

3.5 Global Governmental Relations

3.6 Schlussbemerkungen

4 Literatur

4.1 Fachliteratur

4.2 Sonstige Quellen

5 Index

5.1 Sachindex

5.2 Personenindex

Abbildungen

Abbildung 1: Entgegengesetzte Rentabilität von Drohungen und Versprechen

Abbildung 2: Wechselseitiges Konstituierungsverhältnis von Habitus und Praktiken

Abbildung 3: Typologie der politischen Systeme nach Aristoteles

Abbildung 4: Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption

Abbildung 5: Basismodell der substanzialistischen Gemeinwohlkonzeption

Abbildung 6: Interdependenz der drei Machtvektoren

Abbildung 7: Komponenten erfolgreicher politischer Strategie

Abbildung 8: Strategische Kalkulationen

Abbildung 9: Interdependenz der Komponenten politischer Strategie

Abbildung 10: Faktoren der politischen Vermittlung

Abbildung 11: Politisches Monitoring als Selektionsprozess

Abbildung 12: Filterung als erste Stufe der Intelligence

Abbildung 13: Priorisierung als zweite Stufe der Intelligence

Abbildung 14: Skalierung der Akteure

Abbildung 15: Netzwerkanalyse

Abbildung 16: Szenarioanalyse

Abbildung 17: Vier-Phasen-Modell

Abbildung 18: SWOT-Matrix

Abbildung 19: Stakeholder Issue Interrelation Diagram, nach Bryant, J. (2003): S. 196

Abbildung 20: Werkzeuge des politischen Gestaltens

Abbildung 21: Organisations- und Arbeitskulturen im Vergleich, Quelle: Meyer, Erin (2016)

0 Einleitung

0.1 Vorrede

Politik ist Macht und Entscheidung. Dieses Prinzip gilt für alle Epochen, für alle Systeme und Kulturen. Es gab und gibt keine herrschaftsfreien Räume. Egal ob wir die politische Arena bewusst betreten oder unfreiwillig in sie hineingeworfen werden, wir alle nehmen unweigerlich an einem Nullsummenspiel um Macht teil. Umso wichtiger ist es für jeden Einzelnen – ob Entscheidungsträger, Staatsbürger, Interessenvertreter oder politischer Berater –, die Regeln dieses Spiels zu verstehen und zu beherrschen. Dieses Buch wirft einen ehrlichen, umfassenden und durch zwei Jahrzehnte politischer Beratungserfahrung geschärften Blick auf die Logiken der Macht: von den begrifflichen Grundlagen bis zu den konkreten Werkzeugen, die das Fundament unseres eigenen, durch praktische Arbeit bewährten Power-Leadership-Ansatzes bilden.

Ein solcher Blick ist dringend geboten. Demokratien leben vom Vertrauen, das die Mitglieder jedes Gemeinwesens täglich den politischen Prozessen, Institutionen und Akteuren schenken. Ohne ein aufgeklärtes Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten von Macht und Politik setzt die Mythenbildung ein. Utopische Erwartungen oder Vorurteile machen sich breit und erodieren über kurz oder lang unser demokratisches System. Dieses Buch ist daher auch eine analytische Entzauberung der Macht. Zugleich ist es eine Innenansicht des politischen Kosmos und eine Reflexion über die Strategien, mit denen seine verschiedenen Protagonisten um Positionen und Vorteile im großen Nullsummenspiel konkurrieren. Wir zeichnen nach, wie Macht in der Alltäglichkeit der Politik gemacht wird und welche Schlüsselrolle dabei Berater spielen.

Diese fundamentale Machtlogik erschließen wir anhand dreier aufeinander aufbauender Grundfragen, die einen roten Faden durch das gesamte Buch bilden und unseren Lesern eine Orientierung bieten sollen:

Was ist das Wesen der Macht?

Was sind ihre Erscheinungsformen und Felder?

Wie wird sie in der politischen Praxis ausgeübt und legitimiert?

Dieser Parforceritt durch den Themenkomplex der Macht von den Fundamenten bis zu den Fragen der spezifischen Machttechniken ist kein Selbstzweck. Unser Buch fußt auf einer festen, durch tägliche Erfahrung verbürgten Überzeugung: Die praktische Beherrschung von Macht setzt ein profundes Verständnis für ihre Grundprinzipien, Manifestationsformen und Legitimationsbedingungen voraus – und die theoretische Durchdringung der Macht eine tiefe Vertrautheit mit ihrer Anwendung. Theorie und Praxis der Macht müssen zusammengedacht werden, wenn man das Phänomen verstehen und beherrschen will.

Aufgrund unseres Anspruchs, das Thema der Macht in einem kohärenten Gesamtentwurf zu durchdenken, richtet sich die Abhandlung an eine vielfältige Leserschaft. Mit diesen Zeilen führen wir das intensive Gespräch der letzten 20 Jahre mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Religion sowie mit der Beratungsbranche und dem wissenschaftlichen Publikum nun in Buchform fort. Zudem wollen wir jedem Bürger, der schon immer wissen wollte, wie Macht funktioniert, Einblicke und Anregungen bieten. Hierbei verzichten wir bewusst auf jede Moralisierung unseres Themas. Logiken der Macht ist zuerst und vor allem eine deskriptive Analyse, die den Leser nicht moralisch bevormunden will, sondern ihm selbst die Entscheidung überlässt, welche Schlüsse er für sein politisches Handeln aus der Lektüre ziehen will.

Korrespondierend zu den drei Grundfragen gliedert sich das Buch in drei systematisch verbundene Kapitel: Das Wesen der Macht – Die Konkretionen der Macht – Die Praxis der Macht. Aufbauend auf unserer Analogie vom Machtkampf als Nullsummenspiel ließe sich auch von der Eröffnung, dem Mittelspiel und dem Endspiel der Macht sprechen. Trotz dieser organischen und inhaltlichen Verbindung kann jedes einzelne Kapitel unabhängig von den anderen gelesen werden. Dem eiligen Leser, der es nicht abwarten kann, sich mit dem Rüstzeug des Machtberaters oder den konkreten Herausforderungen der politischen Strategieentwicklung und -umsetzung zu befassen, bieten wir etwa den Sprung in das Kap. 3 an. Gleichwohl lässt ein solcher Sprung nicht nur die methodologischen Grundlagen der Machtlogik außer Acht, sondern auch die historische und soziologische Verortung, mithin die funktionale Genese, des politischen Machtberaters. Kurzum, wir ermutigen jeden Leser, sich die Zeit zu nehmen, Logiken der Macht vom Anfang bis zum Ende durchzulesen. Bevor wir in medias res gehen, wollen wir einen kurzen Überblick über Struktur, Inhalt und Methode des Buches geben, um die Navigation durch die Themenfelder der Macht zu erleichtern.

0.2 Struktur und Inhalt

In Kap. 1, Das Wesen der Macht, stellen wir uns einer der grundlegendsten Fragen des ganzen Buches: Was ist Macht eigentlich? Für diese definitorische Annäherung nehmen wir den respektvollen Dialog mit den wichtigsten politischen Denkern der Menschheitsgeschichte auf: Aristoteles, Konfuzius, Ibn Khaldun, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, Max Weber, Michel Foucault und vielen anderen. Nach einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit deren Thesen und Argumenten optieren wir für eine pragmatische, anwendungsorientierte Definition: Macht ist doppelte Potenzialität, genauer, Macht ist das potenzielle Vermögen von Personen und Organisationen, den potenziellen Widerstand anderer Akteure zu überwinden.

Durch diese Charakterisierung gewinnt Macht eine probabilistische Komponente, sie wird zum Gegenstand der Strategie und der Szenarioprognose. Kurzum: Macht wird planbar. Allerdings ist mit dieser Definition die Analyse des Wesens der Macht keineswegs abgeschlossen. Ausgehend von unserer Begriffsbestimmung eruieren wir, ob Macht universellen Gesetzen folgt, die unabhängig von Ort und Zeit gelten und im Deutschland der Gegenwart oder in China ebenso zur Anwendung kommen wie im antiken Rom oder im mittelalterlichen Abbasidenreich. Die Ergebnisse dieser Analyse fassen wir in einer Liste kulturübergreifender Prinzipien der Macht zusammen: Macht ist in allen sozialen Feldern präsent und durchzieht alle sozialen Beziehungen, sie fußt in unserer Verletzungsoffenheit und in unserem natürlichen Streben nach Einfluss, sie ist moralisch neutral und erhält erst durch den Menschen ihre Gestalt und ethische Valenz.

Macht, so unser Zwischenfazit, ist ein wesentlicher, irreduzibler Bestandteil unserer Existenz. Deshalb hat es keinen praktischen Sinn, darüber zu reflektieren, wie man sie aus der Welt tilgen kann. Stattdessen stellt sich die Frage, wie Menschen Macht in den verschiedenen Gesellschaftsfeldern und vor allem in der Politik legitim, effektiv und effizient einsetzen oder mit ihr umgehen. Es gilt zu verstehen, wie sich Macht im politischen Gemeinwesen konkretisiert – und zwar sowohl als unbewusst wirksame Struktur, der wir ausgesetzt sind, als auch als bewusst eingesetzte Ressource zur Durchsetzung individueller Interessen.

In Kap. 2, Die Konkretionen der Macht, fassen wir konsequenterweise die Erscheinungsformen, Felder und Ressourcen der Macht in den Blick. Angelehnt an Heinrich Popitz, den Doyen der deutschen Machtforschung, klassifizieren wir vier Grundformen: Aktionsmacht, instrumentelle Macht, technische Macht und autoritative Macht. Jede dieser Formen weist eigene Charakteristika und Effekte auf und setzt spezifische Fertigkeiten aufseiten des Macht-Habers voraus. Zudem manifestiert sich jede von ihnen in den drei großen Machtfeldern jeder Gesellschaft: Religion, Ökonomie und Politik. Diese Felder zeichnen sich nicht nur durch jeweils eigene Symbole, Praktiken und Habitus aus, sondern vor allem durch eigene Machtressourcen: unverzichtbare Mittel und Fähigkeiten, um im jeweiligen Feld Einfluss zu gewinnen und auszuüben.

Allerdings sind Religion, Ökonomie und Politik nicht nur Arenen des Machtkampfes, sondern konkurrieren auch untereinander kontinuierlich um Macht. Ein Sonderstatus kommt hierbei dem Feld des Politischen zu, insofern es durch seine institutionelle Ordnung und seine kollektiv verbindlichen Normen in alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens hineinwirkt. Daher richten wir unseren Fokus auf die Legitimationsbedingungen und auf die Ressourcen politischer Macht. Die Legitimitätsfrage ist untrennbar mit dem Leitprinzip des Gemeinwohls verknüpft; politische Entscheidungen und Institutionen beziehen ihre Rechtfertigung zuerst und vor allem aus dem Wohl des Gemeinwesens als eines Ganzen. Die Ressourcenfrage führt uns wiederum zu einer Trias, die uns von nun an durch das Buch begleiten wird: Herrschaftskompetenz, Herrschaftswissen und Herrschaftsinstrumente. Diese Ressourcen politischer Machtausübung bilden einen Komplex interdependenter Bedingungen, weswegen wir sie auch die Machtvektoren nennen. Nur wenn ein Akteur alle drei Vektoren beherrscht, kann er im Ringen um politische Macht langfristig bestehen.

Aufgrund der immensen Bedeutung dieser drei Vektoren für Theorie und Praxis politischer Macht widmen wir den Abschluss von Kap. 2 ihrer ausführlichen Diskussion. Herrschaftskompetenz definieren wir unter Rückgriff auf den Schlüsselbegriff der aristotelischen téchne als praktisch-intuitive Beherrschung des politischen Handwerks. Herrschaftskompetenz wird – wie wir anhand historischer Vignetten von der Antike bis zur Gegenwart zeigen – in politischen Eliten stets von Kindesbeinen an tradiert und eingeübt. Das Herrschaftswissen bildet demgegenüber die Seite der epistémé, also der Kenntnisse über politische Strategie, narrative Herrschaftsbegründung und Verwaltungstechnik. Unter dem Schlagwort der Herrschaftsinstrumente diskutieren wir schließlich die technologischen und sozialen Werkzeuge, derer sich die Akteure im Machtkampf bedienen können und müssen: Waffen, Kommunikationsmittel, Überwachungstechnologie und Massenmedien sowie Militär, Polizei, Geheimdienste, Verwaltungen und informelle Netzwerke.

Die Beherrschung und die Koordination dieser drei Machtvektoren stellt eine hochanspruchsvolle, psychisch und physisch fordernde Aufgabe dar. Sie ist im Alleingang kaum zu bewältigen. Der politische Akteur erweist sich, wie wir inspiriert von Peter Sloterdijk diagnostizieren, als homo consultandus, als zu beratender Mensch. Ihm muss folgerichtig ein homo consultans, ein politischer Berater, zur Seite treten, um ihn bei der Machtausübung zu unterstützen. Dieser homo consultans betritt die weltgeschichtliche Bühne bereits in der Antike, und zwar in Gestalt des Sophisten. Er weicht von nun an – sei es als mittelalterlicher Königsberater oder als neuzeitlicher Geheimrat – nicht mehr von der Seite der Mächtigen. Damit steht gleichsam die zentrale Frage im Raum, was die Funktionen, Verantwortlichkeiten, Werkzeuge und Techniken dieses entscheidenden Protagonisten in der repräsentativen Demokratie unserer Gegenwart sind.

In Kap. 3, Die Praxis der Macht, beantworten wir diese Frage. Wir entwickeln ein Curriculum des politischen Machtberaters für das 21. Jahrhundert: Power Leadership. Dieser Ansatz synthetisiert einerseits die Ergebnisse und Befunde unserer vorangegangenen Diskussion über die Logiken der Macht, und er speist sich andererseits aus der eigenen, mehr als zwei Jahrzehnte umspannenden Beratungserfahrung.

Dieses Curriculum ist sowohl Praxisleitfaden für den angehenden Berater als auch Diskussionsanstoß und Anregung für den erfahrenen Macht-Experten, der mit dem Beratungsrüstzeug bestens vertraut ist. Der Power-Leadership-Ansatz beschreibt das Aufgabenspektrum und das Ethos des homo consultans in Hinblick auf die Beratung von Amtsträgern und Institutionen sowie von wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessengruppen. Kurzum: Er legt die Grundlagen für jedes Einsatzgebiet des politischen Feldes.

Dieses Curriculum kreist – korrespondierend zu den Vektoren der Macht – um drei Leitprinzipien: Befähigen, Verdichten, Gestalten. Unter dem Schlagwort des Befähigens beschreiben wir die Techniken der Kompetenzvermittlung und deren inhaltliche Schwerpunkte: politische Logik, politische Sprache, politisches Ethos. Dies ist der Punkt, an dem der homo consultandus für die Bewährung in der politischen Arena geschult wird und ein vertieftes Regelverständnis für das Nullsummenspiel um Macht erwirbt; entsprechend diskutieren wir in diesem Abschnitt sowohl die Grundelemente des individuellen Coachings und Trainings als auch die Organisationsberatung und Positionierungsberatung von Organisationen und Institutionen.

Mit dem zweiten Schlagwort, dem Verdichten, sind die Beschaffung, Filterung und Priorisierung von Informationen sowie deren Einordnung und Evaluation durch Analysewerkzeuge, wie das Stakeholder-Mapping oder die Themen-Identifikation, beschrieben. Ziel dieses informationalen Beratungsprozesses, den wir anhand unseres praxiserprobten Vier-Phasen-Modells darstellen, ist ein kontinuierlich aktualisierter, kondensierter Wissensstand der politischen Arena. Dieser Wissensstand ermöglicht Berater und Klient eine gemeinsame, akkurate Lageeinschätzung externer Chancen und Bedrohungen sowie interner Stärken und Schwächen, und er kumuliert in der auf Risiko- und Szenarioanalysen gestützten Strategieentwicklung.

Unter dem dritten und letzten Schlagwort, dem Gestalten, diskutieren wir entsprechend das Aufgaben- und Methodenset der Strategieumsetzung: Teamaufstellung, Projektkoordination, Planung und Organisation von politischen Formaten und Stakeholder-Dialogen, Allianzbildung, Mobilisierung und Campaigning. Das politische Gestalten, die konkrete Machtausübung im Feld der Politik durch Interaktion mit Organisationen und Personen, ist der eigentliche Lackmustest für die vorangegangene Befähigung und Verdichtung. Entsprechend diskutieren wir in diesem Kontext die praktischen Herausforderungen – vom politischen Eventmanagement über die sensible Kommunikation mit Klienten und Stakeholdern bis hin zur Strategieevaluation –, vor die jeder Machtberater im politischen Alltagsgeschäft kontinuierlich gestellt wird.

Den Schlussstein des Buches bildet eine Reflexion über die kontinuierlich wachsende Relevanz der Globalisierung für den Machtberater und über die Disziplin der Global Governmental Relations. Wir skizzieren, was es heißt, politische Strategien über nationale Grenzen hinweg zu konzipieren und zu koordinieren, und welche organisatorischen Anforderungen aufseiten des homo consultans und homo consultandus bestehen. Die Zukunft der Machtberatung liegt in der politischen, ökonomischen, technologischen und informationalen Vernetzung des globalen Machtfelds. Die wichtigste Herausforderung des homo consultans ist es, dieses Machtfeld durch stete Optimierung seiner Werkzeuge und Methoden beherrschbar zu machen.

0.3 Methode

Die Kapitel der Logiken der Macht, Das Wesen der Macht – Die Konkretionen der Macht – Die Praxis der Macht, werden durch eine gemeinsame methodologische Klammer verbunden. Unsere Analyse- und Darstellungsmethodik beruht auf der Kombination von fünf einander ergänzenden Elementen: politische Theorie und Philosophie, Anthropologie, Historiografie, Praxeologie, praktisches Erfahrungswissen. Unsere Auswahl ist nicht eklektisch. Wir haben uns bewusst für dieses Methodenset entschieden, um die gesamte thematische Breite des Phänomens der Macht – von der allgemeinen Definitorik und den Grundprinzipien bis zur Darstellung des Power-Leadership-Curriculums – nachvollziehbar und verstehbar zu machen.

Der politischen Theorie und Philosophie kommt hierbei die grundlegende Funktion zu, die Definitorik der Macht und ihre Legitimationsbedingungen – insbesondere in Hinblick auf das Gemeinwohl – zu entwickeln. Zur Vermeidung eurozentrischer Befangenheit und zur größtmöglichen Ausschöpfung der intellektuellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte suchen wir den Dialog mit westlichen und nicht westlichen Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart: von Laotse bis Jean-Jacques Rousseau, von Al-Mawardi bis Ernst Fraenkel. Auf diesem Wege vermeiden wir eine dogmatische Festlegung auf doktrinäre Denkschulen und die mit ihnen verknüpften Paradigmen. Letzten Endes, so unser methodologisches Credo, muss sich jeder Denkansatz daran bewähren, ob er die Logiken der Macht in Theorie und Praxis erschließen kann oder nicht.

Auf die Disziplin der Kultur- und soziologischen Anthropologie rekurrieren wir, um die Universalien der Macht zu explizieren, also die Faktoren, welche unabhängig von Kultur und Epoche gelten. So klären wir hier unter Rückgriff auf diskursbeherrschende Autoren wie Aristoteles, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, welche Determinanten den Menschen als Zoon politikon, Techniker und Mängelwesen prägen und welche Auswirkungen diese anthropologischen Konstanten auf das Verhältnis von Mensch und Macht haben. Hierbei setzen wir freilich voraus, dass so etwas wie eine allgemeine Anthropologie überhaupt möglich und sinnvoll ist. Ohne generalisierbare Aussagen über das Wesen des Menschen sind auch keine generalisierbaren Aussagen über das Wesen der Macht möglich; beide Aspekte sind notwendig verknüpft.

Dem Element der Historiografie kommt die Schlüsselrolle zu, das Phänomen der Macht an der Schnittstelle von Universalität und Kontingenz anschaulich zu machen. In unserer Darstellung rekurrieren wir zur Illustration sowohl auf zeitgeschichtliche als auch auf historische Beispiele für spezifische Techniken, Gesetzmäßigkeiten, Herausforderungen und Dilemmata der Herrschaftsausübung – von den Hochkulturen der Antike, wie den Sumerern, Persern und Römern, über die mittelalterlichen Reiche Europas und Asiens bis zur unmittelbaren Gegenwart. Diese Vignetten verdeutlichen einerseits, dass die Grundlogik der Macht in jeder Kultur und jeder Epoche stets dieselbe ist und sich als roter Faden durch die Weltgeschichte zieht. Sie illustrieren andererseits jedoch auch, dass Macht stets einen Prozess der kulturhistorischen Codierung und Kontextualisierung durchläuft, weswegen ihre Beherrschung ein Verständnis sowohl der Machtuniversalien als auch der Besonderheiten des jeweiligen Kontextes erfordert. Diese Herangehensweise an unser Thema ist nicht nur illustrativ. Sie hebt auch praktische Ressourcen, indem sie von den Erfahrungen vorangegangener Generationen profitiert und die Geschichte als Lehrbuch der Macht nutzt.

Die Methode der Praxeologie kommt schließlich dort zu ihrem Einsatz, wo Macht als Analysegegenstand gesellschaftlich konkret wird und wo es darum geht, Politik in der Alltäglichkeit erfahrbar und greifbar zu machen. Unter Praxeologie verstehen wir hierbei eine aus der Soziologie und Kulturwissenschaft entlehnte Methode, mit der die wirkmächtigen Sozialstrukturen und faktischen Machtverhältnisse eines Gemeinwesens aus der Konvergenz bzw. Divergenz von politischem Diskurs und Praxis erschlossen werden. Die praxeologische Sichtweise vergleicht, kurz gesagt, Aussagen und Handlungen politischer Akteure – und zwar Personen und Organisationen gleichermaßen – und kontextualisiert auf diese Weise die Reproduktion oder Diskontinuierung von politischen Prozessen, Ritualen, Institutionen und Symbolen. Hinter dieser Methode steht die Einsicht, dass Macht und Herrschaft nur im und durch den praktisch-diskursiven Vollzug im kollektiven, menschlichen Handeln existieren und daher von einem Moment auf den anderen entweder immer wieder neu bestätigt oder modifiziert bzw. revidiert werden müssen. Durch ihre Ordnungsleistung schafft die Praxeologie Orientierung im Machtfeld der Politik und schärft den Blick für das Wesentliche.

Die Grundierung für all diese Methoden muss freilich das eigene Erfahrungswissen bzw. die aus jahrelanger Beratungstätigkeit gewonnene Vertrautheit mit dem Ringen um Herrschaft und Einfluss bilden. Jedwede Theorie – egal ob Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Theologie oder Geschichte – bleibt bloß abstrakte Reflexion, wenn sie nicht durch die erstpersönliche, unmittelbare Erfahrung mit den Logiken der Macht ergänzt wird. Daher speist sich die vorliegende Darstellung nicht zuletzt aus einem jahrzehntelangen persönlichen Lernprozess bei der Beratung verschiedenster Personen und Organisationen im Machtfeld der Politik, aus unzähligen Erfolgen und Misserfolgen bei der Mitgestaltung demokratischer Prozesse und aus einer niemals verebbten Begeisterung für das große Nullsummenspiel um die Macht.

1 Das Wesen der Macht

1.1 Definitorische Annäherung

Macht ist vielgestaltig. Sie tritt uns allgemein und in der politischen Praxis in den unterschiedlichsten Formen entgegen. Macht äußert sich im martialischen Pomp einer Militärparade, in der Entscheidung eines Staatschefs über Krieg und Frieden, in einem parlamentarischen Beschluss oder in der Polizeikontrolle am Straßenrand. Machtstrukturen durchdringen soziale Beziehungen – bewusst wahrgenommen oder unbewusst. Von der Erziehung der Eltern bis zum Totenbett sind Menschen von diesen Strukturen umgeben. Macht ist subtil und brachial, stillschweigend und beredt. Die augenfällige Heterogenität dieser sozialen Phänomene hat Max Weber in seinem Standardwerk Wirtschaft und Gesellschaft dazu veranlasst, den Machtbegriff als »soziologisch amorph«, also als schillernd und schwer fassbar einzustufen.1 Es scheinen also erhebliche Zweifel angebracht zu sein, ob sich überhaupt eine singuläre Machtdefinition beschreiben lässt bzw. ob ein Gattungsbegriff identifiziert werden kann, unter den alle Machtphänomene überzeugend zu subsumieren sind.2 Dieser Herausforderung bewusst, gilt es dennoch eine definitorische Annäherung zu wagen, freilich nicht im Sinne einer unumstößlichen Begriffsbestimmung. Stattdessen geht es uns um eine pragmatische Arbeitsdefinition, die unserem konkreten Erkenntnisinteresse sowohl als Handelnde in politischen Prozessen als auch als Beobachter dieser Prozesse gleichermaßen angemessen ist.

Hierbei fangen wir nicht bei null an. Staatstheoretiker, Philosophen, Soziologen und Historiker haben seit Jahrtausenden das Konzept der Macht untersucht und unterschiedlichste, oft konträr entgegengesetzte Definitionen und Beschreibungen vorgelegt. Das Feld lässt sich am besten kurz anhand zweier Kontroversen ordnen, die zugleich den Orientierungspunkt unserer eigenen definitorischen Annäherung bilden.3 Der erste Streitpunkt betrifft die Frage, ob Macht primär als Fähigkeit zum zielgerichteten Handeln, also als Macht zu, oder als Vermögen zur Kontrolle anderer Personen, also als Macht über, aufzufassen ist. Der zweite Streitpunkt ist, ob es sich bei Macht um eine Ressource handelt, die von individuellen und kollektiven Akteuren besessen werden kann, oder ob sie eine soziale Struktur ist, die das Handeln von Akteuren lenkt oder sogar völlig determiniert. Entscheidend für uns ist, dass beide Kontroversen inhaltlich voneinander unabhängig sind. Eine Festlegung in Bezug auf einen Streitpunkt lässt keine Schlussfolgerungen für eine Festlegung hinsichtlich des anderen Streitpunkts zu. Um uns einer Arbeitsdefinition zu nähern, skizzieren wir im Folgenden beide Kontroversen und positionieren uns in diesem Kontext.

Das Begriffsverständnis von Macht als Macht zu ist historisch früh verankert. Bereits in der Metaphysik entwickelt Aristoteles sein Kernkonzept der dynamis, das sich je nach Kontext als Möglichkeit, Fähigkeit oder Handlungsmacht übersetzen lässt.4 Aristoteles begreift dynamis ganz grundsätzlich als Vermögen eines Organismus – sei es nun ein Mensch oder ein Tier –, sich selbst oder andere Dinge zielgerichtet zu verändern. Dynamische Lebewesen sind demnach solche, die das Potenzial haben, aktiv und bis zu einem gewissen Grade planvoll auf ihre Umgebung einzuwirken. Diese Begriffsbestimmung finden wir, konsequent durch die Antike weitergetragen, bei den Scholastikern wieder, die das griechische dynamis ins lateinische potentia übersetzen. Spannenderweise setzt sich dieser »potentia«-Begriff des Vermögens nahezu ohne Bedeutungsänderung durch das gesamte Mittelalter durch.5 Thomas Hobbes nimmt diese wirkmächtige Machtdefinition in der frühen Neuzeit wieder auf, verengt die Machtkonzeption jedoch entscheidend. In seinem Leviathan legt er nämlich folgende neue Definition vor: »The power of a man […] is his present means to obtain some future apparent Good«.6 Macht, so Hobbes nun, ist eine spezifisch menschliche Kategorie, und zwar eine, die er jetzt an die Bedingung zur Verwirklichung subjektiver Interessen koppelt. Allerdings bleibt Hobbes insofern der aristotelischen Ursprungskonzeption treu, als auch er das Vermögen zu handeln ins Zentrum seiner Machtkonzeption rückt. Der Machtumfang einer Person oder Gruppe von Personen hängt somit in konstitutiver Weise ab vom Umfang ihrer Handlungsoptionen zur Erreichung ihrer verschiedenen Ziele. Hobbes’ Definition erweist sich für die Machttheoretiker und -praktiker in ihrem Herrschaftshandeln in der Folgezeit als so einflussreich, dass sie ihren Weg bis in die Gegenwart hineinfindet. Exemplarisch für die Nachwirkung dieses Konzepts ist etwa die Position der Philosophin Amy Allen, die Macht auffasst als »ability […] to attain an end or series of ends«.7 Diese Fähigkeit, so konkretisiert Allen das hobbessche Paradigma, muss nicht erfolgsgarantierend sein bzw. die Verwirklichung des gewünschten Zweckes erzwingen. Ein Akteur verfügt bereits dann über Macht, wenn die Durchführung einer Handlung das Eintreten des intendierten Effekts wahrscheinlich macht. Somit erweitert Allen Hobbes’ Konzeption um eine explizit probabilistische Komponente. Die Macht eines Akteurs bestimmt sich nicht allein durch den Umfang seiner Handlungsoptionen, sondern auch durch die Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechenden Handlungen bei ihrer Durchführung erfolgreich sind.

Das zweite, konkurrierende Begriffsverständnis von Macht als Macht über, demzufolge Macht wesentlich eine Beziehung der Dominanz zwischen Personen ist, lässt sich in seiner ideengeschichtlichen Genese weniger leicht zurückverfolgen. Für viele Gesellschaftstheoretiker beschreibt Niccolò Machiavelli diese Konzeption zum ersten Mal explizit in seinem Macht-Klassiker, dem Fürsten.8 Dafür ist unstrittig, wer die in der Gegenwart bekannteste Definition dieses Konzepts vorgelegt hat, nämlich Max Weber: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«.9 Es lohnt sich, diese kompakte Begriffsbestimmung in ihre Komponenten zu zergliedern. Erstens impliziert das Macht-über-Konzept, wie es Weber darlegt, eine sich gegenseitig bedingende Beziehung zwischen einem Machthaber und einem Machtunterworfenen.10 Während die aristotelische Definition von Macht, die auf dem bloßen Vermögen zum erfolgreichen und zielgerichteten Handeln fußt, auch in einer Welt noch Anwendung fände, in der nur noch ein einziger Mensch am Leben wäre, ließe sich nach Webers Verständnis in einem solchen Szenario gar nicht mehr sinnvoll von Macht sprechen. Macht im weberschen Sinne ist irreduzibel sozial, und sie setzt mindestens zwei Personen voraus.11 Zweitens impliziert dieses Machtkonzept einen potenziellen Widerstand, der potenziell überwunden wird. Das heißt: Macht setzt konkret einen Willen voraus, der, wenn er dem Willen des Machthabers entgegensteht, von diesem überwunden werden kann, wenn der Machthaber dies will.12 Dies bedeutet, wie Byung-Chul Han treffend festhält, dass sich Macht nicht notwendigerweise in Zwang äußern muss.13 Diese Dominanztheorie fasst damit bedeutende Elemente vieler Machttheoretiker zusammen: Einerseits kann jeder Machtunterworfene aus freien Stücken den Wünschen des Machthabers folgen, ohne dass dieser von Zwangsmitteln Gebrauch machen müsste. Andererseits kann der Machthaber auf die Anwendung seiner Zwangsmittel verzichten und den Machtunterworfenen in seiner Unbotmäßigkeit gewähren lassen, ohne dabei seinen Status als Machthaber einzubüßen. Entscheidend ist aber, dass die Größe der Macht eines Akteurs konstitutiv davon abhängt, inwieweit er dazu befähigt ist, den Widerstand anderer bei der Realisierung seiner eigenen Interessen zu überwinden. Dabei ist es unerheblich, ob der Widerstand anderer sich jemals manifestiert oder ob der Akteur jemals von seiner Fähigkeit Gebrauch macht. Die dritte entscheidende Komponente ist schließlich, dass Macht stets nur mit einer Chance zur Durchsetzung von Interessen assoziiert ist. Dieser Aspekt, der uns schon bei der Diskussion des Macht-zu-Konzepts begegnet ist, besagt nichts anderes, als dass auch das Macht-über-Konzept eine probabilistische Komponente besitzt. Macht über andere zu haben, ist keine Garantie, dass der Machthaber seinen Willen durchsetzen kann. Es bedeutet nur, dass, wenn er von seinen Zwangsmitteln Gebrauch macht, eine signifikante Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Mittel bei der Überwindung des Widerstands erfolgreich sind.

Dieser Dualismus zweier Machtkonzeptionen ist keinesfalls eine westliche Besonderheit. Er findet sich auch in anderen großen Kulturtraditionen. Das zeigt sich eindrucksvoll an den prägenden Strömungen der klassischen chinesischen Ethik – dem Daoismus und dem Konfuzianismus.14 Beide Denkschulen befassen sich explizit nicht mit begriffstheoretischen Reflexionen wie etwa die platonischen Dialoge, sondern bieten praxisorientierte Leitfäden für Kaiser und hohe Staatsbeamte.15 Entsprechend suchen wir hier vergebens nach einer abstrakten Bestimmung des Machtkonzepts. Aber wir finden eine sehr klare Analyse der idealen Herrscherpersönlichkeit. Sowohl Laotse, der Begründer des Daoismus, als auch Konfuzius lehnen das Streben nach Macht vehement ab – und zwar sowohl nach Macht über als auch nach Macht zu.16

So mahnt Laotse in seiner kanonischen Spruchsammlung, dem Daodejing: »Tut ab die Heiligkeit, werft weg das Wissen | so wird das Volk hundertfach gewinnen. | […] Tut ab die Geschicklichkeit, werft weg den Gewinn | so wird es Diebe und Räuber nicht mehr geben. | […] Zeigt Einfachheit, haltet fest die Lauterkeit!«17 Der tugendhafte Herrscher soll also gerade nicht nach Vergrößerung seiner Handlungsmöglichkeiten und Erfolgschancen trachten; er soll sich vielmehr aus der aktiven Welt zurückziehen. Das Schlüsselwort der chinesischen Philosophie lautet hier wu wei, was sich mit »Nicht-Tun« oder »Handlungsenthaltung« übersetzen lässt.18 Nur indem er sich dem fatalen Kreislauf des Immer-mehr-Wollens entzieht, dient der Herrscher seinen Untertanen als Vorbild und inspiriert sie zu Loyalität und Gesetzestreue. Aus ganz ähnlichen Gründen lehnen die Begründer der chinesischen Ethik auch das Streben nach Kontrolle über andere Personen ab. So heißt es bei Konfuzius: »Wenn man durch Erlasse leitet und durch Strafen ordnet, so weicht das Volk aus und hat kein Gewissen. Wenn man durch Kraft des Wesens leitet und durch Sitte ordnet, so hat das Volk Gewissen und erreicht das Gute.«19 Dahinter steht eine einfache Überlegung: Jeder Versuch politischer Entscheidungsträger, Macht über andere auszuüben und sie gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen, provoziert die Entwicklung von Gegenmacht. Und diese mündet, so die These, in Gewalt und Chaos. Die Alternative ist ein zurückhaltender und maßvoller, vor allem aber moralisch lauterer Regierungsstil, der der Bevölkerung als Vorbild dient. In diesem Kontext liest sich Laotses Ratschlag für die richtige Staatsführung nicht nur als eine Ergänzung des konfuzianischen Gedankens, sondern geradezu wie eine Vorwegnahme der liberalen politischen Idee: »Wessen Regierung still und unaufdringlich ist | dessen Volk ist aufrichtig und ehrlich. | Wessen Regierung scharfsinnig und stramm ist | dessen Volk ist hinterlistig und unzuverlässig.«20

Laotse und Konfuzius sind sich also der beiden diskutierten Machtkonzeptionen sehr wohl bewusst, auch wenn sie auf eine begriffliche Explikation verzichten. Wir sollten allerdings aus ihrer kritischen Haltung zum Machtstreben nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass sie das Phänomen Macht vollkommen aus der sozialen Welt verdrängen wollen. Das wäre falsch. Macht, so lautet vielmehr ihr provokanter Schluss, übt nur derjenige erfolgreich und legitim aus, der nicht versucht, sie an sich zu reißen und zu vergrößern, sondern sich auf die Kultivierung der eigenen Tugenden, auf Bescheidenheit und Integrität konzentriert. An dieser Stelle soll noch einmal Konfuzius mit einer ebenso aufschlussreichen wie poetischen Analogie zu Wort kommen: »Wenn Eure Absichten gut sind, wird auch das Volk gut sein. Die Tugendhaftigkeit des Fürsten gleicht dem Wind, jene der kleinen Leute dem Gras: Das Gras muss sich dem Wind beugen, der über es hinwegstreicht.«21 Diese Behauptung mag in ihrer zugespitzten Form kaum plausibel erscheinen, und sie ist von Konfuzius’ Nachfolgern wiederholt als utopisch kritisiert worden.22 Aber trotzdem ist bereits hier eine zentrale Form der Macht benannt, auf die wir in Kap. 2.1 detailliert eingehen werden: die autoritative Macht, die sich auf das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung und moralischer Orientierung stützt.

Damit soll nicht gesagt sein, dass neben der westlichen Tradition nur die chinesische Philosophie einen bedeutenden Beitrag zur Dichotomie von Macht zu und Macht über geleistet hätte.23 Die politischen Denker des mittelalterlichen Islams haben sich ebenso tiefgehend mit dem Wesen der Macht befasst, wenn auch rund tausend Jahre später.24 Zu diesen Denkern zählt neben dem Historiker Ibn Khaldun und dem Philosophen Al-Farabi auch der Rechtsgelehrte Al-Mawardi, dessen Schrift Al-Ahkam as-Sultaniyya (Die Prinzipien der Macht) aus dem elften Jahrhundert bis heute einer der wichtigsten Grundlagentexte des politischen Islams ist.25 Vertreter dieser Tradition sehen sich im Kontrast zur chinesischen Denkschule allerdings nicht als Ratgeber der herrschenden Elite, sondern als religiöse Individualethiker und Staatstheoretiker. Zweierlei ist in diesem Kontext bemerkenswert: Erstens übernehmen sie beinahe ohne Änderung das aristotelische Konzept der Handlungsmacht – der dynamis – und übertragen es in ein religiöses Weltbild, in dem der Mensch als autonomes und eigenverantwortliches Wesen Gott gegenüber Rechenschaft schuldet. Die starke Anlehnung an aristotelisches Denken und an das entsprechende Machtmodell ist letztlich wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die griechischen Klassiker seit dem achten Jahrhundert durch arabische Gelehrte bewahrt und rezipiert wurden – lange bevor sie (wieder) Eingang in den westlichen Kanon fanden.26 Zweitens greifen die islamischen Theoretiker das zweite Begriffsverständnis von Macht, die Dominanzkonzeption, positiv auf und verknüpfen es mit einem theokratischen Staatsentwurf. Die drastischste Position findet sich in Al-Ahkam as-Sultaniyya: Die Vernunft und die Einsicht der Menschen allein, so Al-Mawardi, sind nicht stark genug, um sie zu einer gerechten und frommen Gemeinschaft zu vereinigen; hinzu kommen gravierende Unterschiede in Bezug auf Brauchtum und Moral. Deshalb ist ein absolutistischer Theokrat, ein Imam, erforderlich, der dank uneingeschränkter Machtfülle die Bevölkerung zu Einheit und Tugend zwingen kann.27 Der Imam erhält sein Amt durch göttliche Vorsehung, und entsprechend ist seine Autorität unantastbar. Dennoch hält Al-Mawardi eine Hintertür offen: Wenn sich der Herrscher offen gegen die Gebote Gottes versündigt, hat die Bevölkerung ein Recht auf Widerstand, also auf die Bildung von Gegenmacht.

Dieser hochinteressante und im Westen erstaunlich wenig erforschte Themenkomplex ließe sich ohne Probleme noch viel weiter vertiefen. Wir wollen aber an dieser Stelle unseren interkulturellen Exkurs in die Machtthematik beenden und zur eigentlichen Fragestellung zurückkehren: der Entwicklung einer brauchbaren Arbeitsdefinition von Macht. Kommen wir deshalb noch einmal auf den grundsätzlichen Dualismus der beiden Begriffsbestimmungen zurück: Für unsere eigene Definition ist es vor allem wichtig, das Verhältnis dieser beiden wirkmächtigen Machtkonzeptionen zu analysieren und praktisch handhabbar und anwendbar zu machen. Eine Reihe von Machttheoretikern optiert dafür, dass Macht zu und Macht über gar keine konkurrierenden definitorischen Ansätze sind. Das interpersonale Dominanzmodell der Macht sei nur ein Spezialfall des allgemeineren Handlungsmodells der Macht.28 Beide Ansätze, so deren Argumentation, gehen davon aus, dass ein Akteur dann und nur dann über Macht verfügt, wenn er dazu befähigt ist, seine Interessen durch zielgerichtetes Handeln zu verwirklichen. Das Macht-über-Konzept richte daher nur seinen Fokus auf die Interessenrealisierung gegen den potenziellen Widerstand anderer Akteure. Andere Theoretiker, wie Hannah Arendt, treten dafür ein, beide Definitionen klar zu trennen, insofern Macht über Personen stets in offener oder verdeckter Unterdrückung bestehe und damit anders als das Macht-zu-Konzept nicht normativ neutral, sondern moralisch schlecht sei.29 Diese Diskussion braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden. Nur eines der diskutierten Machtkonzepte ist für ein Praxishandbuch über (politische) Macht tauglich: das Macht-über-Konzept.

Das Macht-zu-Konzept deckt bei näherer Betrachtung eine viel zu große Bandbreite von Phänomenen ab, um für unser Ziel sinnvoll zu sein. Wenn Macht bereits dann vorliegt, wenn ein Akteur in der Lage ist, ein selbstgesetztes Ziel durch Handeln zu verwirklichen, ist fast jede einzelne Aktion ein Ausdruck dieses Vermögens. Das Lesen eines Buches bis zur letzten Seite wäre bereits ein Fall dieses Macht-zu-Konzepts. Derartige theoretisch-philosophische Überlegungen zum Machtbegriff ergeben für unsere politische Diskussion keinen Sinn. In Hinblick auf unser alltagssprachliches Begriffsverständnis von Macht sind die Schlussfolgerungen unbrauchbar.30 Zudem ist ein Gütekriterium für Begriffsdefinitionen ihre klassifikatorische Leistungsfähigkeit. Konzepte, vor allem Machtkonzepte, dienen dazu, unsere Erfahrungswelt durch Abgrenzung und Eingrenzung von Phänomenen zu systematisieren und handhabbar zu machen. Genau diese Funktion erfüllt das Macht-zu-Konzept nicht. Es weitet den Begriff universell aus. In den Worten von Hinrich Fink-Eitel gesprochen führt es dazu, dass »›Macht‹ schließlich alles und daher nichts mehr bedeutet.«31

Das Macht-über-Konzept ist im Vergleich weitaus präziser sowie einfacher beschreib- und umsetzbar. Zudem ist es für Machtpraktiker näher an einem vortheoretischen Begriffsverständnis angesiedelt. Wenn wir zum Beispiel konstatieren, dass die Institutionen der Europäischen Union in den vergangenen Jahren an Macht gegenüber den Mitgliedsstaaten eingebüßt haben, beschreiben wir damit erst einmal nichts anderes als die gesunkene Wahrscheinlichkeit, dass die Kommission gegen den Widerstand der nationalen Regierungen eine eigenständige Politikgestaltung betreiben kann. Entscheidend ist, dass das Macht-über-Konzept eine große Anzahl von Fällen, in denen wir von Macht (oder dem Fehlen von Macht) sprechen, systematisiert und vereinheitlicht, ohne zugleich – wie das Konkurrenzmodell – Fälle zu subsumieren, die nach einem intuitiven Verständnis nichts mit Macht zu tun haben.

Für die Machttheorie entscheidend ist auch eine zweite Kontroverse zur Systematisierung unterschiedlicher Machtmodelle. Es handelt sich um eine Diskussion zwischen Vertretern des Gütermodells und des Strukturmodells von Macht. Das Gütermodell gründet in Karl Marx’ ökonomischer Theorie.32 Die zahlreichen Anhänger dieses Modells – von denen allerdings die wenigsten überzeugte Marxisten sind – kommen vor allem aus den Reihen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.33 Für sie besteht Macht in einer numerischen Ressource zur Verwirklichung von Interessen, die von konkreten Akteuren besessen, akkumuliert, verteilt und wieder entzogen werden kann.34 Es handelt sich also um ein Gut – »a social good«, wie etwa Amy Allen schreibt –, von dem Personen oder Personengruppen mehr oder weniger besitzen können und über das sie autonom verfügen können.35 Die Machtgüter eines Akteurs können verschiedenste natürliche, soziale, kulturelle oder ökonomische Grundlagen haben. Prägnant bringt es der Soziologe Walther Müller-Jentsch in seinem Aufsatz Macht als Ressource von Organisationen auf den Punkt: »Der Unternehmer verfügt über Arbeitsplätze, der Arbeitnehmer über Arbeitskraft – beide haben Ressourcen, die der jeweils andere zur Durchsetzung seiner nichttrivialen Interessen benötigt; beide haben daher […] Macht über den jeweils anderen Akteur.«36 Kurz gesagt, für diese Machtinterpreten hat ein individueller oder kollektiver Akteur nach diesem Modell Macht, insofern er Produktionsmittel kontrolliert, insofern er die Mitglieder einer Gewerkschaft mobilisiert , insofern er über einen hohen Stimmenanteil in einem Parlament verfügt und so fort.37 Wichtig ist hingegen in all diesen Fällen: Das entscheidende soziale Gut ist Macht. Auch wenn die Machtgüter von Akteuren unterschiedlich konstituiert sind, lassen sie sich dennoch quantifizieren und vergleichen. Diese Modelle beruhen auf der folgenreichen Annahme, Machtverhältnisse ließen sich unter der Voraussetzung präziser Messung und hinreichender Information auf einer eindimensionalen Skala repräsentieren.38 Die ungebrochene Popularität des Gütermodells in der Machttheorie dürfte sich stark an dem Phänomen der »objektiven« Messbarkeit festmachen. Zudem zeichnet es sich durch seine Anschlussfähigkeit an unseren alltagssprachlichen Machtdiskurs aus. Wir sprechen wie selbstverständlich von einer »Ungleichverteilung« von Macht in Gesellschaften oder von einem »Gleichgewicht« der Macht zwischen geopolitischen Akteuren. Diese Aussagen sind überhaupt nur dann beschreibbar, wenn Macht erstens ein Typus von verteilbaren Gütern ist und wenn zweitens die Gütermengen zumindest idealiter skaliert und als gleich groß eingestuft werden können.

Es waren gerade die postmodernen Denker, die in den vergangenen Jahrzehnten dieses Modell herausgefordert haben.39 So hält etwa Michel Foucault in seiner Monografie Der Wille zum Wissen mit aller Klarheit fest: »Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert«.40 Ähnlich äußert sich auch Stuart Clegg: »It [Macht] is not a thing […] that people have in a proprietorial sense. They ›possess‹ power only in so far as they are relationally constituted as doing so.«41 Der radikale Wandel in der Machtargumentation liegt in der Annahme, Macht sei eben keine Substanz, die von individuellen oder kollektiven Akteuren besessen werden könnte. Vielmehr handelt es sich bei ihr um eine nur vielschichtig bestimmbare soziale Struktur, die durch unzählige zwischenmenschliche Beziehungen der wechselseitigen Normierung, Kontrolle und Sanktionierung gebildet werde und die das Verhalten der Personen ordne, lenke und stellenweise sogar in hohem Maße determiniere.42 Foucault drückt diesen bedeutenden Gegenentwurf mit gewohnter rhetorischer Finesse wie folgt aus: »Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern oder organisieren […]; [und] die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten.«43

Aus dieser Perspektive erscheint Macht plötzlich als eine zwar durch menschliches Verhalten konstituierte, aber gleichwohl eigenständige und der Kontrolle durch Personen entzogene soziale Entität – also als eine geradezu »übermenschliche Wirklichkeit«.44 Dieses Bild erscheint vielen Praktikern der Macht auf den ersten Blick komplex und weit entfernt von unserem politischen Common Sense. Dass es trotzdem eine hohe Wirkmächtigkeit für das politische Arbeiten hat, lässt sich am besten an alltäglichen Handlungen zeigen: Wenn wir gähnen, dann legen wir die Hand vor den Mund; wenn wir beim Einsteigen in die U-Bahn eine Frau mit Kinderwagen sehen, dann bieten wir unsere Hilfe an oder machen zumindest Platz; wenn wir mit jemandem diskutieren, dann lassen wir den andern gewöhnlich ausreden. In all diesen Fällen gibt es keine machtbewehrte Person oder Personengruppe, die uns dazu zwingt, so zu handeln oder zu empfinden, aber gleichwohl ist unser Verhalten Gegenstand der Lenkung und Kontrolle. Hier wirkt, in den Worten Foucaults, »eine ganze Serie von Machtnetzen, die die Körper, die Sexualität, die Familie […] usw. durchdringen.«45 Diese Machtnetze, die ein gesellschaftliches Gesamtsystem umfassender Kontrolle bilden, entfalten ihre Wirkung durch internalisierte Normen, erwartete Sanktionierung bei Missachtung und positive Anreize bei Befolgung. Menschen können, wie Foucault und andere Theoretiker konzedieren, punktuell versuchen, auf dieses System einzuwirken und Änderungen herbeizuführen. Aber es bleibt in toto gleichwohl ihrer Kontrolle entzogen. Dies sind für politische Entscheidungsträger natürlich extreme – kaum handhabbare – Herausforderungen: einerseits, weil die relevanten Akteure mit ihren Wünschen, Zielen und Handlungsabsichten immer schon durch das überpersönliche System geprägt und konstituiert sind; andererseits, weil sich das System aus einem nicht zentral gelenkten und unüberblickbaren Miteinander und Gegeneinander unzähliger sozialer Beziehungen ergibt und auf diese Weise täglich neu konfiguriert wird. »Die Politik« gibt es also demnach gar nicht. Es gibt nur »Politiken«, also Ensembles politischer Praktiken und Diskurse, die den Raum des Politischen jeweils neu und anders konstituieren.

Auch bei dieser Kontroverse stellt sich die Frage, wie sich beide Machtkonzeptionen zueinander verhalten und welche Bedeutung diese Diskussion für unsere eigene definitorische Annäherung an den Machtbegriff hat. Wir sind mit dieser Diskussion im Kern der machttheoretischen Diskussion der Moderne angekommen: Halten wir an einem autonomen und mit eigenen Machtmitteln ausgestatteten Subjekt fest? Oder beschreiben wir ein System, das Personen und Organisationen in komplexen Machtnetzen verortet?46

Es gibt keinen Grund, sich in dieser Auseinandersetzung auf eine Seite zu schlagen. Beide Ansätze sind für sich besehen erklärungsstark: Ein Gütermodell