Nolting • Paulus
Psychologie lernen
Hans-Peter Nolting • Peter Paulus
Psychologie lernen
Eine Einführung und Anleitung 15., vollständig überarbeitete Auflage
Kontakt:
Dr. Hans-Peter Nolting
E-Mail: hanspnolting@gmail.com
Prof. Dr. Peter Paulus
E-Mail: paulus@uni-leuphana.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
Dieses Buch ist auch erhältlich als:
ISBN 978-3-621-28626-8 Print
ISBN 978-3-621-28627-5 E-Book (PDF)
ISBN 978-3-621-28663-3 (epub)
15., vollständig überarbeitete Auflage 2018
© 2018 Programm PVU Psychologie Verlags Union
in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten.
Lektorat: Anne-Marie Stöhr
Bildnachweis (Einband): Matthieu Spohn/Getty Images
Einbandtypografie: Uta Euler
Herstellung: Lelia Rehm
Satz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ePub: Reemers Publishing Services GmbH
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Dieses Buch ist eine Einführung und eine Anleitung. Eine Einführung in die Psychologie ist es insofern, als es über grundlegende Phänomene psychischen Geschehens sowie über wesentliche Gebiete und theoretische Richtungen der wissenschaftlichen Psychologie informiert. Es führt dabei allerdings auf eine andere Weise ein, als es sonst üblich ist. Denn es möchte Psychologie so vermitteln, dass sich die Wissensinhalte im Kopf der Lernenden zu einem »System« zusammenschließen und sich nicht einfach in Wissen zu Themenbereich A, zu Themenbereich B usw. aufteilen. Dies ist unseres Erachtens eine wesentliche Voraussetzung, um psychologische Kenntnisse auch auf neuartige Fragestellungen anwenden zu können.
Das Buch ist daher »integrativ« und »hierarchisch« aufgebaut: Wissensinhalte von großer Reichweite, die den Zusammenhalt des Ganzen sichern können, werden deutlich von speziellen Inhalten abgehoben und nicht wie gleichrangige »Themenbereiche« neben sie gestellt. Zu den Inhalten mit großer Reichweite gehören:
Die »Gebiete« und »Richtungen« der Psychologie betrachten das psychische System aus speziellen Blickwinkeln und werden daher erst nach den »grundlegenden Aspekten« behandelt (Kapitel 4 bis 6).
Das Buch ist aber auch eine Anleitung zum selbstständigen Lernen. Es zeigt Wege auf, wie man psychologische Literatur und Seminare verarbeiten sollte, damit mehr als eine Summierung von Einzelkenntnissen herauskommt. Es will helfen, angesichts der Fülle der Informationen zu Themen, Theorien, Untersuchungsergebnissen und Methoden jene allgemein bedeutsamen Aspekte im Blick zu behalten, die immer zu beachten sind, wenn man an psychologische Sachverhalte herangeht.
Viele Menschen, die bei sich selbst »mangelnde« Kenntnisse feststellen, gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie zu wenig Kenntnisse besäßen und folglich die »weißen Flecken« in der Wissenslandkarte durch weitere Vermehrung des Wissens auszufüllen hätten. Wenngleich auch dies zutreffen kann, liegt doch das Hauptproblem vielfach darin, dass die Kenntnisse unzureichend geordnet sind, dass die grundlegenden Strukturen, die die Inhalte miteinander verbinden, nicht klar genug sind. Ordnung ist das halbe Lernen!
Man kann nicht »alles« lernen. Aber man kann so lernen, dass das Gelernte vielfältig zu verwenden ist. Wer Psychologie sinnvoll gelernt hat, muss auch dann beispielsweise zur Psychologie der Hilfeleistung, der Aggression oder der Lernstörungen etwas sagen können, wenn er diese Themen noch nicht »gehabt« hat. Es kommt darauf an, grundlegende Kategorien psychologischen Denkens, die sozusagen quer durch die Themen hindurchgehen, zu erwerben und ihre Übertragung auf neue Inhalte zu üben. Dies gilt auch für das Ziel, Fertigkeiten zur selbstständigen Analyse von Praxisproblemen in Beruf und Alltag zu entwickeln. Es ist das Anliegen des Buches, eine flexiblere Wissensverwendung in beiderlei Hinsicht – bei neuen Themen und bei Praxisproblemen – zu fördern. Es kann dazu jedoch lediglich einige Wegweiser setzen. Der Besuch geeigneter Seminare, eigenständiges Erproben im Alltag und weiteres Literaturstudium müssen hinzukommen.
Da das Buch in erster Linie eine Ausgangsbasis für das selbstständige Lernen schaffen will, versteht es sich nicht als Lehrbuch im üblichen Sinne. Die Darstellung von Theorien und Untersuchungsergebnissen nimmt daher einen vergleichsweise geringen Raum ein, wenngleich diese einen Hintergrund bilden, an dem wir, die Autoren, uns orientiert haben. Einen wichtigen Platz nehmen hingegen Begriffe ein, mit denen die meisten Lernenden in Lehrbüchern und Seminaren konfrontiert werden. Doch geschieht dies nicht in einem lexikonartigen Stil, nicht in einem Nebeneinander von Stichwörtern, sondern mit der Zielrichtung, die Begriffe in eine Ordnung zu bringen, ihr Verhältnis zueinander deutlich zu machen.
Ein typisches Problem aller Psychologie-Lernenden war dabei auch unser Problem: die verwirrende Begriffsverwendung in der Psychologie – nicht nur die Vielzahl von Fachtermini, sondern auch die Tatsache, dass dieselben Termini bei verschiedenen Autoren zuweilen unterschiedliche Bedeutungen haben. Auch unser Wortgebrauch kann folglich keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Doch haben wir uns bemüht, uns an (unserer Einschätzung nach) häufig vorkommende Termini und ihre jeweils typische Bedeutung zu halten und überdies auf Begriffsverwandtschaften hinzuweisen.
Aus der Absicht des Buches, Einzelinhalte immer wieder zusammenzuführen und unter ein Dach von übergreifenden Aspekten zu stellen, ergibt sich ein »spiraliger« Aufbau: Grundlegende Inhalte werden schon frühzeitig vorgestellt und tauchen dann später auf anderen Ebenen wieder auf – in differenzierterer Form oder in neuem Kontext. Wer also trotz vieler neuer Inhalte immer noch die »roten Fäden« sieht, die sich durch alles hindurchziehen, hat so gelesen, wie wir es uns vorstellen.
Das Buch ist unseres Erachtens geeignet
Der Kreis der Psychologie-Lernenden ist recht groß. Er reicht über Studierende der Psychologie-Studiengänge weit hinaus. Für viele Lernende an Hochschulen, Fachschulen, Fachoberschulen etc. ist Psychologie Teil ihres Lehrplans; andere Interessierte besuchen Kurse in der Volkshochschule oder der gymnasialen Oberstufe. Das Buch ist so abgefasst, dass es für all diese Personenkreise verständlich ist und im Sinne der genannten Zielsetzungen verwendet werden kann. Die Literaturhinweise im Text nennen ebenfalls häufig Werke, die auch für Anfänger geeignet sind.
Im Übrigen versuchen wir, zwischen vorwissenschaftlicher (»naiver«) und wissenschaftlicher Psychologie Verbindungen herzustellen, indem wir an vielen Stellen typisches Alltagsdenken aufgreifen und wissenschaftlich orientierten Denkweisen gegenüberstellen.
Über grundlegende Inhalte informieren:
Orientierung zu einzelnen Schwerpunkten geben:
Diese drei Kapitel sind nicht dafür gedacht, sie nacheinander durchzulesen. Sinnvoller ist eine gezielte Auswahl. Sie könnte durchaus mit den Theorierichtungen (Kapitel 6) statt mit Gebieten (Kapitel 4 und 5) beginnen.
Zum Lernen und Verwenden von Psychologie-Kenntnissen leiten an:
In der vorangehenden Überarbeitung von 2009 wurden »interpersonale Bezüge« als eigener zusätzlicher Grundaspekt eingeführt (in Kapitel 3) und Anleitungen zum Transferieren von Grundwissen wurden wesentlich ausgeweitet (Kapitel 8 und 9).
In der vorliegenden Auflage haben wir alle Kapitel inhaltlich und/oder sprachlich überarbeitet. Das gilt vor allem für die Kapitel 1, 3, 4, 5, 6 und 7. Mit Blick auf neuere Entwicklungen in der wissenschaftlichen Psychologie wurden sie an vielen Stellen aktualisiert, und sie wurden durch neue Übersichtstafeln, Beispiele und Illustrationen noch leserfreundlicher gestaltet.
Juni 2018
Hans-Peter Nolting
Peter Paulus
Hans-Peter Nolting
Peter Paulus
Was sind Fragen, mit denen sich die Psychologie beschäftigt? Wann und wodurch ergeben sie sich? Worin unterscheiden sie sich von denen anderer Wissenschaften?
»Psychologie« ist kein Fremdwort mehr. Der Buchmarkt bietet reichlich Lektüre zur Information. Ein großer bundesweiter Versandhändler listet allein über 65 000 lieferbare Fach- und Sachbücher. Psychologinnen und Psychologen werden auch kaum noch wie Exemplare einer exotischen Gattung betrachtet, denn viele Menschen begegnen ihnen in Beratungsstellen, sozialen Diensten, Kliniken, Volkshochschulen, Medien usw. Auch ist die Verwendung des Wortes »psychologisch« durchaus geläufig (z. B. »das psychologisch wichtige Tor vor Ende der ersten Halbzeit im Fußball«). Dennoch würde es den meisten Menschen schwerfallen, zu sagen, was »psychisch«, »psychologisch« oder »Psychologie« bedeutet.
Geht man vom Wort »Psychologie« aus, dann bezeichnet es die Lehre von der »Seele« oder »Psyche«. Beide Begriffe werden aber in der Psychologie kaum noch verwendet. Einmal, weil sie traditionell durch andere Wissenschaften begrifflich vorbelastet sind (Philosophie, Theologie). Vor allem aber deshalb, weil durch diese Begriffe suggeriert wird, es gebe eine Substanz, eine Art »seelisches Organ«, eben die »Seele«. Ob dies so ist, lässt sich wissenschaftlich nicht überprüfen. Was man dagegen beobachten und damit der wissenschaftlichen Analyse unterziehen kann, sind menschliches »Erleben (Begriff)Erleben« und »Verhalten«.
Vom ErlebenErleben (Begriff), verstanden als unmittelbare innere Erfahrung, können Menschen berichten; sie können z. B. ihre Gefühle, Vorstellungen, Wünsche mitteilen. Außenstehende können das Erleben anderer Menschen nicht direkt beobachten. Sie sehen nur körperliche Reaktionen, die man mit dem Erleben Erleben (Begriff)in Zusammenhang bringen kann: Weint jemand, könnte man schließen, er sei traurig; denkbar wären aber auch Schmerz oder Freude. Man sieht hier schon eine grundsätzliche Schwierigkeit: Eindeutige Schlüsse vom Verhalten auf das Erleben anderer Personen sind nicht möglich.
Das Verhalten ist der Selbstbeobachtung und der Fremdbeobachtung zugänglich. Es umfasst zuerst einmal die für jedermann sichtbaren körperlichen Bewegungen (z. B. ein Mann beobachtet sich beim Rasieren im Spiegel, ein Kind wirft sich brüllend auf den Boden; ein Junge lächelt ein Mädchen an). In der Regel sind es relativ komplexe körperliche Äußerungen wie Sprechen, Mimik, manuelle Tätigkeiten etc., doch können auch einzelne Reaktionen Gegenstand psychologischer Forschung sein (Atmung, Herzschlag, Magenschmerzen, Reflexe etc.). Zunehmend sind auch physiologische Korrelate des Erlebens und Verhaltens wie neuronale, hormonelle oder biochemische Prozesse Gegenstand psychologischer Forschung, insbesondere in der Biologischen Psychologie. Je nach wissenschaftlichem Standort und nach Fragestellung richtet sich der Blick in der psychologischen Analyse eher auf Erlebnisaspekte oder Verhaltensaspekte oder auch beide (s. Tafel 1). Von manchen Autoren wird »Verhalten« als Oberbegriff für alle psychischen Vorgänge benutzt, der dann das Erleben mit einschließt. Wir halten einen solchen Wortgebrauch aber für verwirrend und wenig sinnvoll.
Hermann EbbinghausEbbinghaus (1850-1909), ein früher Wegbereiter der kognitiv-psychologischen Forschung und Begründer der Gedächtnispsychologie (s. auch S. 139) definiert sie in seinem Buch »Grundzüge der Psychologie« (1902/1908, S. 1f.) beispielhaft vom Erleben her: »Die Psychologie ist die Wissenschaft von den Inhalten und Vorgängen des geistigen Lebens oder, wie man auch sagt, ›die Wissenschaft von den Bewusstseinszuständen und den Bewusstseinsvorgängen‹. Die Psychologie hat es, wenn man dies kurz ausdrückt, mit den Gegenständen der Innenwelt zu tun, im Gegensatz zur Physik im weitesten Sinne als der Wissenschaft von den Gegenständen der räumlichen und materiellen Außenwelt.«
Floyd L. RuchRuch & Philip G. ZimbardoZimbardo (1975, S. 24), der angloamerikanischen Tradition des BehaviorismusBehaviorismus folgend (S. 213), stellten in ihrem Standardwerk der Psychologie (»Psychology and Life«) noch allein das Verhalten in den Vordergrund: »Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten der Lebewesen«. Zwanzig Jahre später gibt Zimbardo (1995) im gleichen Buch (5. Aufl., S. 4) nun eine Definition, die sowohl Verhalten als auch ErlebenErleben (Begriff) umfasst: »Der Gegenstand der Psychologie sind Verhalten, Erleben und BewusstseinBewusstsein des Menschen, deren Entwicklung über die Lebensspanne und deren innere (im Individuum angesiedelte) und äußere (in der Umwelt lokalisierte) Bedingungen und Ursachen.«
In dem von Astrid Schütz et al. herausgegebenen Lehrbuch »Psychologie« heißt es: »Aufgabe der Psychologie ist es, menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu beeinflussen« (Wolstein et al., 2015, S. 24).
Auch David G. Myers (2014, S. 6) berücksichtigt in seinem Standard-Lehrbuch »Psychologie« sowohl Erleben als auch Verhalten in der Gegenstandsbestimmung. Nach ihm wird »die Psychologie heute als die Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen definiert.«
Neuere Entwicklungen in der Psychologie, die auch die biologischen Grundlagen von psychischen Vorgängen betrachten, werden von Michael Gazzaniga, Todd Heatherington & Diane Halpern (2017, S. 23) aufgegriffen: »Wissenschaftliche Psychologie ist die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung von Geist, Gehirn und Verhalten.«
Tafel 1: Beispiele für Definitionen der Psychologie
Kommt man mit den Begriffen »Verhalten« und »Erleben« überhaupt aus, um den Gegenstand der Psychologie zu benennen? Gehören zum psychischen Geschehen nicht auch »unbewusste« Vorgänge, die nicht eigentlich »erlebt« werden? Zweifellos: Die Sinnesorgane nehmen manche Informationen »unbemerkt« auf; viele alltägliche Aktivitäten laufen als Routine ohne bewusste Kontrolle ab, und ein Mensch kann aus Motiven handeln, die ihm selbst nicht klar sind. Einige Psychologen, vor allem tiefenpsychologisch orientierte, nehmen sogar eine eigene, abgegrenzte Region psychischer Vorgänge an, die als »das Unbewusste« Unbewusst(es)bezeichnet wird. Andere sehen zwischen »bewusst«Bewusstsein und »unbewusst« fließende Übergänge, ein Mehr oder Weniger an »Bewusstheit«. Wie dem auch sei: Da nicht-bewusste psychische Vorgänge für die Psychologie nur insoweit von Interesse sind, als sie das Erleben und Verhalten bestimmen, kann man es bei diesen beiden Begriffen belassen, um ihren Gegenstand zu benennen; denn als erklärender »Hintergrund« sind die nicht-bewussten Prozesse indirekt mit einbezogen. Vorsichtshalber werden wir allerdings in diesem Buch oftmals von »inneren psychischen Prozessen« statt von »Erleben« sprechen, um dem Missverständnis vorzubeugen, dass mit der »Innenwelt« nur klar bewusste psychische Vorgänge gemeint seien.
Da Menschen sich nicht nicht verhalten können und ständig innere psychische Prozesse ablaufen, haben alle Sachverhalte, an denen Menschen beteiligt sind, immer auch einen psychischen Aspekt. Ob er bei der Betrachtung des Sachverhaltes berücksichtigt wird, ist eine andere Frage. So können physiologische Vorgänge im Körper (z. B. Herzschlag, Blutdruck, Muskelanspannung) vollkommen unabhängig vom psychischen Geschehen betrachtet werden oder auch in Zusammenhang mit ihm.
Manche Sachverhalte werden durch die Art der Blickrichtung zu Sachverhalten mit psychischem Aspekt. Das Haus, das in sich zusammenstürzt, der Apfel, der vom Baum fällt – diese Sachverhalte sind zunächst physikalischer Art. Aber: Der Hausbesitzer, der weinend vorm zusammengestürzten Haus steht, das Kind, das den Apfel vom Baum fallen sieht – diese Sachverhalte enthalten psychisches Geschehen. Rückt dieses psychische Geschehen ins Blickfeld eines Beobachters, nimmt er eine psychologische Perspektive ein. Ihn interessiert, was die beobachteten Personen erleben und wie sie sich verhalten. Welche Sachverhalte ein Mensch aus psychologischer Perspektive betrachtet, hängt offensichtlich auch mit dem theoretischen Vorverständnis des Beobachtenden zusammen. So werden nicht alle Menschen auf die Idee kommen – wie in der Astrologie –, Sternbewegungen mit psychischem Geschehen in Verbindung zu bringen!
Beispiel MobbingCybermobbing: Eine Schülerin der Sekundarstufe wird wiederholt und über einen längeren Zeitraum von Mitschülern im Internet beleidigt, verleumdet und bloßgestellt.
Perspektive |
Mögliche Fragen |
Psychologisch: |
Welche Auswirkungen hat ein solches Verhalten auf das Erleben und Verhalten der Schülerin? Wie reagieren andere Mitschüler, wenn sie davon erfahren? |
Pädagogisch: |
Ist ein solches Verhalten des Schülers mit den Werten und Normen der Schule vereinbar? |
Medizinisch: |
Zeigen sich bei der Schülerin Anzeichen psychosomatischer Störungen? |
Juristisch: |
Kann die Schülerin oder auch die Schule rechtlich gegen die Mobber vorgehen? Ab wann handelt es sich um strafbare Handlungen? |
Soziologisch: |
Ist das Cybermobbing typisch für bestimmte gesellschaftliche Milieus, Schichten etc.? |
Tafel 2: Ein Verhalten kann sowohl psychologisch als auch aus anderen Perspektiven betrachtet werden.
Zusammenfassend können wir also feststellen: Haben Sachverhalte Erlebens- und Verhaltensaspekte, können sie immer unter psychologischer Perspektive betrachtet, also mithilfe psychologischer Begriffe und Theorien analysiert werden. Sobald Menschen über psychisches Geschehen nachdenken, tun sie etwas Psychologisches – Laien wie Psychologen.
Umgekehrt können psychische Sachverhalte, z. B. fahrlässiges Verhalten, auch unter anderen Perspektiven betrachtet werden, etwa unter juristischen und finanziellen (z. B. »Schmerzensgeld«, s. auch das Beispiel in Tafel 2).
Wie kommen nun aber Menschen überhaupt dazu, sich psychologische Fragen zu stellen oder psychologische Aussagen zu machen? Eine Grundlage ist wohl, dass Menschen nahezu unvermeidlich auf das Phänomen der Subjektivität stoßen. Wir erkennen, dass unsere Eindrücke von der erlebten Wirklichkeit keine getreuen Abbilder sind. Es muss eine subjektive »Verarbeitung« bzw. »Konstruktion« der Wirklichkeit stattfinden. Offenkundig ist dies z. B. bei den sogenannten optischen Täuschungen. Wir sehen etwas, was real so nicht gegeben ist (s. Tafel 52, S. 217). Auch stellen wir manchmal fest, wie unterschiedlich objektiv gleiche Situationen wahrgenommen werden; Zeugenaussagen vor Gericht belegen dies immer wieder. Oder: Kinder werden sich im Laufe der Entwicklung des Unterschiedes von »Wachsein« und »Träumen« bewusst. In diesen Erfahrungen, die uns Menschen darüber belehren, dass wir selbst die Eindrücke der Wirklichkeit wesentlich mitgestalten, liegt wahrscheinlich die generelle Wurzel aller psychologischen Überlegungen und Fragen.
Doch damit bleibt noch offen, mit welchen psychologischen Fragen sich Menschen beschäftigen. Die ergeben sich offensichtlich aus den vielfältigen Anforderungen des Lebens. Menschen stellen psychologische Überlegungen an, um sich im Leben zurechtzufinden und Probleme zu bewältigen. Unentwegt gibt es Anlässe für irgendwelche Fragen: »Warum kann ich mich schlecht konzentrieren?«, »Warum ist der Chef heute so schlecht gelaunt?«, »Preist mir der Verkäufer diesen Artikel an, weil er wirklich gut ist oder weil er daran am meisten verdient?«, »Ist die neue Nachbarin so nett zu mir, weil sie mich mag, oder weil sie so ein freundlicher Mensch ist?« Und unentwegt machen wir psychologische Aussagen: »Also, die Gabi würde sicher gut in unsere WG passen«, »Klar könnte Ines die Schule schaffen; sie muss nur wollen«, »Es ist gut, dass Max jetzt Fußball spielt; da lernt man, sich an Regeln zu halten«.
Nahezu unvermeidlich müssen Menschen sich also psychologische Gedanken machen, um Entscheidungen zu treffen, um mit Menschen umzugehen, um einen Rat zu erteilen oder bei einem Streitthema einfach nur mitzureden. Würde man sich keine Gedanken über die Motive eines anderen machen, würde man vielleicht in eine Falle tappen. Würde man nicht einschätzen, ob jemand für eine Arbeit geeignet ist, hätte man später vielleicht viel Ärger und Kosten am Hals. Auch Menschen, die das Wort Psychologie noch nie gehört haben, die vielleicht in einem abgeschiedenen Volksstamm fern jeglicher Schulbildung aufwachsen, auch die denken psychologisch.
Weil der Bedarf so groß ist, sollen schon seit ewigen Zeiten Sprichwörter und Volksweisheiten Orientierungshilfen geben (»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, »Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil«). Heute bieten Tageszeitungen, TV-Zeitschriften und viele andere Medien Lebensberatung zu Erziehungsproblemen, Ängsten, Mobbing am Arbeitsplatz und den Wegen zum Glück. Wie groß oder klein der »wahre Kern« von Sprichwörtern ist, wie seriös die psychologischen Beiträge in Publikumszeitschriften sind, das ist gewiss sehr unterschiedlich (zu Sprichwörtern s. Frey, 2017). Klar ist allerdings, dass zahlreiche populäre Annahmen, die wie modernes psychologisches Allgemeingut daherkommen, weit von Wissenschaft entfernt sind (etwa: Man könne am Puchingsack »Aggressionen abreagieren«; oder: Man könne visuelle, auditive und andere »Lerntypen« unterscheiden; s. LilienfeldLilienfeld et al., 2010; NoltingNolting, 2012). Allerdings: Wenn ein ernsthaftes »Problem« entsteht und der Alltagspsychologiealltagspsychologische Fundus nicht weiterhilft, wird vielfach die wissenschaftlich fundierte Psychologie um Rat gefragt.Naive Psychologie(s. Alltagspsychologie)
Dass Menschen nahezu unvermeidlich psychologisch denken, dass sie zudem fühlende und handelnde Wesen sind, gilt übrigens auch dann, wenn sie zum Objekt psychologischer Forschung werden. Dieser Tatbestand unterscheidet die Psychologie als Wissenschaft sehr deutlich von allen Wissenschaften, die es mit passiven Objekten zu tun haben, aber er macht Forschung nicht unmöglich (LückLück, 2015; s. auch Tafel 3).
»Der Gegenstand der Psychologie unterscheidet sich in einer Beziehung ganz fundamental von demjenigen der sog. klassischen Naturwissenschaft. Als Galilei durch empirische Studien die Fallgesetze aufstellte, brauchte er sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute über das Fallen von Steinen denken, und er brauchte auch nicht zu befürchten, dass die Steine über sich selbst und ihr Fallen nachdenken, um je nach Ausgang ihrer Überlegungen mal so und mal so zu fallen. Aber genau dies muss der Psychologe im Hinblick auf seinen Gegenstand, den lebendigen Menschen, tun. Sein Gegenstand hat Theorien über sich und andere Menschen, und er leitet aus diesen Theorien Erwartungen ab, die in seine Verhaltenssteuerung einfließen« (LauckenLaucken, 1974, S. 231).
Tafel 3: Auch als Forschungsobjekte machen sich Menschen ihre eigenen Gedanken.
In der wissenschaftlichen Psychologie werden psychologische Fragen gewöhnlich im Licht bestimmter theoretischer Ansätze formuliert. Sie liefern den Bezugsrahmen, in dem die psychischen Phänomene analysiert werden können. Solche theoriebezogenen Betrachtungsweisen werden in Kapitel 6 vorgestellt. Die Annahmen und Begriffe der jeweiligen Betrachtungsweise sind der Kritik und der Überprüfung durch wissenschaftlich akzeptierte Methoden ausgesetzt. Sie ermöglichen dadurch eine Diskussion und Weiterentwicklung der bisherigen Kenntnisse auf rationaler Grundlage.
Da Psychologie als Wissenschaft und Berufstätigkeit in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge eingebettet ist, werden psychologische Fragen und ihre Bearbeitung auch von gesellschaftlichen Entwicklungen, vom Wandel der Interessen und Anschauungen mitbestimmt. So regt etwa die öffentliche Diskussion über Drogenmissbrauch, Gewalt oder die Nutzung digitaler Medien von Jugendlichen psychologische Forschungen über das Jugendalter an. Auch aus gesellschaftlichen Praxisfeldern wie Erziehung, Arbeit oder Gesundheitswesen ergeben sich psychologische Fragestellungen und praktische Anforderungen, die von den Gebieten der »Angewandten Psychologie« aufgenommen werden (s. Kap. 5).
Kommentieren Sie folgende These: Bei den meisten Fächern, mit denen man sich neu beschäftigt (z. B. Fremdsprachen, Mathematik), lernt man mit jeder Lektion dazu; bei Psychologie muss man oftmals auch umlernen.