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STEFAN VON KEMPIS (HG.)

Eintauchen in die
Weite des Seins

Päpste über Tod und ewiges Leben

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Stefan von Kempis ist Redakteur in der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan.

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018

Copyright für alle Papst-Texte: © Libreria Editrice Vaticana

Umschlagabbildung: © akg-images.de, Mike Burton (Pantheon, Rom)

ISBN 978-3-460-32162-5
eISBN 978-3-460-51056-2

Inhalt

Einleitung des Herausgebers

Texte und Worte von Papst Franziskus

1 Vor dem Geheimnis des Todes sind wir wehrlos

2 Sich auf den Tod vorbereiten

3 Schriftworte geben uns Hoffnung auf Auferstehung

4 Vor dem Kreuz

5 Unsere Verstorbenen sind uns nahe

6 Jesu Auferstehung ist auch unsere

7 Auferstehung – die Kraft des Weizenkorns

Texte und Worte von Papst Benedikt XVI.

1 Was kommt nach dem Tod?

2 Mitten in der Zerstörung vollzieht sich das Heil

3 Vor dem Kreuz

4 Wenn die Auferstehung nach uns greift: die Taufe

5 Sehnsucht nach dem ewigen Leben

6 Auferstehung: Mitsein mit Christus

7 Die Stunde der Gerechtigkeit

Texte und Worte von Papst Johannes Paul II.

1 Tod: Der Blick über die Schwelle ist getrübt

2 Die Christen fürchten das Sterben nicht: Schriftworte über Tod und Leben

3 Vor dem Kreuz

4 Das Evangelium vom (ewigen) Leben

5 Tod, Auferstehung und Würde des Menschen

6 Der Gesang der Auferstehung

7 Das Testament

Texte und Worte von Papst Johannes Paul I.

1 Hoffnung auf Ewigkeit

Texte und Worte von Papst Paul VI.

1 In der Finsternis des Todes

2 Vor dem Kreuz

3 Auferstehung: Wir sind nicht bloß Zuschauer

4 Das Testament

Einleitung

Von Leben und Tod und wieder von Leben zu sprechen, ist nicht leicht. Darum hat dieses Vorwort mehrere Anfänge. Einer davon geht so:

Vor zwei Jahren, im März 2016, starb mit über 90 Jahren mein Vater. Nicht zu Hause, wie er eigentlich gehofft hatte, sondern in einem Krankenhaus in Bonn. Wir waren fast alle dabei, meine Mutter und die meisten meiner Geschwister; wir hielten seine Hand, als er den letzten Atemzug tat. Es war ein aufwühlender Moment, aber nicht nur – der Moment hatte auch seine Schönheit, oder wie soll ich das nennen? Seine Würde … Das ist es vielleicht. Mein Vater war ein aufrechter, sehr bescheidener Mann gewesen; als wir noch Kinder waren, war uns sein einfaches Auftreten manchmal peinlich. Wir liebten ihn. Dieses Buch ist ihm gewidmet.

Natürlich gab es in den Tagen nach dem Tod – es war die Karwoche, ausgerechnet – viel zu klären und zu organisieren, die Todesanzeigen das Requiem das Grab die Messdiener die Blumen. In unserer Dorfkapelle in Ließem beteten wir für ihn, Psalmen von fotokopierten Zetteln; doch diese uralten Sätze hatten auf einmal einen Sinn, der uns anging. Texte von Päpsten über Tod und Ewiges Leben hatte ich damals keine zur Hand – aber später, als ich diese Formulierung von Benedikt XVI. fand, dass nämlich das Ewige Leben wie ein »Eintauchen« sei, ein »Eintauchen in die Weite des Seins«, da dachte ich: Ja. Das trifft’s. Das wünsche ich meinem Vater, und darauf hoffe ich. Für ihn. Für uns.

Wir wissen ja nicht, was jenseits des Grabes auf uns wartet, aber Hoffnung dürfen wir haben. Immerhin Hoffnung.

Oder noch ein Anfang.

Früher gehörte es zum Ritus der Machtübernahme eines Papstes: Nicht nur die dreifache Krone, die Handschuhe mit Diamanten, der Pfauenwedel. Sondern auch dieses Bündel Werg, das auf einen Silberstab gespießt und verbrannt wird vor dem neuen Pontifex, und dazu die Worte: »Sic transit gloria mundi!« Zu Deutsch: So vergeht der Ruhm der Welt. (So ist inzwischen übrigens, im Mahlwerk der Reformen, auch dieser kleine Ritus vergangen.) Ich weiß nicht, ob Werg stinkt, wenn es brennt, aber ich stelle es mir so vor.

So vergehst auch Du, Petrusnachfolger, sollte das heißen, mit all Deinen Gewändern und Ringen und Troddeln. Ende! Das Gegenteil von »Habemus papam«, irgendwann mal – aber unausweichlich. Ein Papst des 16. Jahrhunderts, es war der Reformer Sixtus V., soll auf diesen kleinen verstörenden Ritus geantwortet haben, nein, sein Ruhm werde nicht vergehen, denn er kenne keinen anderen Ruhm als den, Gerechtigkeit zu schaffen1, aber Sixtus selbst jedenfalls ist dennoch vergangen – in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore findet sich sein Grab.

Gestern, vorgestern noch Hausherr am Hochaltar des Petersdoms, heute ein Häufchen Knochen – davon erzählen alle Papstgräber in den Grotten unter St. Peter. Transit. »Vergehen«. Aber auch »Hinübergehen« klingt da an, wie beim Transitbereich im Flughafen. Hinübergehen, wohin denn?

Eines der Papstgräber unter St. Peter ist das Erdloch, in dem vor 2000 Jahren Roms erste Christen den heiligen Petrus unmittelbar nach seinem Martyrium am Vatikanhügel bestattet haben (sollen). Einiges spricht dafür, dass der Ort authentisch ist. Die prachtvolle Kuppel des Michelangelo wölbt sich heute genau über diesem Armengrab. Simon, genannt Petrus, ein Fischer vom See Genesaret, gilt heute rückblickend als der erste Papst.

Eine faszinierende Vorstellung, dass unter all dem Marmor und Gold dieses Doms die sterblichen Überreste eines Mannes ruhen könnten, der einstmals Jesus auf den staubigen Wegen durch Galiläa gefolgt ist. Und der ihn sagen hörte: Ich bin der Weg. Ich bin das Leben.

Die Päpste und der Tod. Das klingt wie der Titel eines Dramas von Hugo von Hofmannsthal. Aber der Tod ist immer ein Drama, es wird täglich millionenfach aufgeführt; was können uns die Päpste zu Tod und Ewigem Leben sagen, was wir nicht ohnehin schon glauben oder hoffen oder glauben wollen?

Die Päpste sehen sich als Nachfolger des Petrus. Sie verlängern sein Zeugnis in die Heutezeit. Simon, genannt Petrus, ist der Autor mehrerer spontaner Glaubensbekenntnisse des Neuen Testaments (z.B. Mt 16,16) – und er ist der Zeuge par excellence für die Wiederkehr Jesu nach seinem Kreuzestod. »Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, / und erschien dem Kephas, dann den Zwölf« lautet die berühmte Formel, die Paulus zitiert (1 Kor 15,4b.5) – einer der ältesten Sätze des Christentums.

Die katholische Kirche hält es da wie der Islam, es gibt in ihren Augen eine isnad, eine ununterbrochene Kette von Zeugen bis zurück in die Zeit der Offenbarung. Weil Zeugenschaft etwas Persönliches ist und nichts Abstraktes, weil sie ein Gesicht braucht. Dieses Gesicht wollen oder sollten, durch die Jahrtausende hindurch, die Päpste sein.

Selbst im Auf und Ab der Charaktere in der Papstliste spiegelt sich, wenn man so will, noch etwas von der Wankelmütigkeit und Widersprüchlichkeit im Charakter des Petrus. Denn der Fischer war ja nicht nur der große Glaubensbekenner – er bleibt auch der Mann, der aus Kleinmut in den Fluten versank, der die Nacht der Anfechtung von Getsemani verschlief, der bei Jesu Gefangennahme das Schwert zog und den gefangenen Herrn kurz darauf verleugnete. Wackelige Zeugen sind das, Petrus und die Päpste: Menschen mit ihren Grenzen. Aber sie tragen diesen Satz weiter: Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25).

Im April 2005 – wieder so ein Anfang – starb Johannes Paul II. nach einem der längsten Pontifikate der Geschichte. Das Fernsehen hatte in den Jahren Monaten Wochen zuvor immer wieder sein schmerzverzerrtes, durch die Parkinsonkrankheit wie versteinert wirkendes Gesicht in Nahaufnahme in die Wohnzimmer gesendet; jetzt (es war der Samstag der ersten Osterwoche) beteten Pilger aus aller Welt auf dem Petersplatz bei Kerzenlicht, während er droben in einer Kammer des Apostolischen Palastes mit dem Tod rang. Fern von den Kameras, die ihn so lange auf Schritt und Tritt beobachtet hatten; nur eine Kerze brannte an seinem Bett, wie zu hören war.

Es herrschte eine eigentümliche Stimmung damals in Rom: Schon dass Menschen abends auf der Piazza noch den Rosenkranz murmelten, war ungewöhnlich, normalerweise flanierten hier um diese Zeit Römer und Touristen im letzten Licht. Auf einmal trat mitten in all diesem Beten und Murmeln ein Erzbischof ans Mikrofon und sagte: »Der Heilige Vater ist jetzt ins Vaterhaus zurückgekehrt.«

Ich muss zugeben, ich habe die Formel im ersten Moment gar nicht verstanden. Doch dann sah ich, dann sahen wir alle auf der Piazza, wie oben im Arbeitszimmer des Papstes das Licht anging: das Licht, das dort seit Wochen nicht mehr gebrannt hatte, das aber in all den Jahren zuvor, Abend für Abend, so ein vertrauter Anblick gewesen war. Plötzlich Licht. Da verstand ich erst, der Papst war tot. Irgendjemand fing an, da oben aufzuräumen.

Das Licht im päpstlichen Arbeitszimmer – es war immer so etwas wie ein Signal gewesen. Was auch passiert, 11. September 2001 oder andere Krisen: Im Zimmer des Papstes brennt noch Licht. Er sitzt noch da und arbeitet. Es geht alles weiter.

Die Tage nach dem Papsttod wird wohl keiner vergessen, der damals in Rom war. Wie der Leichnam Johannes Pauls im Petersdom aufgebahrt lag, direkt unter der Kuppel des Michelangelo (und über diesem Erdloch des Petrus), und Hunderttausende von Menschen zogen daran vorbei. Der Petersdom, eine Ameisenstraße. Und der Gesichtsausdruck des Toten: fremd, wie geschminkt; er hatte gelitten, das sah man. Ein amtierender und zwei ehemalige US-Präsidenten beteten vor dem Aufgebahrten, zweimal Bush und einmal Clinton – der Vatikan hatte den Dom dennoch nicht räumen lassen, die Ameisenstraße zog einfach weiter, um den Toten und um die Präsidenten herum.

Dann das Requiem auf dem Petersplatz. Auf dem Sarg Johannes Pauls lag ein Evangeliar, und der Wind blätterte die Seiten vor und zurück. Kardinal Ratzinger predigte in einem stark bayerisch gefärbten Italienisch. Zunächst referierte er einiges aus der Biographie des Verstorbenen, aber plötzlich, ganz zum Schluss, sagte er zwei Sätze, die vielen Zuhörern, auch mir, ans Herz griffen: »Wir können sicher sein, dass unser geliebter Papst jetzt am Fenster des Hauses des Vaters steht, uns sieht und uns segnet. Ja, segne uns, Heiliger Vater!«

Auch jetzt also wieder: am Fenster. Unwillkürlich sah man da zu dem Fenster des Palazzo hinüber, an dem Giovanni Paolo, ein kleines weißes Pünktchen, Sonntag um Sonntag gestanden hatte in den letzten Jahrzehnten. Auf einmal war das gewohnte Bild wieder da.

Wie soll ich das beschreiben? Es war wieder wie immer, für einen Augenblick. Ein seltsames Gefühl. Johannes Paul war tot, aber er machte einfach weiter – es ging einfach weiter. Da war sie für einen Moment, fast mit Händen zu greifen, die »Weite des Seins«.

Dieses Buch trägt zusammen, was die Päpste seit Paul VI. gesagt haben über Tod und Auferstehung und Ewiges Leben. Aber warum keine Texte von Johannes XXIII. oder sogar von Pius XII., ist die gesetzte Zäsur nicht willkürlich?

Nein. Denn auch von Päpsten der ferneren Vergangenheit gibt es zwar große Texte zu diesem Thema; doch erst mit Paul VI., dem Sohn eines Journalisten, begannen die Päpste in der Sprache der Moderne zu reden. In einer Sprache, die wir auch heute noch verstehen. Ältere Papsttexte sind kaum noch lesbar für Jetztmenschen; das liegt auch, aber keineswegs nur, am gravitätischen »Wir«. Vor allem argumentieren die älteren Texte aus heutiger Sicht zu binnenkirchlich, zu voraussetzungsreich. Erst das Konzil und die Johannes-Enzyklika Pacem in Terris von 1963 (der erste große Papsttext, der sich grundsätzlich an »alle Menschen guten Willens« richtete und nicht nur an die eigenen Leute) brachen den begrenzten Kreis der Adressaten auf.

Fünf Päpste. Fünf Menschen, die im Alter ins höchste kirchliche Amt gewählt worden sind, denken nach über die letzten großen Fragen. Warum betrifft uns das? Zum einen, weil hier (diesen Punkt haben wir schon erwähnt) fünf Männer das Zeugnis des Petrus nachsprechen, das Zeugnis des Mannes, der vor 2000 Jahren den Auferstandenen gesehen, mit ihm gegessen, mit ihm gesprochen hat. Sie wissen schon: isnad.

Aber vor allem sind diese Männer, diese Päpste, gestandene Seelsorger, die, und das merkt man unseren Texten an, um die letzten Fragen gerungen haben. Die nicht ausgewichen sind vor der Schwere und Leere des eschaton2. Die auch, jeder für sich, einen eigenen Ansatz gefunden haben, um auf die Frage nach Leben und Tod und wieder Leben zu antworten.

Was sie untereinander verbindet? Der Blick auf das Kreuz. Das ist der Knoten im Netz ihrer Gedanken. »Vor dem Kreuz« heißt darum das Kapitel, das fast alle fünf Päpste in diesem Buch gemeinsam haben.

Wir fangen an im Jetzt: Franziskus (seit 2013). Der erste lateinamerikanische Papst der Geschichte ist Jesuit – geschult darin, sich betrachtend in die biblischen Geschehnisse zu versetzen. Auch in die Szenerien der Auferstehung Jesu, so wie das Neue Testament sie schildert, hat Jorge Mario Bergoglio gedanklich immer wieder sich selbst eingetragen: Maria Magdalena am Grab, die Emmausjünger unterwegs, und die Erscheinung Jesu am See, nach einer erfolglosen Nacht des Fischens. Und mittendrin immer wieder: Bergoglio. Das ist der Blickwinkel, aus dem er auf Tod und Ewiges Leben sieht.

Hinzu kommt eine Grenzerfahrung aus seiner Zeit als junger Erwachsener, die ihn geprägt hat. Mit 21 hat der heutige Papst einmal dem Tod ins Auge gesehen: Schwere Lungenentzündung, starke Schmerzen, drei Tage zwischen Leben und Tod. Dieser dunkle Moment hat in ihm ein bis heute spürbares Misstrauen gegen hohle Worte des Trostes geweckt3.

Vor dem Tod sind wir machtlos, so denkt Franziskus; vor allem, wenn kleine Kinder sterben, blitzt eine große Sinnlosigkeit auf, der wir nicht entkommen. Wir sollten uns in einer solchen Lage nicht mit frommen Sprüchen betäuben, sondern das Quälende, die antwortlose Frage zulassen – und weinen.

Wie wir uns auf unseren eigenen Tod vorbereiten können? Durch unser ganzes Leben. Indem wir uns an Jesus halten – hier ist die einzige Brücke, die uns einmal aus der Finsternis des Todes herausführen kann. Und indem wir uns immer vor Augen halten, dass jeder Tag unser letzter sein könnte. Ein Mensch stirbt meistens so, wie er gelebt hat, denkt Franziskus. Das macht das Leben zu einem langen Prolog für den Moment des Todes.

Kennzeichnend für den argentinischen Papst ist die Intensität, mit der er über den Tod, auch den Tod Jesu, spricht. Hier findet er manchmal zu nahezu mystischen Formulierungen. Anders, irgendwie leichtfüßiger wird sein Reden, wenn es um das Ewige Leben geht, das für ihn vor allem in einem großen Wiedersehen aller mit allen zu bestehen scheint.

Ewiges Leben ist aus Franziskus’ Sicht vor allem eine Folge von Gottes rettendem Eingreifen, und ein solches Eingreifen hat er als Jugendlicher einmal bei einer Beichte in Buenos Aires selbst gespürt4. Mit einem Mal sei er sozusagen übermannt worden vom Gefühl der göttlichen Nähe und Barmherzigkeit. Seine spirituelle Urerfahrung: An ihr macht er seine Berufung zum Priesteramt fest, und sie stärkt ihn noch heute in der Überzeugung, dass wir Gott zutrauen dürfen: Er wird uns nicht alleinlassen im Todesdunkel.

Vor Franziskus: Benedikt XVI. (2005–2013). Joseph Ratzinger, ein Theologe aus Deutschland. Als großes Thema seines Denkens wird immer wieder das Verhältnis von Glaube und Vernunft genannt; doch hat er kein Thema theologisch so ins Letzte durchbuchstabiert wie die Eschatologie, die Lehre vom Letzten. Als Professor in Regensburg verfasste er dazu in den siebziger Jahren ein Buch, das er als sein »am meisten durchgearbeitetes Werk« ansieht5, und als er Jahrzehnte später als Papst ein neues Vorwort dazu verfasste, stellte sich heraus, dass er die theologische Debatte über all die Jahre en détail weiterverfolgt hatte.

Der theologische Ansatz, das ist das Eine. Aber noch etwas ist kennzeichnend für Ratzinger-Benedikt, nämlich das tiefe Erleben der Liturgie. In seinen Erinnerungen spricht er bewegt von einem mit Blumen und Lichtern geschmückten Grab Jesu in einer Kirche im bayerischen Tittmoning, »das zwischen Karfreitag und Ostern hier aufgerichtet war und das Geheimnis von Tod und Auferstehung vor allem rationalen Begreifen den äußeren und inneren Sinnen nahekommen ließ«.6

Und in der gleichen Tonlage erzählt er davon, wie ihn als Kind die Osternacht in der Kirche von Aschau, ebenfalls ein bayerischer Ort, beeindruckt hat: »Die Kartage hindurch hatten schwarze Vorhänge die Kirchenfenster verhüllt … Bei den vom Pfarrer gesungenen Worten ›Christus ist erstanden‹ fielen plötzlich die Vorhänge herunter, und strahlendes Licht durchflutete den Raum: Es war die eindrucksvollste Darstellung der Auferstehung des Herrn, die ich mir denken kann.«7

An dieser Darstellung überrascht, dass Ratzinger rückblickend von »strahlendem Licht« spricht – schließlich fand die Osternacht doch auch damals schon abends statt, an der Schwelle zur Nacht. So hell kann das Licht also gar nicht gewesen sein wie in seiner Erinnerung. Das sagt wohl etwas über die Tiefe des emotionalen Erlebens beim jungen Joseph Ratzinger.

Ich möchte keinen Hehl daraus machen, dass die Texte Benedikts XVI. aus meiner Sicht zu den schönsten dieses Buches gehören. Doch das liegt nicht nur an seiner Meisterschaft des Wortes, sondern auch an der Radikalität des Inhalts. Zwei Beispiele: Unsere Auferweckung aus dem Tod – er zieht den Begriff ›Auferweckung‹ dem der ›Auferstehung‹ vor, weil dadurch klarer wird, dass es Gott ist, der da handelt, und nicht wir – unsere Auferweckung also ist für Ratzinger keine individuelle, sondern eine gemeinschaftliche. Keiner von uns wird allein gerettet, ohne die anderen. Es gibt also kein Privat-Heil für mich, keine Exklusiv-Auferstehung.

Und zweitens: Ewiges Leben ist für ihn »nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen, sondern etwas wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen«.8

Es ist übrigens in diesem Kontext, dass Benedikt XVI. vom »Eintauchen in die Weite des Seins« spricht. Auf dieses »Eintauchen« bereitet er sich derzeit gedanklich und betend vor. Vor allem deswegen hat er 2013, als erster Papst der Neuzeit, sein Amt niedergelegt.

Vor Benedikt: der heilige Johannes Paul II. (1978–2005), ein Jahrhundertpapst. Unerschütterlich und neugierig, »Eiliger Vater« und Dichter.

Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder – alle starben bald, der junge Karol Wojtyla stand also früh alleine da im Leben. Das hat ihn geprägt und, natürlich, die Verheerungen, die Krieg und deutsche Besatzung über seine Heimat Polen brachten. Um Leben und Tod ging es immer wieder, schon in seiner Kindheit und Jugend; Auschwitz lag gerade mal 30 Kilometer von seinem Geburtsort Wadowice entfernt.

Wer dem alten Papst im Jahr 2000 zuhörte, als er in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem über diese dunklen Jahre sprach, der bekam eine Vorstellung davon, wie früh Karol Wojtyla den Ernst des Lebens und Sterbens kennengelernt hat. »Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum«, zitierte er aus Psalm 31. »Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt …«9.

Auch Johannes Paul war ein Überlebender. Als solcher focht er während seines Pontifikats vehement gegen das, was er die »Kultur des Todes« nannte – eine Kultur, die aus seiner Perspektive überall gefährlich vorrückte, vor allem im Westen. Das Evangelium sah er (so der Titel einer Enzyklika) als ein »Evangelium des Lebens«, als die Frohe Botschaft also, dass das Leben über den Tod siegt, letztlich.

Vor diesem Sieg allerdings lag und liegt der Kampf. Und diesen Kampf hat der Pole auf dem Stuhl des Petrus gekämpft, vor aller Augen, gerade in den letzten Jahren seiner Gebrechlichkeit.

Zu den dichtesten Texten dieses Papstes gehört eine Meditation zum Kreuzweg, die er zwei Jahre vor seinem Tod bei der traditionellen Via Crucis am römischen Kolosseum verlesen ließ. Darin blickte er, der inzwischen von der Parkinsonkrankheit in sich Verkrümmte und Verspannte, auf Jesu Körper am Kreuz. »Ein hohes Lösegeld ist dieser ganze Leib: die Hände, die Füße und jeder Knochen. Der ganze Mensch in höchster Spannung: Skelett, Muskeln, Nervensystem, jedes Organ, jede Zelle, alles ist in höchstem Maße angespannt … Die schreckliche Spannung des ganzen Leibes, der, nachdem er wie ein Gegenstand an die Balken des Kreuzes genagelt wurde, im Todeskampf bis zum Äußersten erniedrigt wird.«10

Das sind Sätze, die von einem genauen, fast unbarmherzigen Blick zeugen. Doch dann dreht sich der Text ins Poetische: Aufhebung der Schwerkraft. »In dieselbe Wirklichkeit der Kreuzigung tritt die ganze Welt ein, die Jesus an sich ziehen will (vgl. Joh 12,32). Die Welt ist der Zugkraft des Leibes ausgesetzt …« Und »obgleich sich unser Planet immer wieder mit Gräbern bevölkert, obgleich der Friedhof wächst« – wieder so ein scharfer Blick! –, gibt es doch seit der Nacht der Todesspannung von Golgota ein Grab, ein einziges, »in dem der Sohn Gottes, der Mensch Jesus Christus, den Tod durch den Tod besiegt hat«.11

Kennzeichnend für Johannes Paul II. ist, wie eng er das Thema Tod und Leben mit dem Thema Menschenwürde zusammenspannte. Das Kreuz Jesu gebe dem Menschen seine Würde wieder, gerade dem leidenden, dem unterdrückten Menschen, proklamierte er in seiner ersten Programmschrift »Redemptor Hominis«, und wer an Jesu Tod und Auferstehung glaube, müsse sich deswegen für das Leben der Menschen einsetzen, ganz auf der Linie des berühmten Diktums »gloria dei homo vivens« des frühchristlichen Kirchenvaters Irenäus von Lyon.12 Die Auferstehung Jesu besang der Wojtyla-Papst bei seinen Ansprachen vor dem Ostersegen Jahr für Jahr in gedichtähnlicher Form als endgültigen Durchbruch des Lebens und als Vernichtung des Todes.

Vor Johannes Paul II.: der erste Johannes Paul (1978), der Papst der 33 Tage. Albino Luciani, vormals Patriarch von Venedig, gewann als »lächelnder Papst« viele Sympathien – doch einen guten Monat nach seiner Wahl auf den Petrusstuhl wurde er tot aufgefunden. Natürlich schossen bald Spekulationen über talartragende Giftmischer ins Kraut; die Wahrheit dürfte einfacher, auch etwas weniger romantisch sein. Johannes Paul I. starb wohl an Herzkrämpfen, elend auf dem Fußboden, ganz allein in der Papst-Wohnung des Apostolischen Palastes.

Bis heute anrührend ist die Einfachheit, mit der Papst Luciani in seiner letzten Generalaudienz, kurz vor dem Tod, über Leben und Sterben sprach. Das Leben sei eine Reise zu Gott, sagte er, und: »Diese Reise ist schön.«

Und schließlich, vor Johannes Paul I.: Paul VI. (1963–1978). Der Papst, der das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende führte, von Oktober 2018 an ein Heiliger der Weltkirche.

Während des Zweiten Weltkriegs war Giovanni Battista Montini enger Mitarbeiter von Pius XII. im vatikanischen Staatssekretariat gewesen; als deutsche Truppen Rom 1943 besetzten und das Reich Hitlers bis direkt an den Petersplatz vorgerückt war, fürchtete Montini, die Nazis könnten unter irgendeinem Vorwand den Vatikan stürmen und Hand an den Papst legen. Das waren Tage und Wochen, in denen der Kurienprälat dem drohenden Tod ins Auge sah.

Die Nazis stürmten nicht; der Krieg ging zu Ende, Montini machte Karriere, wurde Erzbischof von Mailand, schließlich Papst. Ein reserviert-verbindlicher Mann, der Dante zitierte und französische Philosophen las. Auf einige wirkte er scheu, ja kalt. Doch als eine Terrorzelle der »Roten Brigaden« 1978 den Politiker Aldo Moro entführte und hinrichtete – einen langjährigen, engen Freund des Papstes –, erhob Paul, damals schon todkrank, eine hiobähnliche Totenklage, die immer noch zu den bewegendsten Texten eines Papstes der Neuzeit gehört. Er haderte mit Gott: »Du hast unser Gebet … nicht erhört«13; er fühlte eine Last auf der Seele, »so schwer wie der Stein, der vor dem Eingang des Grabes Christi lag«; er sprach vom »Tageslicht einer Sonne, die unweigerlich untergeht«.

Dieser Papst teilte die Unruhe des modernen Menschen angesichts der letzten Fragen. Und ausgerechnet sein Testament leitete er ein mit einem Hohelied auf »die Schönheit … dieser flüchtigen Existenz« des Menschen auf Erden. »Ich schließe die Augen auf dieser schmerzerfüllten, dramatischen und großartigen Erde…«14.

Schmerzerfüllt. Dramatisch. Großartig. Ich hoffe, dass diese Texte von fünf Päpsten über Tod und Ewiges Leben Ihren Blick weiten.

Rom, im Juni 2018

STEFAN VON KEMPIS

1 Vgl. Renzo Tosi, Dizionario delle Sentenze latine e greche, Mailand 1991, Nr. 648.

2 Griechisch: Das Letzte.

3 Vgl. Franziskus, Mein Leben – mein Weg, Freiburg 2013, S. 42f.

4 Ebd., S. 49f.

5 Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben, München 1997, S. 175.

6 Ebd., S. 12.

7 Ebd., S. 22.

8 Enzyklika Spe Salvi, 30.11.2007, Nr. 12.

9 Ansprache, 23.3.2000.

10 Meditation zum Kreuzweg, 18.4.2003.

11 Ebd.

12 »Gottes Ehre ist der lebendige Mensch«, in: Adversus haereses IV, 20, 7. Irenäus fährt fort: »Und das Leben des Menschen besteht in der Anschauung Gottes.«

13 Fürbitte, 13.5.1978.

14 Testament, begonnen im Juni 1965, veröffentlicht nach Pauls Tod im August 1978.

Texte und Worte von Papst Franziskus

1 Vor dem Geheimnis des Todes sind wir wehrlos

Gott war bestimmt stolz auf deinen Papa

Emanuele hat mir erlaubt, euch seine Frage vorzutragen: Er weint wegen seines (vor kurzem verstorbenen) Papas (…) und will wissen, ob sein Papa jetzt im Himmel ist.

(…) Ach, könnten wir doch alle weinen wie Emanuele, wenn wir so einen Schmerz im Herzen haben! Er weint um seinen Vater und hat den Mut, das vor uns allen zu tun, weil er in seinem Herzen diese Liebe zu seinem Papa hat (…) Wie schön, wenn ein Sohn über seinen Papa sagt: Er war ein guter Mensch! (…) Wenn dieser Mann in der Lage war, solche Kinder zu erziehen, dann stimmt es – er war ein guter Mensch. Dieser Mann hatte nicht die Gabe des Glaubens, er war nicht gläubig, aber er hat seine Kinder taufen lassen. Er hatte ein gutes Herz.

Glaubt ihr, dass Gott seine Kinder im Stich lässt, auch wenn sie gut sind?

(…) Gott entscheidet, wer in den Himmel kommt. Aber was denkt Gott über so einen Papa? Was meint ihr? – Das Herz eines Papas! Gott hat das Herz eines Papas. Und wenn er einen Papa sieht, der nicht gläubig war, aber imstande, seine Kinder zu taufen und sie auf den rechten Weg zu führen – glaubt ihr, Gott würde so jemanden fern von sich lassen? – Glaubt ihr, dass Gott seine Kinder im Stich lässt, auch wenn sie gut sind? –

Da hast du die Antwort, Emanuele. Gott war bestimmt stolz auf deinen Papa. Denn es ist einfacher, die Kinder taufen zu lassen, wenn man gläubig ist, als wenn man es nicht ist. Das hat Gott bestimmt sehr gefallen! Sprich mit deinem Papa, tausche dich mit ihm aus …

(ANTWORT AUF DIE FRAGE EINES ACHTJÄHRIGEN, OB SEIN VERSTORBENER VATER JETZT IM HIMMEL SEI, OBWOHL ER NICHT GLÄUBIG WAR. BEIM BESUCH IN EINER RÖMISCHEN PFARREI, 14.4.2018 – ÜBERSETZUNG DES HERAUSGEBERS)

Wenn ein Kind stirbt: Ein Abgrund tut sich auf

Der Tod ist eine Erfahrung, die alle Familien betrifft, ohne jede Ausnahme. Und er gehört zum Leben; wenn er jedoch die familiären Bindungen betrifft, erscheint uns der Tod nie als etwas Natürliches.

Die eigenen Kinder zu überleben ist für Eltern etwas besonders Schmerzvolles, das der elementaren Natur der Beziehungen widerspricht, die der Familie ihren Sinn geben. Der Verlust eines Sohnes oder einer Tochter ist so, als würde die Zeit stehenbleiben: Ein Abgrund tut sich auf, der die Vergangenheit und auch die Zukunft verschlingt. Wenn der Tod das eigene Kind im Kindes- oder Jugendalter hinwegrafft, so ist dies ein Schlag für die Verheißungen und für die Gaben und Opfer, die aus Liebe froh dem Leben dargebracht wurden, das wir zur Welt gebracht haben. Oft kommen in die Messe in »Santa Marta« Eltern mit dem Foto eines Sohnes, einer Tochter – ein Kind, ein Junge, ein Mädchen – und sagen zu mir: »Er ist von uns gegangen; sie ist von uns gegangen.« Und ihr Blick ist so schmerzerfüllt. Der Tod berührt uns, und wenn es sich um das eigene Kind handelt, berührt er uns zutiefst. Die ganze Familie ist wie gelähmt, verstummt. Und etwas Ähnliches erleidet auch das Kind, das durch den Verlust eines Elternteils oder beider Eltern allein bleibt. Die Frage: »Wo ist Papa? Wo ist Mama?« – »Er ist im Himmel.« – »Aber warum sehe ich ihn nicht?« Hinter dieser Frage verbirgt sich eine Angst im Herzen des Kindes, das allein bleibt. Die Leere der Verlassenheit, die sich in ihm auftut, ist umso furchterregender, da es nicht einmal genügend Erfahrung hat, um dem Geschehenen »einen Namen zu geben«. »Wann kommt Papa zurück? Wann kommt Mama zurück?« Was soll man antworten, wenn ein Kind leidet? So ist der Tod in der Familie.

Ich verstehe die Menschen, die Gott die Schuld geben

In solchen Fällen ist der Tod gleichsam ein schwarzes Loch im Leben der Familien, für das wir keine Erklärung finden. Und manchmal gibt man sogar Gott die Schuld. Wie viele Menschen – ich verstehe sie – sind wütend auf Gott, schimpfen: »Warum hast du mir den Sohn, die Tochter genommen? Gott gibt es gar nicht, Gott existiert nicht! Warum hat er das getan?« Das haben wir oft gehört. Diese Wut ist jedoch etwas, das mitten aus dem großen Schmerz kommt. Der Verlust eines Sohnes oder einer Tochter, des Vaters oder der Mutter ist ein großer Schmerz. Das passiert ständig in den Familien. In solchen Fällen ist der Tod, wie gesagt, gleichsam ein Loch. Der physische Tod hat »Komplizen«, die noch schlimmer sind als er: Sie heißen Hass, Neid, Hochmut, Geiz, also die Sünde der Welt, die dem Tod zuarbeitet und ihn noch schmerzlicher und ungerechter macht. Die familiären Bindungen scheinen gleichsam vorherbestimmte und wehrlose Opfer dieser Hilfskräfte des Todes zu sein, die die Geschichte des Menschen begleiten. Denken wir an die absurde »Normalität«, mit der zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten Ereignisse, die dem Tod noch weiteren Schrecken hinzufügen, vom Hass und von der Gleichgültigkeit anderer Menschen hervorgerufen werden. Der Herr bewahre uns davor, uns daran zu gewöhnen! Im Gottesvolk, mit der Gnade seines in Jesus geschenkten Mitgefühls, zeigen viele Familien durch ihr Handeln, dass der Tod nicht das letzte Wort hat: Das ist ein wirklicher Akt des Glaubens. Immer wenn die Familie in der – wenngleich schrecklichen – Trauer die Kraft findet, den Glauben und die Liebe zu bewahren, die uns mit jenen vereinen, die wir lieben, dann hindert sie den Tod schon jetzt daran, sich alles zu nehmen.

»Herr, mach meine Finsternis hell«

Der Finsternis des Todes muss mit einem intensiveren Einsatz für die Liebe begegnet werden. »Herr, mach meine Finsternis hell«, lautet die Anrufung im Abendgebet. Im Licht der Auferstehung des Herrn, der nie auch nur einen von denen verlässt, die der Vater ihm anvertraut hat, können wir dem Tod seinen »Stachel« nehmen, wie der Apostel Paulus gesagt hat (1 Kor 15,55); können wir ihn daran hindern, unser Leben zu vergiften, unsere Bindungen zu zerstören, uns in die finsterste Leere fallen zu lassen. In diesem Glauben können wir einander trösten, im Wissen, dass der Herr den Tod ein für allemal überwunden hat. Unsere Angehörigen sind nicht in der Finsternis des Nichts verschwunden: Die Hoffnung versichert uns, dass sie in den guten und starken Händen Gottes sind. Die Liebe ist stärker als der Tod. Daher besteht der Weg darin, die Liebe wachsen zu lassen, sie zu festigen. Und die Liebe wird uns behüten bis zu dem Tag, an dem jede Träne abgewischt wird: »Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal« (Offb 21,4). Wenn wir uns von diesem Glauben stützen lassen, dann kann die Erfahrung der Trauer eine stärkere Solidarität der familiären Bindungen bewirken, eine neue Öffnung für den Schmerz der anderen Familien, eine neue Brüderlichkeit mit den Familien, die in der Hoffnung geboren und neu geboren werden. In der Hoffnung geboren und neu geboren werden, das schenkt uns der Glaube.

Ich möchte jedoch den letzten Satz des Evangeliums hervorheben, das die Auferweckung eines jungen Manns schildert (vgl. Lk 7,11–15). Nachdem Jesus den jungen Mann, den Sohn einer Witwe, wieder zum Leben erweckt hat, heißt es im Evangelium: »Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.« Das ist unsere Hoffnung! All unsere Angehörigen, die von uns gegangen sind, wird der Herr uns zurückgeben, und wir werden mit ihnen zusammen sein. Diese Hoffnung wird nicht enttäuscht werden! Erinnern wir uns gut an diese Geste Jesu: »Und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.« Das wird der Herr mit allen unseren Angehörigen in der Familie tun!

Wir müssen uns zu Komplizen der Liebe machen

Dieser Glaube schützt uns vor der nihilistischen Auffassung vom Tod, ebenso wie vor den falschen Tröstungen der Welt, »damit die christliche Wahrheit nicht der Gefahr ausgesetzt wird, mit Mythologien verschiedener Art vermischt zu werden«, und den Versuchungen alten oder neuen Aberglaubens erliegt (Benedikt XVI.). Heute müssen die Hirten und alle Christen angesichts der Erfahrung von Trauer in der Familie den Glaubenssinn konkreter zum Ausdruck bringen. Man darf das Recht auf Weinen nicht leugnen – wir müssen in der Trauer weinen –, auch Jesus »weinte« und war »im Innersten erregt und erschüttert« über die schwere Trauer einer Familie, die er liebte (Joh 11,33–37).

Vielmehr können wir aus dem einfachen und starken Zeugnis vieler Familien schöpfen, die im äußerst harten Übergang des Todes auch den sicheren Übergang des gekreuzigten und auferstandenen Herrn erkannt haben, mit seiner unwiderruflichen Verheißung der Auferstehung der Toten. Was die Liebe Gottes wirkt, ist stärker als das, was der Tod tut. Wir müssen uns mit unserem Glauben zu tatkräftigen »Komplizen« jener, eben jener Liebe machen! Und denken wir an die Geste Jesu: »Und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.« Dasselbe wird er mit allen unseren Angehörigen tun, ebenso wie mit uns, wenn wir einander begegnen werden, wenn der Tod in uns endgültig überwunden sein wird. Er ist durch das Kreuz Jesu besiegt. Jesus wird uns alle unserer Familie zurückgeben!

(GENERALAUDIENZ, 17.6.2015)

Wir haben kein Alphabet für den Tod

Heute möchte ich die christliche Hoffnung der Wirklichkeit des Todes gegenüberstellen, einer Wirklichkeit, die unsere moderne Zivilisation immer mehr auszublenden versucht. So sind wir, wenn der Tod kommt – für jene, die uns nahestehen, oder für uns selbst – unvorbereitet und haben nicht einmal ein geeignetes »Alphabet«, um sinnvolle Worte über sein Geheimnis, das in jedem Fall bleibt, zu formulieren. Und dennoch drehten sich ersten Zeichen der menschlichen Zivilisation um eben dieses Rätsel. Man könnte sagen, dass der Mensch mit dem Totenkult entstanden ist.

Andere Zivilisationen vor uns hatten den Mut, [dem Tod] ins Gesicht zu schauen. Es war ein Geschehen, von dem die alten Menschen den neuen Generationen berichteten, als unvermeidliche Wirklichkeit, die den Menschen zwang, für etwas Absolutes zu leben. In Psalm 90 heißt es: »Unsere Tage zu zählen lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz« (V. 12). Die eigenen Tage zu zählen macht das Herz weise! Diese Worte führen uns zu einem gesunden Realitätssinn und vertreiben den Wahn der Allmacht. Was sind wir? Wir sind »vergänglich«, fast ein Nichts, heißt es in einem anderen Psalm (Ps 89,48). Unsere Tage gehen rasch vorbei: Selbst wenn wir 100 Jahre leben, erscheint uns am Ende alles nur wie ein Hauch. Oft habe ich alte Menschen sagen hören: »Mein Leben ist wie im Flug vergangen …«.

Der Tod legt unser Leben völlig blank

So legt der Tod unser Leben völlig blank. Er lässt uns entdecken, dass all unser Stolz, unser Zorn, unser Hass Nichtigkeit waren: reine Nichtigkeit. Wir merken mit Bedauern, dass wir nicht genug geliebt und nicht nach dem Wesentlichen gesucht haben. Und wir sehen im Gegensatz dazu das wirklich Gute, das wir gesät haben: die liebevollen Beziehungen, für die wir uns aufgeopfert haben und die uns jetzt an der Hand fassen. Jesus hat das Geheimnis unseres Todes erleuchtet. Mit seinem Verhalten gestattet er uns zu trauern, wenn ein geliebter Mensch uns verlässt. Er war »im Innersten erregt und erschüttert« vor dem Grab seines Freundes Lazarus und »weinte« (Joh 11,35). Wir spüren, dass Jesus uns durch diese Haltung sehr nahe ist, dass er unser Bruder ist. Er weinte um seinen Freund Lazarus. Und daher betet Jesus zum Vater, dem Quell des Lebens, und gebietet Lazarus, aus dem Grab herauszukommen. Und so geschieht es. Die christliche Hoffnung schöpft aus dieser Haltung, die Jesus gegenüber dem Tod des Menschen einnimmt: Wenn dieser in der Schöpfung vorhanden ist, so ist er doch eine Wunde, die den Liebesplan Gottes entstellt, und der Erlöser will uns davon heilen.

An einer anderen Stelle berichten die Evangelien von einem Vater, der eine schwerkranke Tochter hat und sich gläubig an Jesus wendet, damit er sie heilen möge (vgl. Mk 5,21–24.35–43). Und es gibt keine Gestalt, die erschütternder ist als ein Vater oder eine Mutter mit einem kranken Kind. Und sofort macht sich Jesus mit jenem Mann, der Jaïrus hieß, auf den Weg. An einem bestimmten Punkt kommt jemand aus dem Haus des Jaïrus und sagt ihm, dass das Mädchen gestorben sei und man den Meister nicht länger zu bemühen brauche. Jesus aber sagt zu Jaïrus: »Sei ohne Furcht; glaube nur!« (Mk 5,36). Jesus weiß, dass jener Mann versucht ist, mit Wut und Verzweiflung zu reagieren, weil das Mädchen gestorben ist, und rät ihm, die kleine Flamme zu bewahren, die in seinem Herzen brennt: den Glauben. »Sei ohne Furcht; glaube nur!« »Hab keine Angst, halte nur jene Flamme weiterhin am Brennen!« Und als sie dann beim Haus angekommen sind, wird er das Mädchen vom Tod auferwecken und es ihren Angehörigen lebendig zurückgeben. Jesus stellt uns auf diesen »Grat« des Glaubens.

»Glaubst du das?« Das sagt Jesus zu uns, wenn der Tod kommt

Marta, die über den Tod ihres Bruders Lazarus weint, stellt er das Licht eines Glaubenssatzes entgegen: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?« (Joh 11,25–26). Das sagt Jesus immer wieder zu jedem von uns, immer wenn der Tod kommt und das Gefüge des Lebens und der Liebe zerreißt. Unsere ganze Existenz spielt sich hier ab, zwischen der Seite des Glaubens und dem Abgrund der Furcht. Jesus sagt: »Ich bin nicht der Tod, ich bin die Auferstehung und das Leben, glaubst du das? Glaubst du das?« Glauben wir, die wir heute hier auf dem Petersplatz sind, das?

Vor dem Geheimnis des Todes sind wir alle klein und wehrlos. Welch eine Gnade jedoch, wenn wir in jenem Augenblick im Herzen die kleine Flamme des Glaubens bewahren! Jesus wird uns an der Hand fassen, wie er die Tochter des Jaïrus an der Hand fasste, und wird noch einmal sagen: »Talita kum!« »Mädchen, ich sage dir, steh auf!« (Mk 5,41). Er wird es zu uns sagen, zu einem jeden von uns: »Steh auf, erstehe auf!« Ich lade euch jetzt ein, die Augen zu schließen und an jenen Augenblick zu denken: den Augenblick unseres Todes. Jeder von uns möge an den eigenen Tod denken und möge sich jenen Augenblick vorstellen, der kommen wird, wenn Jesus uns an der Hand fassen und zu uns sagen wird: »Komm, komm mit mir, steh auf.« Dort wird die Hoffnung enden und zur Wirklichkeit werden, zur Wirklichkeit des Lebens. Denkt gut darüber nach: Jesus selbst wird zu einem jeden von uns kommen und uns an der Hand fassen, mit seiner Zärtlichkeit, seiner Güte, seiner Liebe. Und jeder wiederhole in seinem Herzen das Wort Jesu: »Steh auf, komm mit. Steh auf, komm mit. Steh auf, erstehe auf!«

Das ist unsere Hoffnung angesichts des Todes. Für den, der glaubt, ist er eine Tür, die völlig offen steht; für den, der zweifelt, ist er ein Lichtschimmer, der durch einen Spalt eindringt, der nicht völlig verschlossen ist. Für uns alle wird er jedoch eine Gnade sein, wenn das Licht der Begegnung mit Jesus uns erleuchten wird.

(GENERALAUDIENZ, 18.10.2017)

Wenn Gott geweint hat, dann darf auch ich weinen

In den Momenten der Traurigkeit, im Leiden der Krankheit, in der Angst der Verfolgung, im Schmerz der Trauer sucht jeder nach einem Wort des Trostes. Ganz deutlich spüren wir das Bedürfnis, dass jemand uns nahe ist und Mitleid mit uns hat. Wir erfahren, was es bedeutet, orientierungslos, verwirrt und zutiefst getroffen zu sein, wie wir es uns nie vorgestellt hatten. Unsicher schauen wir uns um, um zu sehen, ob wir jemanden finden, der unseren Schmerz wirklich verstehen kann. Der Geist füllt sich an mit Fragen, aber die Antworten bleiben aus. Der Verstand ist alleine nicht fähig, Licht ins Innere zu tragen, den Schmerz, den wir erfahren, zu erfassen und die Antwort zu geben, die wir erwarten. In diesen Momenten brauchen wir mehr die Gründe des Herzens – die einzigen, die imstande sind, uns das Geheimnis begreifen zu lassen, das unsere Einsamkeit umgibt.

Wie viel Traurigkeit können wir entdecken in vielen Gesichtern, denen wir begegnen! Wie viele Tränen werden vergossen in jedem Augenblick in der Welt – eine verschieden von der anderen –, und zusammen bilden sie gleichsam einen Ozean der Trübsal, der nach Erbarmen, Mitleid und Tröstung ruft. (…)

Die Tränen Jesu haben viele Theologen befremdet – und viele Seelen reingewaschen

In diesem unserem Schmerz sind wir nicht allein. Auch Jesus weiß, was es heißt, über den Verlust eines geliebten Menschen zu weinen. Es ist eine der ergreifendsten Stellen des Evangeliums: Als Jesus Maria den Tod ihres Bruders Lazarus beweinen sah, konnte auch er die Tränen nicht zurückhalten. Es überkam ihn eine tiefe Erschütterung und er weinte (vgl. Joh 11,33–35). Der Evangelist Johannes möchte mit dieser Beschreibung die Teilnahme Jesu am Schmerz seiner Freunde und sein Nachempfinden ihres Kummers zeigen. Die Tränen Jesu haben im Laufe der Jahrhunderte viele Theologen befremdet, vor allem aber haben sie viele Seelen reingewaschen und vielen Verwundungen Linderung verschafft. Auch Jesus hat ganz persönlich die Angst vor Leiden und Tod, die Enttäuschung und den Kummer über den Verrat des Judas und des Petrus und den Schmerz über den Tod seines Freundes Lazarus erfahren. Jesus »verlässt die nicht, die er liebt« (Augustinus, In Johannem 49,5). Wenn Gott geweint hat, dann darf auch ich weinen und wissen, dass ich verstanden werde. Das Weinen Jesu ist das Gegenmittel gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden meiner Brüder und Schwestern. Jenes Weinen lehrt mich, mir den Schmerz der anderen zu Eigen zu machen, Anteil zu nehmen am Ungemach und am Leiden derer, die in den schmerzlichsten Situationen leben. Es rüttelt mich auf, um mich die Traurigkeit und die Verzweiflung derer wahrnehmen zu lassen, die erlebt haben, wie ihnen sogar der Leib ihrer Lieben entrissen wurde, und die nicht einmal mehr einen Ort haben, wo sie Trost finden können. Das Weinen Jesu darf nicht ohne eine Antwort derer bleiben, die an ihn glauben. Wie er tröstet, so sind auch wir berufen, zu trösten.

Das Gebet ist das wahre Heilmittel

Im Moment der Fassungslosigkeit, der Ergriffenheit und des Weinens steigt im Herzen Christi das Gebet zum Vater auf. Das Gebet ist das wahre Heilmittel für unser Leiden. Auch wir können im Gebet die Gegenwart Gottes an unserer Seite spüren. Die Zärtlichkeit seines Blickes tröstet uns, die Kraft seines Wortes stärkt uns und flößt uns Hoffnung ein. Jesus betete am Grab des Lazarus und sagte: »Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst« (Joh 11,41–42). Wir brauchen diese Gewissheit: Der Vater erhört uns und kommt uns zu Hilfe. Die Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen ist, erlaubt uns zu sagen: Wenn man liebt, kann nichts und niemand uns von den Menschen, die wir geliebt haben, losreißen. Daran erinnert uns der Apostel Paulus mit sehr trostreichen Worten: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? […] Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (Röm8,35.37–39). Die Kraft der Liebe verwandelt das Leiden in die Gewissheit des Sieges Christi – und unseres Sieges mit ihm – und in die Hoffnung, dass wir eines Tages wieder zusammensein und für immer das Antlitz der Heiligsten Dreifaltigkeit, der ewigen Quelle des Lebens und der Liebe, betrachten werden.

Bei jedem Kreuz steht immer die Mutter Jesu. Mit ihrem Mantel trocknet sie unsere Tränen. Mit ihrer Hand hilft sie uns aufstehen und begleitet uns auf dem Weg der Hoffnung.

(GEBETSWACHE IM PETERSDOM, 5.5.2016)

Stunden des Verstummens

Wir spüren die Last der Stille angesichts des Todes des Herrn, eine Stille, in der sich ein jeder von uns wiedererkennt und die sich tief in die Risse des Herzens des Jüngers hinabsenkt, der angesichts des Kreuzes ohne Worte bleibt.

Es sind die Stunden des Jüngers, der angesichts des durch den Tod Jesu hervorgerufenen Schmerzes verstummt: Was soll man in Anbetracht dieser Wirklichkeit sagen? Der Jünger, der ohne Worte bleibt, weil er sich seiner Reaktionen während der entscheidenden Stunden des Lebens des Herrn bewusst wird: Angesichts der Ungerechtigkeit, die den Meister verurteilt hat, waren die Jünger still; angesichts der Verleumdungen und der falschen Zeugenaussagen, die der Meister erleiden musste, haben die Jünger geschwiegen. Während der schwierigen und schmerzhaften Stunden der Passion haben die Jünger auf dramatische Weise ihre Unfähigkeit erfahren, für den Meister etwas zu riskieren und zu seinen Gunsten zu sprechen; schlimmer noch, sie haben ihn verleugnet, sie haben sich versteckt, sie sind geflüchtet, sie waren still (vgl. Joh 18,25–27).

Der Stein vor dem Grab schrie

Es ist die Nacht des Schweigens des Jüngers, der sich erstarrt und gelähmt wiederfindet, ohne zu wissen, wohin er angesichts so vieler schmerzlicher Situationen gehen soll, die ihn niederdrücken und umzingeln. Es ist der Jünger von heute, der in Anbetracht einer Wirklichkeit verstummt ist, die sich ihm aufzwingt, indem sie ihm den Eindruck vermittelt und – was noch schlimmer ist – glauben macht, dass man nichts tun kann, um so viele Ungerechtigkeiten zu überwinden, die viele unserer Brüder in ihrem Fleisch durchleben.

(…) Und inmitten all unseres Schweigens, wenn wir auf so erdrückende Weise schweigen, dann beginnen die Steine zu schreien (vgl. Lk 19,40) und der größten Verkündigung, die die Geschichte jemals in ihrem Schoß tragen konnte, Raum zu lassen: »Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden« (Mt 28,6). Der Stein vor dem Grab schrie, und mit seinem Schrei verkündete er allen einen neuen Weg.

(PREDIGT IN DER OSTERNACHT, 31.3.2018)

2 Sich auf den Tod vorbereiten

Das letzte »Komm«, das der Vater spricht

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