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P. Howard


Ein Seemann in der Fremdenlegion


Roman


Aus dem Ungarischen von Vilmos Csernohorszky jr.



Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1940

unter dem Titel »Az elátkozott part«

bei Nova, Budapest.


»P. Howard« ist ein Pseudonym von Jenő Rejtő.


© 2012 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-91-6 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-17-6 (Druckausgabe)

Erstes Kapitel


Einige Worte über eine Hose, ein Tischtuch, mich selbst und andere dubiose Elemente


1.

Der Türkische Sultan hat sich seit zwei Tagen nicht mehr auf der Straße blicken lassen, weil ihm jemand seine Hose gestohlen hat. Dieses Kleidungsstück ist unverzichtbar, wenn man spazierengehen will. Welche Lehre zieht man daraus? Ich weiß nicht. Doch ist es ganz gewiss, dass sich hinter der Sache lehrreiche Folgerungen verstecken. Wenn man nämlich dem Sultan seine Hose ließe, oder wenn Delle Hopkins besser auf seine Kleidung achtete, dann entwickelte sich das Schicksal einiger Leute völlig anders – ja, sogar das Schicksal eines kleinen Reiches. Derlei Rätsel verbergen sich zuweilen im Hintergrund einer Hose.


2.

Nun aber und in erster Linie einige Worte über mich, den bescheidenen Helden dieses Romans. Ich bin ein frommer Mann, vielleicht deshalb, weil mein Onkel mütterlicherseits Kantor war und ich schon in früher Jugend die Achtung vor den Gesetzen der guten Moral in mich aufsog. Deshalb kann ich mich nur ganz selten dazu entschließen, am Marthatag zu stehlen. Denn Martha hieß meine Mutter, und folglich hege ich für diesen Tag eine große Ehrfurcht. Wundern Sie sich bitte nicht über meine altmodische Moral, doch haben meine Erfahrungen sonnenklar be­wiesen, dass ohne Respekt vor bestimmten Grundsätzen und Überlieferungen alle Wege unseres Daseins sich schwer und holprig gestalten, während wir – wenn wir nur für unsere Ideale und Grundsätze zu Opfern bereit sind – selbst über holprige Wege leicht dahingleiten.

All das vermag ich deshalb so klug und gewandt und gleichzeitig ergreifend auszudrücken, weil ich als Kind selbst Kantor werden wollte. Dass es trotzdem anders kam, liegt an der Überredungskunst meines heißgeliebten Vaters. Er war zwar nur ein einfacher Fischer gewesen, hatte mich aber darum gebeten, Matrose zu werden wie sein Vater, sein Großvater und sämtliche Ahnen, unter ihnen auch sein Urgroßvater. Er beschrieb mir die Schönheiten eines Lebens auf dem Schiff und die privilegierte Stellung des Seemanns, und er erwähnte sogar Lord Nelson, der sich seinerzeit auf den besonderen Mut meines Urgroßvaters berief, um zu verhindern, dass man den Alten pfählte. Die sanfte Überredung meines Vaters wäre jedoch ohne Folgen geblieben, wenn er im Verlauf seiner Argumentation darauf verzichtet hätte, mich mit einem Mast so lange zu schlagen, bis ich mich dem Gewicht seiner Beweisgründe beugte und als Schiffsjunge anheuerte.

Die Sehnsucht aber, den Frieden und die Menschenliebe zu verkünden, wärmt meinen Busen heute noch geradeso wie in früher Jugend, als ich noch nichts vom Leben wuss­te, mit meinen Kameraden spielte und meinen heiß geliebten Vater zur Sanitätsstation begleitete, wenn ihn die Übermacht des Kneipengeschwerls zu Boden gedrückt hatte …

Meine Belesenheit verdanke ich meiner mütterlichen Li­nie. Die Geschichte der Genoveva war das erste Buch gewesen, an das ich Hand legen konnte und im Laufe der Jahre mehrere Male las. Später kam mir das »Gil Blas« betitelte Werk in die Hände, und in Sing-Sing habe ich die Historie des Schwanenritters Lohengrin gleich zehnmal überflogen. Diese tiefschürfende Moritat hat mein Denken und Fühlen definitiv geprägt, indem ich die ewiggültige menschliche Moral dieses Werkes begriff: Vergebens machst du ein Geheimnis aus deiner Vergangenheit. Das Weib kommt ­früher oder später dahinter, und du fliegst wie ein Schwan. Welch weiser und tiefschürfender Gedanke. Auf meine mön­chi­schen Ambitionen führe ich es zurück, dass ich stets gerne in der Zelleneinsamkeit meditiere, und nur wer schon mal Papiertüten klebte, weiß um die tiefe Konzentration, welche dem Tütenkleben innewohnt. So wurde ich der fahrende Verkünder von gegenseitigem Verstehen, Frieden und Lie­be. Ich habe einige Prinzipien, an die ich mich unter allen Um­ständen halte:

1. Meide Zwist und rohe Gewalt.

2. Meide den Streitsüchtigen.

3. Suche, auf deinen Nächsten mit sanfter Überredung einzuwirken.

4. Berufe dich nicht auf Entlastungszeugen, denn was nützt es dir, wenn man deine Bekannten einlocht?

5. Meide den Betrunkenen, und man wird dich in ähnlichem Zustand in Ruhe lassen.

6. Sei nicht eitel und eingebildet, und du wirst klüger und vortrefflicher sein als deine Mitmenschen.

So viel über mich, meinen Charakter, meine Vergangenheit, meine Grundsätze und meine interessante Persönlichkeit.


3.

Der Namenstag meiner Mutter wurde zur Ursache allen Übels. Ich hielt mich gerade im malerischen Oran auf, ohne Anstellung wegen meines gemütsrohen Kapitäns, nachdem ich auf dem Dreimaster namens »Tagesdecke« als zweiter Alkoholschmuggler Dienst getan hatte. Der Kapitän war ein gewalttätiger Kerl, der seine Körperkraft häufig missbrauchte und erbarmungslos zuschlug, oh­ne zu schauen, wohin. Irgendwann griff mich dieser Unmensch wegen einer Kleinigkeit an und schlug mir mit einer Latte die Nase ein. Denn seine Herzlosigkeit kannte keine Grenzen, wenn er einen quälen konnte. Nur schwer gelang es mir, weiteren Misshandlungen zu entgehen, währenddessen er auf seinem halben Auge blind wurde. Aber seine Rippen rührte ich nicht an. Die brach er sich erst, als er auf der Wendeltreppe in den Schiffsboden stürzte. Dafür konnte ich nichts. Auf anständigen Schiffen bedeckt man Treppenöffnungen mit einer Klappe.

Nach diesem Zerwürfnis konnte ich nicht mehr in Dienst bleiben, und so stand ich dann da mitten in der malerischen Üppigkeit des ausgehungerten Oran, ohne einen Cent, als armer Matrose. Papiere hatte ich auch keine. Meine alte Widersacherin, die Bürokratie, hatte mich dieser wichtigen Seemannsutensilie beraubt. Zum Glück weilten einige meiner Geschäftsfreunde gerade auf freiem Fuß in der Stadt und wohnten als große Verehrer antiker Bildung in einer Zisterne punischen Ursprungs gleich hinter den Außenbezirken. Das erfuhr ich von Delle Hopkins, nachdem wir uns bei einem befreundeten Hehler getroffen hatten. Delle Hopkins war gedrungen, aber nicht dick, und anlässlich einer Meinungsverschiedenheit war ihm etwas ins Gesicht geschleudert worden, so dass seine Nase winzig wurde und ganz rot. Seine Stimme knarrte, als ob er ständig eine ganze Kompanie unter sich hätte, und seine Melone schob er in den Nacken, rauchte außerdem ganz knappe Zigarren, ­sicher aus zweiter Hand, und war außerordentlich krummbeinig.

Er hatte mich zuerst bemerkt, als ich direkt vor ihm durch den Menschenstrom watete, und schlug mir freundlich auf die Schulter, half mir dann aber wieder auf und klopfte mir den Staub ab.

»Grüß dich, Keule!«

»Delle!«, rief ich hocherfreut. »Dich habe ich gebraucht. Habe keine Wohnung, und für das Ölzeug des Kapitäns hat man mir nur zehn Francs bezahlt.«

»Macht nichts, mein Sohn! Keine Bange, Kopf hoch«, sagte er laut und breit, da er immer zuversichtlich war. »Gar kein Problem!«

»Kann ich auf dich zählen?«

»Bist du blöd? Unter Freunden ist das keine Frage.«

»Also?«

»Wir vertrinken deine zehn Francs, und alles andere wird sich geschichtlich entwickeln. Komm!«

So ein Mensch war er. Ein treuer Freund und durch und durch opferbereit. Außerdem ein richtiger Herr. Er heuerte nie als Matrose an, schmiss mit dem Geld um sich und verehrte überaus die Frauen. Von Beruf bereiste er als Privatier die ganze Welt, nachdem ein übereifriger Kommissar wegen seiner Vergangenheit eine ausgedehnte Korrespondenz mit den Behörden der ganzen Windrose geführt hatte. Wir vertranken die zehn Francs und wollten gerade aufbrechen.

»Du! Von den zehn Francs haben wir ja gar nichts für Essen ausgegeben.«

»Pfeif drauf, Kumpel, solange ich bei dir bin. Pass mal auf! Wir gehen zum Türkischen Sultan und essen was.«

Über den Türkischen Sultan habe ich schon anfangs verlauten lassen, dass er seit zwei Tagen nicht mehr auf der Straße war, weil man ihm die Hose gestohlen hatte. Von diesem Umstand ließ uns Delle profitieren. Der Türkische Sultan, der seinen Namen der großen Nase und den überlangen Armen verdankte, lag halbtot in seinem Zimmer, auf einem Schleppkahn. Das Boot war für das Trockendock bestimmt, und um zu verhindern, dass es schon vorher Planke für Planke gestohlen wird, hatte man den Türkischen Sultan als Wächter angestellt. Dafür ließ man ihn dort wohnen und stellte ihm zweihundert Francs in Aussicht. Aber vor zwei Wochen war er so betrunken, dass ihm, während er schlief, die Hose gestohlen wurde, so dass er sich seitdem nur nachts in der Stadt sehen lässt: in ein buntes Tischtuch eingewickelt, wie Harun Al Raschid, der Kalif.

Dem Türkischen Sultan machte Delle Hopkins das folgende Angebot: Er sei bereit, ihm seine Hose zur Verfügung zu stellen, und zwar auf der Tarifgrundlage maschinenbe­triebener Fahrzeuge, das heißt für einen Franc fünfundvierzig Centimes die Stunde, oder aber für sieben Francs während des Nachmittags und ein Abendessen für zwei Personen.

Der Sterbende zündete eine Zigarette an.

»Teuer«, sagte er. »Vier Francs kannst du haben, aber nur, wenn du auch dein Hemd hergibst.«

Reden wir jetzt nicht von Delles Hemd. Die Bitte des Türkischen Sultans wird erst durch den Umstand nachvollziehbar, dass er gar kein Hemd besaß.

»Für acht Francs leihe ich dir auch noch das Hemd. Wenn nicht, dann nicht.«

Nach einigen auffallend rohen Ehrenrührigkeiten einigten sie sich auf sechs Francs vierzig, später zu zahlen. Delle übergab die Hose und das beinahe vollständige Hemd. Einen Ärmel, der sich selbständig gemacht hatte, steckte er in seine Manteltasche. Die Hose war überaus weit und kurz. Der Türkische Sultan eilte davon. Danach setzten wir uns auf das Deck des Kahns. Delle sah mit seinem Tischtuch wie ein Häuptling aus, und so warteten wir.

»Bist du sicher, dass der Türkische Sultan zurückkommt?«, fragte ich.

»Da kannst du Gift drauf nehmen.«

»Ist er so anständig?«

»Das … glaube ich nicht …«, antwortete er nachdenklich. »Aber er wird trotzdem zurückkommen. Er hat eine Wohnung hier, und ein Zimmer trägt sich bequemer als eine Hose.«

Traurig, dass sich selbst so kluge Leute wie Delle Hopkins irren können. Über dem Lärm des Hafens von Oran dämmerte es langsam, aber der Sultan kam nicht wieder. Delle betrachtete angewidert die Tischdecke auf seinem Bauch. Er machte den Eindruck eines sorgengeplagten Tisches.

»Ob ihm etwas zugestoßen ist?«, ventilierte er.

»Hm … wenn er nach Geld Ausschau hielt und auf frischer Tat ertappt wurde, dann kann es sogar sein, dass er schon einsitzt …«

»Meine Hose!«, rief mein Freund verbittert.

Schon bald zog sich der dunkle Himmel sein Sternenkostüm an, der Mond erschien – und auch noch eine Wachtruppe mit Bajonetten.

»Dieser Gauner kommt nicht.«

»Vielleicht doch noch.«

»Ach was! Dieser Frechdachs hat sein ständiges Domizil gekündigt. Nicht die Hose schmerzt mich. Seine Garderobe kann man immer irgendwie auffrischen, aber die Mannesehre … Der Türkische Sultan stiehlt meine Hose. Ich hatte schon mit vielen Gaunern zu tun, und du bist auch ein guter Freund, aber wir haben uns noch nie übers Ohr gehauen … Eine traurige Geschichte.«

»Was sollen wir tun?«, fragte ich Delle.

»Kein Problem, mein Alter«, antwortete mein Freund. Und er saß da wie die Kreuzung aus einem Indianerhäuptling und einem Küchentisch.

»Schließlich geht das Leben weiter, und ich werde nicht in dieser Tischdecke alt werden. Zu Hause in der Zisterne wohnen meine alten Mieterfreunde. Du gehst hin und bringst mir eine Hose.«

»Es kann aber auch sein, dass der Sultan noch kommt …«

»Der nicht. Ich habe eine Hose und einen guten Freund für immer verloren. Um die Hose ist es jammerschade, keine sieben Jahre alt. Aber egal. Nicht die Kleidung macht den Mann. Ich werde mich mit einer schlechteren zufrieden geben.«

Wenn Sie je seine Hose gesehen hätten, dann würden Sie sich jetzt vor seiner Genügsamkeit verbeugen.

»Aber … wenn du mir deine Hose leihen würdest«, sagte Hopkins, »könnte ich in einer halben Stunde zu einer Hose kommen.«

Von dieser Idee war ich gar nicht begeistert.

»Sieh mal … ich möchte meinen Freund und meine Hose behalten …«

»Du zweifelst also an meiner Anständigkeit?«, sagte er mit schneidend kaltem Spott. »Ausgerechnet du, mit dem ich zwei Jahre in Sing-Sing verbrachte? Mit dem ich das bittere Brot der Gefangenschaft teilte?«

Seine Worte rührten mich sehr, denn sie beruhten auf Tatsachen.

»Delle, mein Herz blutet, aber ich werde mich nicht nackt in die Tischdecke setzen …«

Jemand klopfte gegen die Plankendecke: Es war ein barfüßiger Bursche mit einem Brief.

»Stammt von einem Irren«, sagte er. »Er wurde von jedermann angestarrt, da er bis zu den Knien in einem Ele­fantenleder steckte … Polizisten mussten die Ordnung wiederherstellen …«

Aus dem Gesagten war klar: Das war der Türkische Sultan, in Delles Hose.

»Was hat er uns zu sagen?«

»Ich musste ihn zu einem Bekleidungsgeschäft begleiten, wo er die Hose gegen eine rote Pluderhose eingetauscht hat.«

Delle heulte auf.

»Was?!«

»Ja. Eingetauscht. Er sagte, er zahlt drauf, als er aber die Pluderhose anhatte, drohte er dem Besitzer mit Prügel und gab ihm kein Geld … Dann schrieb er diese Notiz und schick­te mich damit hierher. Man würde mir hier fünf Francs geben und Schnaps …«

Als wir den Jungen verscheucht hatten, rissen wir den Umschlag auf. Folgendes schrieb uns der Türkische Sultan:

Liebe Junks!

Leider habe ich euch unvorhergesehen ein kleinwenig übers Ohr gehauen. Man muss vom Schiff abhauen. Die Besitzer haben nämlig nachts eine große Kiste gebracht. Als ich die stehlen wollte, wo die schon weg waren, die Besitzer, sah ich, dass in der Kiste eine Leich wohnte. Wegen der Bolizei. Das tut mir aber von Herzen leid. Mit einer ganz ausgezeichneten Hochachtung an euch.

Der türkischer

Brenzlige Sache. Eine Leiche auf dem Schiff.

»Renn«, sagte Delle. »Wenn du nicht in einer Stunde zurück bist, springe ich ins Wasser, und ohne Hose kann ich nie wieder an Land.«

Das Vorgehen des Türkischen Sultans war aus mancherlei Hinsicht verständlich, in Anbetracht seiner verzweifelten Lage, aber es war doch gemein von ihm, uns mit einem Toten zurückzulassen.

»Ich gehe …«

»Durch die Avenue Maréchal Joffre, wo du auf jedem Kotflügel die Straße zum Friedhof erreichst. Dahinter liegen die Zisternen.«

»In Ordnung.«

»Hinter der Post kannst du eventuell ein Auto stehlen, so kommst du schneller voran.«

Entsetzt wies ich es zurück:

»Heute? Es ist doch Marthatag?«

»Ja, stimmt. Du bist schwachsinnig … Das heißt, egal, nur mach schnell.«

Ich rannte.