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Iwan Turgenjew

ERSTE LIEBE

Neu übersetzt und kommentiert
von Vera Bischitzky

C.H.BECK textura

ZUM BUCH

«Ich war ganz zaghafte Erwartung, staunte über alles und war zu allem bereit; meine Phantasie spielte und kreiste um ein und dieselben Vorstellungen, wie Mauersegler in der Dämmerung um Glockentürme kreisen.» In seiner atemberaubenden Novelle «Erste Liebe» durchmisst Iwan Turgenjew den ganzen Kosmos jugendlichen Empfindens: die halb bewussten Ahnungen des Neuen, den Donnerschlag der ersten Begegnung, die Qualen des Hoffens und die Bitternis der tiefsten Enttäuschung.

Im Sommer auf dem Land begegnet der sechzehnjährige Wladimir der fünf Jahre älteren, lebenssprühenden, so zärtlichen wie gebieterischen Sinaida – und verfällt ihr auf der Stelle. Mit ihren zahlreichen Verehrern spielt sie nach Belieben, aber Wladimir scheint sie zu ihrem besonderen Liebling auserkoren zu haben. Sie fordert ihn zu einem Liebesbeweis heraus und lässt sich selbst zu einem Gefühlsausbruch hinreißen – doch die schreckliche, die unerhörte Wahrheit holt den Jungen am Ende ein … Turgenjews autobiographisch grundierte Liebesgeschichte flirrt vor Spannung und ist zugleich von enormer psychologischer Subtilität. Die lange fällige Neuübersetzung von Vera Bischitzky bringt die Poesie dieses klassischen Textes zum Leuchten.

ÜBER DEN AUTOR

Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883) stammte aus einem alten russischen Adelsgeschlecht. Ab Mitte der 1840er Jahre lebte er mit kurzen Unterbrechungen im Ausland, vor allem in Deutschland und Frankreich. Er zählt zu den größten Erzählern der russischen Literatur und wurde besonders für seine Novellen berühmt.

ÜBER DIE ÜBERSETZERIN

Vera Bischitzky ist eine der renommiertesten Übersetzerinnen aus dem Russischen. Neben Gegenwartsliteratur hat sie zahlreiche Werke der großen Klassiker übersetzt. Dafür wurde sie mit dem Helmut-M.-Braem-Preis sowie dem Internationalen Gontscharow-Preis für Literatur ausgezeichnet.

INHALT

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

ANMERKUNGEN

NACHWORT – «The first cut is the deepest»

Anmerkungen zum Nachwort

Die Gäste waren schon lange fort. Es schlug halb eins. Nur Sergej Nikolajewitsch, Wladimir Petrowitsch und der Hausherr befanden sich noch im Zimmer.

Der Hausherr läutete und ließ die Reste des Abendessens abtragen.

«Es ist also beschlossen», sagte er, rückte tiefer in den Sessel und zündete sich eine Zigarre an, «jeder von uns muss die Geschichte seiner ersten Liebe erzählen. Sie machen den Anfang, Sergej Nikolajewitsch.»

Sergej Nikolajewitsch, ein blonder Mann, rund und pausbäckig, sah zunächst den Hausherrn an, hob dann die Augen zur Decke und sagte schließlich:

«Eine erste Liebe, die hatte ich gar nicht, ich habe gleich mit der zweiten angefangen.»

«Wie ist das zu verstehen?»

«Ganz einfach. Ich war achtzehn, als ich zum ersten Mal einem reizenden Fräulein den Hof machte; doch ich tat es so, als sei das gar nichts Neues für mich. Und ebenso bemühte ich mich später auch um andere Damen. Genau genommen habe ich mich zum ersten und letzten Mal mit sechs Jahren in meine Kinderfrau verliebt; doch das ist sehr lange her. Die Einzelheiten unserer Beziehung sind mir entfallen, aber selbst wenn ich mich erinnern würde, wen könnte das interessieren?»

«Tja, dann ist die Reihe wohl an mir?», begann der Hausherr. «Meine erste Liebe ist ebenfalls nicht sonderlich interessant; bevor ich Anna Iwanowna, meine heutige Frau, kennenlernte, habe ich mich nicht verliebt. Alles ging bei uns ganz reibungslos vonstatten: unsere Väter haben die Verbindung arrangiert, wir gewannen einander sehr schnell lieb und sind ohne lange zu zögern die Ehe eingegangen. Meine Geschichte ist mit zwei Worten erzählt. Als ich die Frage nach der ersten Liebe aufwarf, habe ich, ich gebe es zu, auf Sie beide gezählt, meine Herren. Sie sind zwar keine alten, doch auch nicht mehr taufrische Junggesellen. Vielleicht wollen Sie uns eine Freude machen, Wladimir Petrowitsch?»

«Meine erste Liebe gehört tatsächlich zu jenen nicht ganz alltäglichen», antwortete Wladimir Petrowitsch, ein Mann um die vierzig mit grau meliertem schwarzen Haar, etwas stockend.

«Oh!», sagten der Hausherr und Sergej Nikolajewitsch wie aus einem Mund. «Umso besser … Erzählen Sie.»

«Nun gut … oder nein: erzählen werde ich nicht; ich bin kein guter Erzähler: entweder erzähle ich zu trocken und verkürzt oder langatmig und ungenau. Wenn Sie gestatten, will ich alles, woran ich mich erinnere, aufschreiben und Ihnen später vorlesen.»

Zuerst wollten die Freunde nichts davon hören, Wladimir Petrowitsch aber beharrte darauf.

Zwei Wochen später kamen sie erneut zusammen. Wladimir Petrowitsch hatte sein Versprechen gehalten.

Folgendes hatte er aufgeschrieben:

I

Die Geschichte trug sich im Sommer 1833 zu. Ich war damals sechzehn Jahre alt und lebte mit meinen Eltern in Moskau. Sie hatten unweit des Kalugaer Tores ein Sommerhaus gemietet, dem Neskutschny-Park gegenüber. Ich bereitete mich auf die Universität vor, arbeitete aber kaum und ohne besonderen Eifer.

Niemand schränkte meine Freiheit ein. Ich tat, was ich wollte, besonders seit dem Tag, da ich mich von meinem letzten französischen Hauslehrer getrennt hatte, der sich nicht an den Gedanken gewöhnen konnte, «wie eine Bombe» (comme une bombe) in Russland gelandet zu sein, und sich tagelang mit verbittertem Gesichtsausdruck im Bett wälzte. Vater behandelte mich mit freundlicher Gleichgültigkeit; Mutter schenkte mir kaum Beachtung, obwohl ich ihr einziges Kind war: sie beschäftigten andere Sorgen. Mein Vater, ein noch junger, sehr gut aussehender Mann, hatte sie aus Berechnung geheiratet; sie war zehn Jahre älter als er. Mutter führte ein trauriges Leben: unablässig regte sie sich auf, war eifersüchtig und ärgerlich, allerdings nicht in Vaters Anwesenheit; sie fürchtete ihn sehr. Er dagegen war streng, kalt und unnahbar … Nie habe ich einen Mann gesehen, der beherrschter, selbstbewusster und gebieterischer gewesen wäre.

Die ersten Wochen auf dem Land sind mir unvergesslich. Wir waren am neunten Mai, dem Tag des heiligen Nikolaus, bei herrlichem Wetter aus der Stadt übergesiedelt. Ich spazierte umher, bald im Park unseres Sommerhauses, bald im Neskutschny-Park, bald vor dem Tor; immer hatte ich auch ein Buch dabei, das Lehrbuch von Kajdanow zum Beispiel, doch ich schlug es selten auf, meist deklamierte ich Gedichte, von denen ich viele auswendig kannte; mein Blut brauste und das Herz tat mir weh – süß und seltsam: ich war ganz zaghafte Erwartung, staunte über alles und war zu allem bereit; meine Phantasie spielte und kreiste um ein und dieselben Vorstellungen, wie Mauersegler in der Dämmerung um Glockentürme kreisen; ich grübelte, war traurig und weinte gar; doch auch durch die Tränen oder die Traurigkeit, die von einem wohlklingenden Vers oder der Schönheit des Abends herbeigeweht sein mochten, brach sich, wie der Grashalm im Frühling, das freudige Gefühl jungen, schäumenden Lebens Bahn.

Ich besaß ein Pferd, das ich selbst sattelte, mit ihm ritt ich weit hinaus, stürmte im Galopp dahin und stellte mir vor, ich sei ein Ritter im Turnier – wie fröhlich mir der Wind um die Ohren pfiff! –, oder ich nahm, das Gesicht gen Himmel gewandt, sein strahlendes Licht und das Blau in meine weit geöffnete Seele auf.

Damals schwebte mir, soweit ich mich erinnere, fast nie das Bild einer Frau oder das Phantom weiblicher Liebe in konkreten Umrissen vor; doch in allem, was ich dachte, in allem, was ich fühlte, barg sich ein halb bewusstes, schamvolles Vorgefühl von etwas Neuem, unsagbar Süßem, Weiblichem …

Dieses Vorgefühl, diese Erwartung durchdrang mein ganzes Wesen: jeden Atemzug, jeden Blutstropfen in meinen Adern … und bald schon sollte es Gestalt annehmen.

Unser Sommerdomizil bestand aus einem hölzernen Herrenhaus mit Säulen und zwei niedrigen Nebengebäuden; im Gebäude linker Hand war eine winzige Fabrik untergebracht, die billige Tapeten herstellte … Oft ging ich hinüber, um zuzuschauen, wie ein Dutzend magerer, zerzauster kleiner Jungen mit verhärmten Gesichtern und speckigen Kitteln auf hölzerne Hebel sprangen, die viereckigen Stempel einer Presse niederdrückten und auf diese Weise mit dem Gewicht ihrer ausgemergelten Körper bunte Muster auf die Tapeten prägten. Das rechte Gebäude stand leer und wartete auf Mieter. Eines Tages – drei Wochen nach dem neunten Mai – wurden dort die Fensterläden aufgesperrt und zwei weibliche Gesichter kamen zum Vorschein. Eine Familie war eingezogen. Ich erinnere mich, dass Mutter noch am selben Tag während des Mittagessens bei unserem Haushofmeister Erkundigungen einzog, wer diese neuen Nachbarn seien, und, nachdem sie den Namen einer Fürstin Sassekina vernommen hatte, zuerst mit einer gewissen Hochachtung «Ah! Eine Fürstin …» sagte, dann aber hinzufügte: «Muss wohl eine arme sein.»

«Sie sind mit drei Mietkutschen gekommen», bemerkte der Haushofmeister, während er beflissen die Speisen servierte, «eine eigene Kutsche haben sie nicht, und die Möbel sind mehr als schäbig.»

«Ja», entgegnete meine Mutter, «aber dennoch etwas Besseres.»

Vater sah sie kalt an, worauf sie verstummte.

Die Fürstin Sassekina konnte tatsächlich keine reiche Frau sein, denn das von ihr gemietete Häuschen war so baufällig, klein und niedrig, dass auch nur einigermaßen Wohlhabende sich dort nie und nimmer einquartiert hätten. Ich schenkte dem damals aber keinerlei Beachtung, denn erst unlängst hatte ich Schillers «Räuber» gelesen, weshalb mich der Fürstentitel nicht sonderlich beeindruckte.

II

Ich hatte mir angewöhnt, jeden Abend mit der Flinte durch unseren Park zu streifen und den Krähen aufzulauern. Seit jeher empfand ich Abscheu vor diesen vorsichtigen, raublustigen und listigen Vögeln. An jenem Tag, von dem ich erzählen will, hatte ich mich wieder in den Park begeben, vergebens sämtliche Alleen durchstreift (die Krähen hatten mich erkannt und krächzten nur abgehackt aus der Ferne) und mich zufällig dem niedrigen Zaun genähert, der unsere Besitzungen von einem schmalen Parkstreifen abtrennte, der sich zum rechts gelegenen Gebäude hinzog, zu dem er gehörte. Mit gesenktem Kopf lief ich vorwärts. Plötzlich hörte ich Stimmen; ich schaute über den Zaun und erstarrte … Mir bot sich ein seltsames Bild.

Einige Schritte von mir entfernt stand auf dem Rasen zwischen grünen Himbeersträuchern ein großes, schlankes Mädchen in einem rosagestreiften Kleid und weißen Kopftuch; vier junge Männer umringten es, denen es nacheinander mit kleinen grauen Blumen gegen die Stirn schlug, deren Namen ich nicht kenne, die aber allen Kindern gut bekannt sind: diese Blümchen bilden kleine Säckchen, die mit einem Knall zerspringen, wenn man sie gegen etwas Hartes schlägt. Die jungen Männer boten ihr die Stirn so freudig dar und in den Bewegungen des Mädchens (ich sah es nur von der Seite) lag so viel Liebreiz, sie waren so gebieterisch, zärtlich, spöttisch und anmutig, dass ich vor Überraschung und Freude beinahe aufgeschrien und wohl alles auf der Welt dafür hergegeben hätte, dass diese lieben Finger auch mir gegen die Stirn schlügen. Meine Flinte glitt ins Gras, ich vergaß alles um mich herum und verschlang diese schlanke Gestalt mit den Augen, diesen Hals, die schönen Hände, die leicht zerzausten blonden Haare unter dem weißen Tuch, das halb geschlossene kluge Auge, die Wimpern und die zarte Wange darunter …

«Junger Mann, he, junger Mann», hörte ich neben mir plötzlich jemanden sagen, «darf man fremde junge Damen etwa so anstarren?»

Ich zuckte zusammen und erschrak … Ganz in meiner Nähe stand ein junger Mann mit kurz geschnittenem schwarzen Haar am Zaun und sah mich ironisch an. Im selben Moment drehte sich auch das Mädchen zu mir um … Ich erblickte große graue Augen in einem lebhaften, beweglichen Gesicht, dieses Gesicht bebte plötzlich, begann zu lachen, weiße Zähne blitzten, die Brauen hoben sich amüsiert … Ich wurde flammend rot, hob schnell die Flinte vom Boden auf und lief, von ihrem hell klingenden, doch keineswegs boshaften Gelächter verfolgt, in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mein Herz hüpfte nur so; ich schämte mich sehr und war zugleich froh: eine nie gekannte Erregung hatte von mir Besitz ergriffen.

Nach einer Weile kämmte ich mich, brachte meine Kleider in Ordnung und ging hinunter zum Tee. Das Bild des jungen Mädchens ging mir nicht aus dem Sinn, zwar hüpfte mein Herz nun nicht mehr, es zog sich aber angenehm zusammen.

«Was ist los?», fragte mich Vater überraschend, «hast du eine Krähe geschossen?»

Ich wollte ihm alles erzählen, beherrschte mich aber und lächelte nur vor mich hin. Beim Zubettgehen drehte ich mich drei Mal auf einem Bein um mich selbst, warum, weiß ich nicht zu sagen, rieb mein Haar mit Pomade ein, legte mich ins Bett und schlief die ganze Nacht wie ein Toter. Vor Tagesanbruch wachte ich für einen Augenblick auf, hob den Kopf, sah mich verzückt um und schlief wieder ein.

III

«Wie könnte ich bloß ihre Bekanntschaft machen?», war mein erster Gedanke, kaum dass ich am Morgen aufgewacht war. Vor dem Tee ging ich in den Park hinaus, hielt mich jedoch etwas abseits vom Zaun und bekam niemanden zu Gesicht. Nach dem Tee lief ich einige Male die Straße vor dem Haus auf und ab und schaute von fern zu ihren Fenstern hinüber … Hinter einem Vorhang glaubte ich ihr Gesicht zu erkennen und suchte voller Angst schnell das Weite. «Aber kennenlernen muss ich sie», dachte ich, während ich planlos auf der sandigen Ebene auf und ab ging, die sich vor dem Neskutschny-Park erstreckte. «Aber wie? Das ist die Frage.» Ich rief mir die kleinsten Einzelheiten der Begegnung vom Vortag ins Gedächtnis: besonders deutlich hatte sich mir eingeprägt, wie sie über mich gelacht hatte … Doch während ich mich noch aufregte und die verschiedensten Pläne schmiedete, hatte sich das Schicksal bereits meiner erbarmt.

Inzwischen nämlich hatte Mutter von ihrer neuen Nachbarin einen Brief auf grauem Papier erhalten, verschlossen mit einem braunen Siegel, wie man es für Postsendungen verwendet oder auf den Korken billiger Schnapsflaschen. In diesem von Schreibfehlern strotzenden, in krakeliger Handschrift verfassten Brief bat die Fürstin meine Mutter um ihren Beistand: meine Mutter sei, den Worten der Fürstin zufolge, gut mit gewissen einflussreichen Personen bekannt, von denen ihr Los und das ihrer Kinder abhänge, da sie wichtige Prozesse führe.

«Ich wende mich ansie», schrieb sie, «als vorneme Dahme an eine andere vorneme Dahme, und froie mich, die Gelegenhait nutzen zu können.» Sie endete mit der Bitte, meiner Mutter ihre Aufwartung machen zu dürfen.

Als ich zurückkehrte, fand ich Mutter schlecht gelaunt: Vater war nicht zu Hause, niemand, mit dem sie sich hätte beraten können. Der «vornemen Dahme», die ja noch dazu Fürstin war, nicht zu antworten, war ausgeschlossen, wie aber antworten, das wusste Mutter nicht. Eine Nachricht auf Französisch zu schreiben, erschien ihr nicht angebracht, die russische Orthographie beherrschte Mutter allerdings ebenfalls nur mangelhaft, und da sie dies wusste, wollte sie sich nicht kompromittieren. Sie freute sich über meine Rückkehr und beauftragte mich sofort, zur Fürstin hinüberzugehen und ihr mündlich mitzuteilen, dass sie jederzeit bereit sei, Ihrer Durchlaucht, so sie denn dazu in der Lage sei, zu Diensten zu stehen, und sie bitte, sich gegen ein Uhr zu ihr zu bemühen. Die unerwartet schnelle Erfüllung meiner geheimen Wünsche freute und ängstigte mich zugleich; ich ließ mir die Verwirrung jedoch nicht anmerken und begab mich zunächst in mein Zimmer, um eine neue Halsbinde umzulegen und einen Gehrock anzuziehen: zu Hause trug ich gewöhnlich nach Art der Kinder noch immer eine Jacke mit Umlegekragen, obwohl mir das sehr missfiel.

IV