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Titel

Susanne Kronenberg

Kunstgriff

Norma Tanns dritter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

Die Zitate des Malers Alexej von Jawlensky entstammen dem Buch:

Galka E. Scheyer & Die Blaue Vier. Briefwechsel 1924–1945.

Herausgegeben und kommentiert von Isabel Wünsche.

2006 Isabel Wünsche, Berlin, und Benteli Verlags AG,

Wabern/Bern, Schweiz.

 

 

 

 

 

 

 

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Katja Ernst, Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,

unter Verwendung eines Fotos von zettberlin / photocase.com

und Ausschnitt aus August Macke: Großer Zoologischer Garten /

www.zeno.org

ISBN 978-3-8392-3468-6

 

Prolog

Im Schutz der jungen Buchen beobachtet er die beiden Wagen, die einzigen auf dem Parkplatz, ein dunkler BMW und ein zerschrammter Fiat, aus dem zwei junge Leute steigen. Das Mädchen zieht sich die Kapuze über den Kopf. Der junge Mann hebt nur die Schultern ein wenig an, als könne ihn der Regen nicht stören. Er hält einen Koffer mit beiden Händen. Das Wasser fließt über die blanken Beschläge. Das Mädchen blickt angespannt umher. Sie hebt die Hand und winkt dem zweiten Mann zu, der beim BMW wartet. Er steht dort schon länger. Über den Schultern ist die Jeansjacke dunkel vor Nässe, das gelbe Hemd darunter fleckig. Auf halber Strecke treffen sie sich. Das Gespräch fällt knapp aus. Der BMW-Fahrer übernimmt den Koffer, das Paar wendet sich ab.

Er streift den Armschutz über. Achtsam hebt er den Bogen und spannt die Sehne. Eine Autotür schlägt zu, der kleine Fiat heult auf. Die gelbe Knopfleiste erscheint im Visier. Über dem Herzen hebt und senkt sich der Stoff.

Der Regen lässt nach.


1

Sonntag, der 8. Juni

 

Das letzte Lebensjahrzehnt des großen Malers Alexej von Jawlensky war gezeichnet von Armut und Schmerz. In den Jahren zuvor erfuhr er Demütigungen und Missachtung. Was würde er empfinden, könnte er die Schar kunstbegeisterter Menschen erleben, die sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod versammelt hatte, um den Ankauf eines Bildes zu feiern, das die namhafte Wiesbadener Sammlung ergänzte? Genugtuung? Stolz? Mit diesen müßigen Überlegungen folgte Norma den Besuchern durch die Säle mit Jawlenskys Werken. Bereichert wurde die Ausstellung von Gemälden weiterer Expressionisten wie Emil Nolde, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und Paula Modersohn-Becker. Norma ließ sich Zeit für die jüngste Erwerbung. Tiefgründiges Blau schmiegte sich an erdiges Rot. Federleichte gelbe Tupfen schimmerten im umschließenden Grün, umrahmt von prägnantem Orange.

Sachte Schritte auf dem Parkett neben ihr. »Diese Ausdruckskraft der Farben! Meine Köpfe sind eine sehr schöne und tiefe Sprache, heißt es in seinen Briefen.«

Sie wandte sich Lutz Tann zu, ihrem Schwiegervater. Die Ereignisse um Arthurs Tod hatten sie nicht auseinander gebracht, sondern im Gegenteil ihre gegenseitige Achtung und die zarte Zuneigung füreinander vertieft. Als Sponsor hatte er das Museum beim Kauf unterstützt und Norma eingeladen, ihn zu diesem Empfang zu begleiten. Die Reden waren gehalten, doch Lutz wusste noch einiges zu erzählen. Das Leben des Malers, der – 1864 in Russland geboren – im Jahr 1921 in Wiesbaden, der Wahlheimat vieler russischer Emigranten, ein neues Zuhause suchte, stand hier unter keinem guten Stern. Unter den Nationalsozialisten wurden die Meisterwerke des Expressionisten als ›entartet‹ geächtet. Obwohl er in Deutschland nicht ausstellen durfte, malte Jawlensky unermüdlich weiter. Gepeinigt von Polyarthritis und Behandlungsmethoden, die eher Öl ins Feuer der Krankheit schütteten als es zu löschen, gab er seine Berufung nicht auf. Im März 1941 fand er auf dem russischen Friedhof seine letzte Ruhe.

Normas Blick kehrte zum Bild zurück, auf dem sie unvermutet eine zarte Linie in Violett entdeckte, die das Gelb vom Grün trennte.

Lutz räusperte sich verlegen. »Ich rede und rede.«

»Einem Kenner höre ich gern zu. Obwohl, die Bilder sprechen eigentlich für sich. So schön, und gleichzeitig scheinen sie Schmerz und Trauer widerzuspiegeln.«

Sie deutete auf die Reihe der ›Abstrakten Köpfe‹.

»Es wäre einseitig, nur die tragischen Seiten zu sehen. Jawlensky wusste das Leben durchaus zu genießen.«

Sie lächelte. »Gemeinsam mit seinen Frauen? Von diesen Geschichten habe ich gehört. Was mich ein wenig wundert, sofern man nach seinem Äußeren geht. Auf den Fotos wirkt er, wie soll ich sagen, eher unscheinbar.«

»Mag sein. Trotzdem besaß er die bemerkenswerte Begabung, sich mit einflussreichen Frauen zu verbünden. Mit starken und selbstbewussten Frauen, die ihn nach Kräften unterstützten.«

»Was seiner Ehefrau nicht gefallen konnte. War sie nicht sein früheres Dienstmädchen, und er heiratete sie, als der Sohn bereits erwachsen war?«

Er behielt sein Lächeln bei. »Helene Nesnakomoff hielt trotz der Affären tapfer zu ihm.«

»Beziehungen, die seine Kunst förderten?«

»Ja, zum Beispiel mit Marianne Werefkin, die selbst Malerin war und mit der ihn eine angeblich rein platonische Freundschaft verband. Dort hinten hängt ein Bild von ihr. Dann gab es Emmy Scheyer, die seine Bilder in Amerika publik machen wollte.«

Norma hatte den Vorträgen aufmerksam zugehört. »Du spielst auf die ›Blaue Vier‹ an. Jawlensky tat sich in den 20er-Jahren mit Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky und Paul Klee zusammen. Sie wollten ihre Bilder in den Vereinigten Staaten auf gemeinsamen Ausstellungen zeigen, die Emmy Scheyer organisieren wollte. Aber hör mal, sprach der Redner nicht von einer Galka Scheyer?«

»Ursprünglich hieß sie Emmy oder präzise: Emilie Esther. Jawlensky hat ihr den Namen Galka gegeben.«

»Was bedeutet Galka?«

Lutz überlegte. Er konnte es nicht leiden, keine Antwort zu wissen. »Etwas Russisches?«

Norma lachte. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«

Er führte sie zu zwei Gemälden, ›Mystische Köpfe‹, die Emmy Scheyer und Marianne Werefkin zeigten. Es gebe ein wunderschönes Porträt von Lisa Kümmel, berichtete Lutz. In Gelb- und Rottönen gehalten, die Augen, Augenbrauen und den Schwung der Nase mit kräftigen dunklen Pinselstrichen angedeutet.

Norma überlegte einen Augenblick. »Lisa Kümmel? War das nicht die junge Frau, die ihr eigenes Talent zurückstellte, um ihm in seinen letzten Jahren beizustehen?«

»Indem sie ihm den Pinsel an den Händen festband.« Lutz zeigte auf die lange Reihe kleinformatiger Gemälde. »Sie rührte ihm die Farben an. Ohne die aufopfernde Lisa würde es diese zauberhaften ›Meditationen‹ wohl kaum geben. Undine liebt diese Bilder ganz besonders.«

Lutz’ Lebensgefährtin, die Galeristin Undine Abendstern, galt als Expertin für die Expressionisten. Ihr großes Glück war ein eigener Jawlensky.

»Es wird sie ärgern, dass sie heute nicht dabei sein kann«, sagte Norma, um Freundlichkeit bemüht. Das Verhältnis zwischen ihr und der Galeristin ließ sich bestenfalls als neutral bezeichnen. »Obwohl sie so großzügig gespendet hat.«

»Nicht einmal Undine kann auf zwei Hochzeiten tanzen«, meinte Lutz gleichmütig. »Ein Opfer, das sie den jungen Südamerikanern sicher gern bringt.«

Sie war zu einer Ausstellung nach München gereist und wollte bis zum Abend zurück sein. Die Leidenschaft für die aufstrebende Kunstszene Südamerikas hatte sie mit Arthur geteilt, der in der Taunusstraße einen Kunst- und Antiquitätenhandel führte, bevor er ums Leben kam. Norma besaß ein Gemälde des Kolumbianers Pablo Lobo, das eine abstrakte Landschaft zeigte; in kräftig aufgetragenen und leuchtenden Naturtönen von Ocker über Oliv bis Rubinrot. Sie mochte es nicht.

Gemeinsam schlenderten sie an der Reihe der ›Meditationen‹ entlang.

»Undines ›Schweigendes Rot‹ soll auf Reisen gehen«, erzählte Lutz. »Das Kunstmuseum Basel möchte das Gemälde ausleihen.«

Norma beugte sich zu einem kleinformatigen Bild in düsteren Farben hinunter, das den Titel ›Erinnerung an meine kranken Hände‹ trug. »Undine wird hin- und hergerissen sein zwischen Sorge und Stolz. Wie eine Mutter, die ihr Kind auf Klassenfahrt schickt.«

Lutz lächelte vielsagend. »In Basel plant man eine Sonderausstellung über die Klassische Moderne. Sie konnte nicht ablehnen. Zumal es ihrem Ruf nicht schadet, ein so bedeutendes Werk zu besitzen.«

Unverhofft wechselte er das Thema und erkundigte sich nach der Wohnung in der Taunusstraße. Sie lag über den Geschäftsräumen und war nach Arthurs Tod unverändert geblieben, bis Norma sich vor Kurzem endlich aufraffte und die Zimmer räumen ließ. Dabei hatte ihr Josef Brunner, Arthurs ehemaliger Geschäftspartner, tatkräftig zur Seite gestanden.

»Und …?«, fragte Lutz zögernd. »Ist alles raus?«

»Ja, bis auf den letzten Karton. Josef hat ganze Arbeit geleistet.«

»Ich war dir keine Hilfe.«

»Lutz, du hast getan, was du tun konntest.«

Es war ihm schwer gefallen, den Besitz seines Sohnes durchzusehen – schwerer als ihr selbst, die in diesen Räumen über Jahre gelebt hatte. Sie war ein Vierteljahr vor Arthurs Tod ausgezogen, hatte das Zusammenleben nicht länger ertragen. Bald darauf überschlugen sich die Ereignisse. Arthur verschwand nach einem Streit mit Norma spurlos. Seine Leiche wurde Wochen später unter bizarren Umständen aufgefunden. Norma wurde Zeugin eines Mordes und geriet selbst in tödliche Gefahr; dramatische Ereignisse, die sie endlich für sich abschließen wollte. Zehn Monate waren seither vergangen, in denen sie einen Fall übernahm und dem Schicksal einer vermissten Rheingauer Winzertochter nachspürte. Und den Prozess gegen den Mörder vom Weinfest überstand. Wider Erwarten, ohne vor Gericht von Panikattacken überfallen oder – von den Erinnerungen überwältigt – die Stimme, den Verstand oder beides zugleich einzubüßen.

Sie hatte alles ausgehalten.

Nach dem Prozess, bei dem sie als Hauptzeugin aussagen musste, nahm sie die Wohnung in Angriff. Alles musste raus. Den Anstoß gab ein Kunde Josefs, der nach der Trennung von der Ehefrau eine neue Bleibe suchte. Auch mit der Wohnungsauflösung war Norma besser klargekommen, als sie erwartet hatte. Nachdem das geschafft war, fühlte sie sich wie schwerelos. Aufgetankt mit Energie. Weit fort waren die Angstzustände, die sie seit Kolumbien gepeinigt hatten. Sie wollte die Welt umarmen, dazu Lutz und am liebsten auch Josef Brunner, der ›Tanns Antik und Kunst‹ nun allein betrieb und damit begonnen hatte, Arthurs Möbel, überwiegend kostbare Antiquitäten, und die Kunstsammlung mit der gebotenen Diskretion zu verkaufen.

Lutz hielt vor dem nächsten Bild inne. »Ich könnte dir einen Makler empfehlen.«

Mit zusammengesteckten Köpfen wie zwei Verschwörer betrachteten sie ›Die Winternacht, wo die Wölfe heulen‹ und nahmen den ›Rückblick‹ nebenan in Augenschein.

»Danke, ich habe bereits einen Mieter gefunden. Hast du über die Reise nachgedacht?«

Lutz ließ ein leises Schmatzen hören. »Florenz, wie wunderbar! Die Uffizien mit Botticelli, Michelangelo, da Vinci! Ein Traum!«

Fünf Tage inklusive Flug und Fünfsternehotel für zwei Personen! Bald sollte es losgehen. Das Resultat eines Preisausschreibens, zu dem sich Norma hatte überreden lassen. Mit der erlernten Skepsis einer Privaten Ermittlerin hielt sie den Brief zunächst für einen Trick und ließ sich erst von den Ergebnissen der eigenen Recherchen davon überzeugen, dass die Reise ein sauberer Gewinn und kein fauler Zauber war. Sie hatte Lutz eingeladen, sie zu begleiten.

Den schmeichelnden Worten zum Trotz, ließ seine Stimme die Begeisterung vermissen. »Ich würde nichts lieber als mit dir fahren! Aber du kannst es dir denken. Undine.«

Im Grunde hatte Norma nichts anderes erwartet. Er dürfte sich glücklich schätzen, würde Undine ihm nur die Augen auskratzen, falls er es wagen sollte, das Angebot anzunehmen.

Ein letzter Versuch: »Ich bin deine Schwiegertochter. Nicht deine Geliebte!«

»Du bist eine Frau, Norma.«

»Was du nicht sagst! Dein Leben ist dir also lieber als mein Glück?«

Er lachte leise. Wieder ernst bat er: »Nimm es einfach, wie es ist, Norma.«

Es war hoffnungslos. Sobald die Galeristin im Spiel war, ließ der gescheite, pragmatische Lutz jede Selbstachtung vermissen.


2

Montag, der 9. Juni

 

Der Morgen begann für Norma wie so oft mit Yogaübungen. Auf Empfehlung einer Yogalehrerin, die sie bei ihrem letzten Fall kennenlernte, war sie davon abgekommen, sich allein mit einem Buch zu behelfen, und besuchte jeden Mittwochabend einen Kurs, in dem man auch etwas über Atem- und Meditationstechniken erfuhr. Den Vormittag verbrachte sie damit, im Internet nach Informationen über Florenz zu stöbern. Zwischendurch kramte sie auf dem Schreibtisch herum in dem Bestreben, vor der Reise Ordnung zu schaffen. Dabei fiel ihr eine Visitenkarte in die Hände. Sie erinnerte sich gut an den Mann, der sie ihr gegeben hatte: untersetzte Gestalt, Markenjeans, ein weißes Hemd unter der schwarzen Lederweste und kurz geschorene Haare. Eine aufdringliche Designerbrille auf der Durchschnittsnase im Durchschnittsgesicht. Zwei Wochen mochte es her sein. Sie prägte sich die Äußerlichkeiten des Mannes ein, während sie ihn herein bat und auf den Besucherstuhl wies, dessen Kissen sie zum Glück kürzlich erst von den Überbleibseln von Leopolds Kartäuserpelz befreit hatte. Zu dieser Stunde ließ sich der Kater nicht sehen, streunte durch die Biebricher Hinterhöfe oder hielt sein Mittagsschläfchen bei Eva Vogtländer, der Vermieterin, zu der er eigentlich gehörte und die in der mittleren Etage über den Büroräumen wohnte.

Der Besucher sah sich um, registrierte mit abschätzigem Blick die erdbraunen Fliesen, die geweißten Wände, die Reihen der Bücher und Zeitschriften auf dem gefliesten Sockel des ehemaligen Blumenladens und überreichte ihr seine Karte, bevor er sich setzte: Ralf Reisinger, Lebensmitteltechniker, dazu die Angaben vom Wiesbadener Amt und die private Adresse sowie eine Reihe von Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Das lange Zeugnis allgegenwärtiger Erreichbarkeit und Wichtigkeit.

»Wie sind Sie auf mich gekommen, Herr Reisinger?«, begann sie das Gespräch.

»Spielt das eine Rolle?«, blaffte er.

»Was erwarten Sie von einer Privaten Ermittlerin?«

»Aufklärung, Hilfe, Unterstützung! Was soll die Frage?«

Norma lächelte ungerührt, nach ihrer Erfahrung die energiesparendste Reaktion auf arrogante Pampigkeit. »Möchten Sie einen Kaffee? Ist frisch gemacht.«

»Mit viel Milch, wenn’s geht. Mein Magen …«

Sie nahm den Topf von der Warmhalteplatte, füllte eine dicke schaumige Milchhaube auf den Kaffee und reichte den Becher weiter. Abwartend setzte sie sich Reisinger gegenüber.

»Welche Art Aufklärung erhoffen Sie sich von mir?«

»Das ist heikel.«

»Heikle Aufträge sind meine Spezialität.«

Ohne den Hauch eines Lächelns probierte er den Kaffee und wischte den Milchschaum von der Oberlippe. »Ich arbeite als Lebensmittelkontrolleur. Einer meiner Kollegen macht – sagen wir – mir Sorgen.«

Sie zog das Notebook heran und rief eine Datei auf. »In welcher Weise?«

»Wir haben die gleiche Position, sind beide im Außendienst und erledigen die gleiche Arbeit. Wir bekommen gleich viel Gehalt. Nicht, dass ich mich beschweren will, ich komme mit meinem Geld aus. Mich wundert, was Pitt sich so leisten kann! Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

In Normas Erinnerungen tauchten unappetitliche Fernsehbilder auf von toten Puten in überquellenden Ställen und Türme verfaulender Fleischbrocken, die bei einer Vegetarierin zwiespältige Eindrücke auslösten. Sie musste sich keine Sorgen machen, womöglich verdorbenes Fleisch gegessen zu haben. Dafür fühlte sie Trauer und Zorn, weil die Tiere ohne Sinn und Zweck litten und starben.

»Sie halten Ihren Kollegen für kriminell? Vermuten, dass er sich bestechen lässt? Vielleicht das eine oder andere Verfallsdatum übersieht?«

»Irgendwoher muss das Geld kommen!«

»Kann es nicht sein, dass Ihr Kollege geerbt hat? Im Lotto gewonnen? Oder er führt ein seriöses Nebengeschäft?«

Reisinger neigte den rundlichen Schädel. »Nichts dergleichen. Davon wüsste ich.«

Norma nickte. »Weil Sie mit ihm befreundet sind. Eng befreundet?«

Ein abwehrendes Kopfschütteln folgte. »Inzwischen nicht mehr. Pitt, ich meine, Peter – Peter Metten – dieser Verräter …«

Er brach ab, als fehlten ihm die Worte für die Missetaten des Kollegen.

»Was hat Pitt Metten Ihnen angetan, Herr Reisinger? Um die berufliche Position wird es kaum gehen. Sie haben, wie Sie sagen, das gleiche Einkommen. Hat er Ihnen die Frau ausgespannt?«

Ein Versuch, der ins Schwarze traf. Reisinger errötete bis zu den randlosen Brillengläsern. »Mareike gehört zu mir. Wir lieben uns doch!«

Eine Vorstellung, die seine Frau nicht zu teilen schien. Norma klappte das Notebook zu. Sie hatte bisher nur die drei Namen notiert, ergänzt von knappen Anmerkungen. Alles Weitere konnte sie sich sparen.

»Herr Reisinger, wenn Sie einen begründeten Verdacht gegen Ihren Kollegen hegen, erstatten Sie Anzeige bei Ihrer Behörde oder der Polizei. Bei mir sind Sie mit Ihren Anschuldigungen an der falschen Adresse. In Wahrheit geht es Ihnen um Ihre Ehe, habe ich recht? Glauben Sie mir, ich respektiere die verletzten Gefühle eines betrogenen Partners, muss Ihnen aber eines sagen: Ich übernehme keine Ehegeschichten.«

»Ich dachte, davon lebt ein Privatdetektiv in erster Linie?«

»Das ist ein Klischee«, widersprach sie gleichmütig, obwohl es so falsch nicht war.

Er sprang mit einem heftigen Armschlenkern auf. »Ich staune, dass Sie sich das leisten können: Einen Auftrag abzulehnen! So wie das hier aussieht.«

Sie behielt ihr höfliches Lächeln bei und dirigierte ihn zur Tür. Anschließend speicherte sie die Gesprächsnotiz samt der eingescannten Visitenkarte im Ordner ›NMF‹ ab, der nichts anderes bedeutet als ›Nicht mein Fall‹. Mareike Reisinger mochte triftige Gründe haben, den Partner zu wechseln. Vorausgesetzt, dieser Pitt war ein netterer Mensch als der Ehemann, wozu vergleichsweise wenig gehörte. Er hatte nicht unrecht in seiner Vermutung, sie würde als Privatdetektivin wenig verdienen. Arthurs Erbe ermöglichte ihr ein unabhängiges Leben, sofern sie es sparsam führte, was ihr nicht schwer viel. Sie mochte das einfache Büro, liebte den kurzen Weg hinunter zum Rheinufer und in den Biebricher Schlosspark. Es bereitete ihr eine harmlose Freude, vom Schreibtisch aus den Leuten auf der Straße zuzuschauen. Unter dem Dach lag ihr Biotop, wie Lutz die bescheidene Wohnung mit zärtlichem Spott nannte und nicht einsehen wollte, warum sie die Enge unter den Schrägen der Großzügigkeit in der Taunusstraße vorzog.

Reisingers Karte landete im Papierkorb. Genug gekramt. Florenz! Die Museen, die Straßencafés. Dass sie darauf wieder Lust hatte! Der Gewinn war zur richtigen Zeit gekommen. Wenn Lutz den Mumm nicht aufbrachte, würde sie es sich allein gut gehen lassen. Sein Bier, sich von Undine am Gängelband führen zu lassen. Sie rief eine Website auf und wollte eine Beschreibung der Uffizien ausdrucken, als das Handy den Anruf von Josef Brunner anzeigte.

Er kam gleich zur Sache. »Herr Wagner war gestern Abend hier im Laden.«

Der verlassene Ehemann auf Wohnungssuche.

»Schön! Du hast ihm sicher gesagt, dass die Wohnung geräumt ist. Wann will er einziehen?«

»Nun, er hat sich mit seiner Frau versöhnt.«

»Soll das heißen, er wird bei ihr bleiben?«

»Bis zum nächsten Krach.«

»Das kann nicht wahr sein! Seit Wochen macht er Dampf und gibt keine Ruhe. Kaum ist die Wohnung frei, verträgt er sich wieder?«

»Gönne ihm das Eheglück«, entgegnete Josef friedfertig. «Wie geht’s nun weiter?«

»Ich werde einen Makler anrufen. Trotzdem danke, Josef.« Sie würde Lutz um die Adresse bitten.

»Da ist noch etwas«, sagte Josef. »Ich war eben bei einer Kundin im Dichterviertel. Vor der Galerie Abendstern herrscht ein ziemlicher Aufruhr! Mit Feuerwehrwagen, Polizei und jeder Menge Blaulicht.«

Undine besaß eine Etage eines vierstöckigen Jugendstilhauses. Einen Teil der 200 Quadratmeter bewohnte sie, die übrige Fläche gehörte den Gemälden, Grafiken und Skulpturen überwiegend zeitgenössischer Künstler. Im Erdgeschoss praktizierten ein Zahnarzt und ein Heilpraktiker. In den oberen Stockwerken waren Wohnungen eingerichtet.

»Bloß kein Feuer! Das wäre schlimm für Undine.«

Die Galeristin hatte als Kind einen Brand miterleben müssen und hielt seitdem nicht einmal die Silvesterknallerei aus. Lutz fuhr mit ihr jedes Jahr in die einsamste Berghütte, die die Schweiz zu bieten hatte.

Im Vorbeifahren sei ihm kein Qualm aufgefallen, erklärte Josef.

Norma bedankte sich und rief sofort Lutz auf dem Handy an.

Er war bereits dort. Die Besorgnis war seiner Stimme anzuhören. »Aus zwei Dachfenstern kam Rauch, und die Feuerwehr hat vorsichtshalber das gesamte Haus räumen lassen. Du kannst dir Undines Aufregung vorstellen! Zum Glück nur ein falscher Alarm. Jemand hat sich mit zwei Rauchbomben einen schlechten Scherz erlaubt.«

Nur ein Scherz? In Normas Kopf setzte sofort der übliche Prozess ein: Wer? Wie? Warum? Das war ein Automatismus. Sie konnte nichts dagegen tun.

»Könntest du herkommen?«, fragte er drängend. »Undine braucht deine Hilfe.«

Verdient hatte sie es nicht. Normas Neugierde siegte. »In zehn Minuten, Lutz!«

Sie machte sich sofort auf den Weg.


3

Undine Abendstern hatte mit dem Kauf der Etage eine kluge Wahl getroffen. Das Haus lag im Dichterviertel inmitten einer geschlossenen Reihe repräsentativer Wohnhäuser, die Ende des 19. Jahrhunderts vom aufstrebenden Bürgertum errichtet worden waren und nun dank der Möglichkeiten der gut situierten Eigentümer eine gepflegte Gediegenheit ausstrahlten. Wie einige weitere Gebäude der Nachbarschaft trug das Haus unverkennbare Merkmale des Jugendstils, zu denen der gemauerte Rundbogen gehörte, der sich hoch über den Hauseingang wölbte, aber auch die blumigen Ornamente an der Fassade. Drinnen ließ sich Norma jedes Mal aufs Neue vom ausladenden Treppenhaus beeindrucken. Ihr gefielen die schmiedeeisernen Geländer und der Stuck unter der himmelhohen Decke. Undine war es mit vergnüglicher Leichtigkeit gelungen, die Ursprünglichkeit der Wohnräume mit Elementen zeitgemäßer Zurückhaltung zu verbinden und damit den idealen Rahmen für ihr eigenes Auftreten zu inszenieren. In der momentanen Situation jedoch fehlte ihr die Aura von Extravaganz und Professionalität. Sie wirkte höchst beunruhigt, beinahe fahrig, als sie Norma in den privaten Wohnraum führte. Dort wartete Lutz, der seine Schwiegertochter mit einem herzlichen Lächeln begrüßte, aber auf die übliche Umarmung verzichtete.

Feigling!, dachte Norma und bereute für eine Sekunde ihr Kommen.

»Einen Kaffee, meine Liebe?«, fragte Undine honigsüß.

»Lass mich das machen«, bot Lutz an und verschwand in der Küche.

Norma betrachtete das großformatige Ölgemälde zwischen den Fenstertüren, das keinen Konkurrenten in der Nähe vertragen hätte und den Raum mit seinen erdigen Farben und der dynamischen Pinselführung beherrschte. Der offene Kamin an der gegenüberliegenden Wand musste sich mit einem flüchtigen Blick begnügen. Den Jawlensky zeigte Undine hier nicht. Er lag wohl verwahrt in einem Banktresor.

Der Hausherrin war Normas Interesse nicht entgangen. »Das Bild stammt aus der ersten Ausstellung der Südamerikaner. Du weißt, ich wollte das damals gemeinsam mit deinem Mann organisieren. Arthur hatte so gute Kontakte nach drüben. Nach seinem Tod musste ich die Arbeit allein stemmen, was mir, wie ich sagen darf, passabel gelang. Dabei konnte ich günstig an diesen Lobo herankommen. Heute ist er ein Vielfaches wert. Das gilt sicherlich auch für das Bild, das Pablo dir in Kolumbien persönlich schenkte. Soll ich es bei Gelegenheit für dich schätzen lassen?« Eine Spur Neid schwang in der Stimme mit.

Norma wandte sich mit einem Lächeln um. »Danke, nicht nötig. Der materielle Wert kümmert mich nicht.«

So wie ihr das Bild als solches nichts bedeutete, jedenfalls nichts Gutes. Mit der Reise nach Kolumbien waren zu viele dunkle Erinnerungen verbunden, die niemanden etwas angingen.

Lutz balancierte ein Tablett herein, setzte es auf dem Couchtisch ab und gruppierte die Tassen um eine Aktenmappe herum, die dort bereit lag.

»Bitte, meine Liebe, setz dich erst einmal«, schnurrte Undine und wechselte einen vertraulichen Blick mit Lutz, der neben ihr auf dem Sofa Platz nahm.

Norma sank in ein extravagantes weißes Sitzmöbel nieder. »Was soll diese Geheimniskrämerei? Ihr wollt doch nicht etwa heiraten?«

Lutz erlaubte sich ein Schmunzeln.

Undine überging den Scherz achtlos. »Ich bin bestohlen worden.«

Abwartend nahm Norma einen Schluck des Kaffees, der aus einer mutmaßlich 1.000 Euro teuren Maschine stammte. Lutz, der seinen Kaffee stets stark und unverfälscht schwarz trank, erschien es sicher wie Frevel, das Getränk für Norma unter einer Portion Milchschaum zu verstecken.

»Bedaure, ich kann jetzt keinen Auftrag annehmen. Ich fahre übermorgen in den Urlaub. Nach Florenz.«

Lutz wich ihrem Blick aus und griff nach seiner Tasse.

Undine zuckte zurück, ließ sich jedoch zu ein paar freundlichen Worten herab. »Wie wunderbar, ich liebe die Stadt. Und nach allem, was du durchgemacht hast mit diesem Prozess – das stand ja alles in der Zeitung – kann ich deinen Wunsch nachvollziehen. Trotzdem, wenn ich dich bitte, die Reise zu verschieben?«

»Kommt nicht infrage! Danke für den Kaffee.«

Sie wollte gehen. Lutz hielt sie zurück. »Bitte, Norma. Höre dir wenigstens an, worum es geht.«

Zögernd nahm sie ihren Platz wieder ein. »Was ist gestohlen worden?«

Undine zögerte mit der Antwort, bevor sie leise erklärte: »Der Jawlensky.«

»Wie bitte? Doch nicht das ›Schweigende Rot‹?«

Die Galeristin nickte betreten. Sie griff nach der Aktenmappe und überreichte Norma einen Fotoabzug. Selbst die einfache Kopie vermittelte eine Ahnung von der Wärme und inneren Kraft, die das Gemälde dem Betrachter schenkte, der Augen dafür besaß. Einmal hatte Norma das Original ansehen dürfen.

»Gerahmt hat das Bild eine Größe von etwa 50 auf 40 Zentimeter«, erklärte Undine, als wollte sie etwas verkaufen. »Es ist in Öl auf Pappe gemalt.«

»Ich dachte, es befinde sich so sicher wie die Kronjuwelen im Banktresor?«

»Dort war es bis heute Vormittag«, räumte Undine kleinmütig ein. »Ich selbst habe den Jawlensky abholen und hier in die Wohnung bringen lassen. In den nächsten Tagen sollte er nach Basel verschickt werden.«

»In die Kunsthalle, ich weiß. Lutz hat mir von der Ausstellung erzählt. Du hättest das Gemälde von einem Kunsttransporteur unmittelbar von der Bank in die Schweiz bringen lassen können. Was um alle Welt wolltest du mit dem Bild in der Wohnung?«

Undine knetete in einer Geste der Verzweiflung die Hände. »Es anschauen! Hier bei mir. In einem würdigen Rahmen und nicht, wie sonst, in diesem tristen Tresorraum.«

»Was ist das ›Schweigende Rot‹ auf dem Kunstmarkt wert?«

Undine schluckte. »Du kannst von mindestens 400.000 Euro ausgehen. Trotzdem geht es mir primär nicht um das Geld. Dieses Bild hat meine Leidenschaft für die Kunst geweckt! Meine Großtante war Mitglied einer Fördergesellschaft, die Jawlensky unterstützte. Man zahlte einen monatlichen Betrag und bekam dafür günstig ein Bild. Das ›Schweigende Rot‹ war das Lieblingsbild meiner Großtante, und sie hat es mir kurz vor ihrem Tod geschenkt.«

Norma stellte die Kaffeetasse zurück auf den Glastisch. »Wer hat den Jawlensky für dich abgeholt?«

»Das war Marco, mein Assistent. Ein Student, netter Junge, er hilft stundenweise in der Galerie aus. Das Bild kann er unmöglich gestohlen haben. Er war in meiner Nähe, als es verschwand.«

»Erzähle bitte der Reihe nach!«

Undine nickte zahm. »Marco arbeitet montags immer von 10 bis 13.30 Uhr in der Galerie. Gegen 10.15 Uhr schickte ich ihn los, um das Bild zu holen. Nach einer halben Stunde kam er damit zurück. Das Bild steckte gut verpackt im Transportkoffer. Ich habe kurz hineingeschaut, um mich zu vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Danach brachte ich den Koffer in mein Schlafzimmer. Am frühen Nachmittag ist das Licht dort perfekt.«

»Du hast das Bild nicht ausgepackt?«

»Das wollte ich später machen, in aller Ruhe. Vorher musste ich einige Telefonate führen und ging deshalb in mein Arbeitszimmer.«

»Nicht zurück in die Galerie?«

»Nein, ich blieb im Büro hier in der Wohnung. Ich wollte ungestört sein. Marco hielt sich in der Galerie auf.«

»Er hatte also noch keinen Feierabend?«

Undine widersprach. »Eigentlich ja. Es war beinahe 14.00 Uhr. Aber ich hatte ihn gebeten, die Flyer für eine Ausstellung zum Versand vorzubereiten. Die Flyer waren zu spät fertig geworden und sollten unbedingt raus.«

»Und währenddessen gab es den Feueralarm?«

»Kurz nach 14.00 Uhr rauschte mit allem Brimborium die Feuerwehr heran. Ich wollte nur noch raus! Dabei muss ich versehentlich die Wohnungstür offen gelassen haben. Unverzeihlich!«

Sie warf Lutz einen unglücklichen Blick zu. Er tätschelte ihre Hand und lächelte aufmunternd.

»Bist du sicher, dass du die Tür nicht doch ins Schloss gezogen hast?«, fragte Norma zweifelnd.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Jedenfalls war die Tür angelehnt, als ich wieder ins Haus durfte. Obwohl sich das Bild in der Wohnung befand. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Außer vielleicht der Tatsache, dass der Feueralarm mich kopflos machte.«

Die Gefühle von Panik konnte Norma nachempfinden – besser, als ihr lieb war. Eine Gemeinsamkeit mit der Galeristin, auf die sie gern verzichtet hätte.

»Und nachdem alles vorbei war, fehlte der Jawlensky? Mitsamt dem Bilderkoffer?«

Ein stummes Nicken war die Antwort.

»Reden wir über deine Hilfskraft. Wo war Marco, als der Alarm losging?«

»Er kam mir auf dem Hausflur entgegen, als die Feuerwehr die Wohnungen räumte, und wir liefen zusammen hinunter auf die Straße. Draußen hat er sich die ganze Zeit um mich gekümmert und ging später mit mir gemeinsam nach oben. Er kann das Bild nicht gestohlen haben.«

»So weit, so schlecht«, brachte Norma das Geschehen auf den Punkt. »Was erwartest du von mir? Das ist ein Fall für die Polizei und für die Versicherung. Dort hat man sich auf Kunstdiebstähle spezialisiert.«

»So einfach ist das nicht.«

Norma hob den Blick zur Pendeluhr neben dem Kamin. »Bitte komm zur Sache.«

»Es … hat mit Nina zu tun«, erklärte Undine zögerlich.

Die Tochter also! Norma hatte das Mädchen nie kennengelernt. Undine sprach kaum von ihr.

»Lebt sie nicht im Ausland bei ihrem Vater?«

Undine fingerte an der Leinenweste herum. »Es ging nicht gut mit den beiden, nicht einmal mehr an den Wochenenden. Unter der Woche war sie sowieso im Internat. Sie hat die Schule hingeworfen, träumt von einer Karriere als Modedesignerin. Völlig irrational, aber was soll ich machen? Das Mädchen ist volljährig.«

»Wo lebt sie jetzt?«

Undine stieß den Seufzer einer geplagten Mutter aus. »Hier in Wiesbaden.«

»In deiner Wohnung?«

Sie hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen! Keinen Tag würde das gut gehen. Nein, sie lebt mit ihrem Freund in einer Wohngemeinschaft. Ich habe ihr eine Lehrstelle als Verkäuferin vermittelt. In einer Modeboutique, die einer Freundin gehört. Falls ich sie inzwischen noch als Freundin bezeichnen darf.«

Sie lächelte gequält. Nina schien ein echtes Herzchen zu sein.

»Du zeigst nicht unbedingt Vertrauen in deine Tochter.«

»Ich habe mich bemüht von Anfang an«, verteidigte sich Undine. »Dieses Kind ist genauso stur und unzuverlässig wie ihr Vater.«

»Wie lange wart ihr verheiratet?«

Undine zupfte an einer Strähne der wie gemeißelt sitzenden Kurzhaarfrisur, die monatlich zwischen Rostrot, Aubergine und Blauschwarz wechselte. Zurzeit war der Rotton an der Reihe. »Drei zu lange Jahre. Der Mann war der größte Fehler meines Lebens.«

Lutz hatte sich bislang aus dem Gespräch herausgehalten. Nun nahm er Nina in Schutz. »Das Mädchen ist gar nicht verkehrt. Die Lehre hält sie bisher wacker durch und beweist eine für sie bemerkenswerte Ausdauer.«

»Leider umgibt sie sich mit den falschen Leuten«, wandte Undine ein. »Wie dieser Rico.«

»Du meinst, er könnte etwas mit dem Diebstahl zu tun haben?«, fragte Norma mit wider Willen wachsendem Interesse.

»Bestimmt hat er sie angestiftet!«

»Also verdächtigst du beide?«

Undine nickte entschlossen. »Nina wusste von der Ausstellung in der Schweiz und davon, dass ich das Bild am Montagvormittag in die Wohnung holen wollte. Und sie weiß genau, wie unüberlegt ich bei Feuer reagiere. Aber allein heckt sie so etwas nicht aus.«

»Deswegen willst du die Polizei raushalten?«

»Wie stehe ich da! Wer wird einer Galeristin, die so dämlich ist, ein wertvolles Bild bei offener Tür zurückzulassen, noch Kunstwerke anvertrauen? Damit es von der eigenen Tochter geklaut wird.«

»Musste Nina überhaupt auf die offene Tür spekulieren? Besitzt sie keinen Wohnungsschlüssel?«

Undine seufzte. »Ich habe ihr keinen gegeben. Vor allem, weil ich nicht heimlich Rico im Haus haben wollte. Allerdings war mein Ersatzschlüssel für ein paar Tage verschwunden. Ich dachte, ich hätte ihn verlegt. Es kann genauso gut sein, dass sie ihn genommen hat, um sich einen Nachschlüssel zu besorgen.«

»Was sagt Nina zu deinem Verdacht?«

Undine wechselte einen Blick mit Lutz.

Er übernahm das Wort: »Bitte versteh das, Norma. Mutter und Tochter haben mit Mühe zueinander gefunden. Derartige Vorwürfe, ob sie gerechtfertigt sind oder nicht, machen alles wieder kaputt.«

»Das ist doch nicht eure einzige Sorge?«

»Die Sache ist so«, setzte Undine umständlich an. «Rico geht es nur ums Geld. Er ist Leistungssportler, lebt auf zu großem Fuß und ist permanent pleite. Wenn es nach ihm ginge, würde er ein Lösegeld fordern, und ich bekäme das Bild zurück.«

»Und Nina?«

Undine seufzte angespannt. »So sehr ich den Jawlensky liebe, so sehr hasst sie ihn. Schon immer wirft sie mir vor, das Bild sei mir wichtiger als sie selbst. Ich befürchte, in ihrer kindischen Eifersucht könnte sie es beschädigen oder zerstückeln.«

»Jemand muss den beiden auf den Zahn fühlen«, sagte Lutz. »So behutsam und vorsichtig wie möglich.«

»Und dieser Inquisitor soll ich sein?«

Undine wechselte den Tonfall, formulierte unverhofft milde: »Uns beiden ist klar, wir können nicht so gut miteinander, Norma. Aber du weißt, ich schätze Professionalität. In meinem Beruf wie in jedem anderen. Du verstehst deinen Job. Immerhin warst du früher Kriminalkommissarin. Und ich baue fest auf deine Verschwiegenheit.«

Damit der eigene Mangel an Professionalität in diesem Fall nicht ans Licht kam? »Wenn du die Polizei außen vor lässt, warum wendest du dich nicht wenigstens an die Versicherung?«

»Was sollte mir das nützen? Ich bin die Besitzerin eines Jawlenskys! Darauf kommt es mir an. Ich will das Bild wiederhaben und keine finanzielle Entschädigung.«

»Verstehe, sobald die Versicherung zahlt, ist der Jawlensky für dich verloren.«

Undine nickte bekräftigend. »Das ›Schweigende Rot‹ würde in den Besitz des Konzerns fallen, falls es irgendwann wieder auftaucht – was bei den meisten gestohlenen Bildern der Fall ist. Die Versicherung zahlt das Lösegeld an die Diebe.«

»Und diese kriminelle Energie traust du deiner Tochter zu?«, wandte Norma zweifelnd ein. »Einen Bilderdiebstahl zu organisieren? Verhandlungen mit der Versicherung zu führen und Lösegeld zu fordern?«

»Wie gesagt, gemeinsam mit diesem Rico! Darf ich mit deiner Hilfe rechnen?«

Norma erhob sich. »Bedaure, Undine. Ich mache erst einmal Urlaub.«

Undine schien verärgert, erwies sich aber als gute Verliererin. Höflich fragte sie: »Reist du allein?«

Norma lächelte Lutz zu. »Mal schauen, wer mich begleitet.«

Er blieb im Wohnzimmer zurück.

Undine begleitete Norma zur Tür. »Ich wünsche dir eine schöne Zeit in Florenz. Danke für dein Kommen. Kann ich mich darauf verlassen, dass die Geschichte unter uns bleibt?«

Norma versprach es. Eigentlich hätte die Angelegenheit damit erledigt sein müssen. Auf dem Weg nach unten drehten sich die Gedanken in ihrem Kopf. Wie wurde der Alarm ausgelöst? Wer schlüpfte in die Wohnung, um den Jawlensky rauszuholen? Wie kam der Dieb an der Feuerwehr vorbei? Oder hatte er das Bild auf dem Dachboden versteckt? Spannende Fragen in einem Fall, der verglichen mit der Vermisstensache vom Frühjahr harmlos klang. Stünde nicht die Reise an, sie könnte glatt schwach werden. Und sogar für Undine arbeiten.


4

Dienstag, der 10. Juni

 

Das Tier war gewaltig. Eine wilde Mähne umströmte den mächtigen Hals, und der wuchtige Rumpf ruhte auf Säulenbeinen. Wie ein Kinderspielzeug klebte der Sattel auf dem breiten Rücken, und wie ein Monument verharrte das Pferd neben der kleinen blassen Frau, die die Zügel mit beiden Händen hielt und unter dem Reithelm zu verschwinden drohte. Die rote Regenjacke leuchtete im Sonnenlicht. Rastlos trat die Reiterin von einem gestiefelten Bein auf das andere.

»Wie lange dauert das noch? Balthasar will nach Hause!«, rief sie den Kommissaren entgegen.

Ein Eindruck, den Dirk Wolfert nicht teilen mochte, obwohl er von Pferden nichts verstand. Das Tier musterte die Polizeiwagen mit erhabenem Blick, ohne auch nur eine Spur der Nervosität zu zeigen, die den Kommissar angesichts des Blaulichts und des geschäftigen Treibens der Spurensicherung nicht verwundert hätte. Die Ungeduld lag allein auf Seiten der Reiterin. Wie mag sie in den Sattel kommen?, fragte er sich und näherte sich dem Tier mit Argwohn, aber deutlich verwegener als Luigi Milano, der ausgerechnet hinter dem schmalen Rücken des Kollegen Schutz suchte.

»Ein Huftritt, Dirk, und du bist Mus«, brummte Milano. Er hatte sich soeben auf ein zweites Frühstück eingerichtet, als der Anruf kam. Entsprechend war seine Laune. »Spannt man so etwas nicht besser vor einen Brauereiwagen?«

»So etwas nennt man ein Shire Horse«, antwortete die Reiterin und bewies ein hervorragendes Gehör. »Dieses englische Kaltblut heißt Balthasar und ist mein Reitpferd. Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier eine Ewigkeit warten muss! Ich wäre besser weitergeritten, als Alarm zu schlagen.«

Balthasar wandte ihnen den langen Schädel zu und schnaubte. Sein Fell war schokoladenbraun und von weißen Flecken überzogen wie bei einer Kuh.

Milano las den Namen vom Blatt, auf dem der Kollege der Schutzpolizei die Personalien notiert hatte. »Frau Dr. Roth, wie haben Sie den Toten entdeckt?«

Dass man sich endlich um sie kümmerte, besänftigte die Zeugin. Bereitwillig erzählte sie, sie sei wie jeden Morgen um 7 Uhr zu einem Ausritt aufgebrochen. Der Weg habe sie zum Waldparkplatz an der Platter Straße geführt, die man dort dank der Unterführung gefahrlos queren könne. Ob die Herren eine Ahnung hätten, was im Berufsverkehr dort oben los sei? Baltasar laufe am liebsten im gemütlichen Schritt, erklärte sie unter dem verständnisvollen Nicken der beiden Kriminalkommissare, und so bleibe ihr unterwegs genügend Zeit, die Gegend zu beobachten und im Unterholz nach Pflanzen Ausschau zu halten. »Die Botanik ist meine zweite Leidenschaft neben dem Reiten. Ich unterrichte Biologie und Latein.«

»Sie kamen also von dort drüben?« Wolfert zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen Waldweg, über den ein Fußgänger in wenigen Minuten das Jagdschloss Platte erreichen konnte.

Die Zeugin nickte eifrig. »Beim Näherkommen fiel mir etwas Blaues im Laub auf. Ein Müllsack, dachte ich, und dass jemand mal wieder seinen Abfall im Wald entsorgt hat.« Sie hatte die Buschgruppe passiert, die sich von Balthasars Rücken aus gut überblicken ließ. Dabei war ihr die Jeansjacke aufgefallen. Der Mann lag unter Laub und Geäst verborgen und wäre von einem Fußgänger nicht so bald entdeckt worden. Das Gestrüpp wuchs zum Parkplatz hin sehr dicht.