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Reinhard Pelte

Inselkoller

Jung ermittelt auf Sylt

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst /

Katja Ernst, Doreen Fröhlich

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Steve Gupta

ISBN 978-3-8392-3396-2

Inhalt

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Der Ermittler

Der Somali

Baiba

Die zwei Frauen

Mittagsspaziergang

Der Gerichtsmediziner

Die Kinder

Der Pensionär

Der Leitende

Der Arzt

Die Gattin

Die Freundin

Die Apothekerin

Der Hausmeister

Die Schwiegertochter

Der Sohn

Der Kranke

Die Fakten

Der Soldat

Das Ende

Epilog

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Widmung

Für Regina, Cleo und Moritz

Zitat

»You can’t always get what you want and if you try some­times you just might find you get what you need.«

Rolling Stones

Prolog

Frage: Sie haben einen Roman geschrieben, der unter den Sylt-Fans für Ärger gesorgt hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Antwort: Abgesehen von den äußeren Gegebenheiten ist nichts in diesem Buch wahr. Es gibt keine vergiftete Immobilienmaklerin auf Sylt, keinen Kriminalrat Jung aus Flensburg, keinen Asylanten Jussuf Barre aus Somalia usw. Alle Personen, Handlungen und Charaktere sind Fiktion, von mir erfunden und zusammengesetzt. Ebenso gilt: Nichts in diesem Buch ist unwahr. Alles hätte so sein können. Die Reaktion der von Ihnen so bezeichneten Sylt-Fans bestätigt das.

Frage: Apropos Charaktere: Wie würden Sie den Protagonisten, Tomas Jung, beschreiben?

Antwort: Er ist, was man heutzutage einen Loser nennt. Er ist langweilig, ohne Humor und Witz. Man kann bei ihm einen gewissen Sinn für Ironie ausmachen. Er ist ein guter Beobachter. Auf der Klaviatur des Menschelns ist er ein Dilettant, ein Soziallegastheniker. Er versucht, diesen Mangel durch Hinwendung zu gutem Essen und Trinken und zu klassischer Musik wettzumachen. Er ist ein Intellektueller, der glaubt, ein Freund der Menschen zu sein. Er ist deswegen gleichermaßen tragisch wie grotesk. Er hat weitreichende Erkenntnisse, auch über sich selbst, ist aber zu bequem, man könnte auch sagen zu ängstlich, um sie in Bewusstsein und Selbstbewusstsein umzusetzen. Wenn er nicht auf einem Beamtenstuhl säße, sondern sich in der freien Wildbahn behaupten müsste, wäre er rettungslos verloren. Überraschend ist: Er hat von allen Figuren das größte Glück, und er entwickelt sich weiter. Das ist in seinem fortgeschrittenen Alter bemerkenswert.

Frage: Können Sie uns sein Glück näher erläutern?

Antwort: Er klärt drei Fälle zugleich auf. Das ist Glück hoch drei. Er ist, abgesehen von einer heftigen Sommergrippe, gesund: ein Glück, das er mit wenigen teilt. Er glaubt, ohne es sicher zu wissen, an Gott. Ein geradezu unermessliches Glück. Und er hat eine kluge Frau, die ihn liebt und deren Liebe er sich nicht bewusst ist. Nochmals Glück.

Frage: Und wohin entwickelt er sich?

Antwort: Ich wäre schlecht beraten, Ihnen diese Frage zu beantworten. Sie sollen ja meine Bücher lesen. Ich habe übrigens vier Romane mit Kriminalrat Jung geplant. Der zweite und dritte sind schon fertig und der vierte angefangen. Sie hängen nicht nur chronologisch zusammen. Am Schluss des letzten Buchs ist Jung ein anderer geworden. Obwohl ich glaube, dass der Kern seines Wesens nicht bewegt worden ist.

Frage: Waren Sie jemals in Afrika und Arabien?

Antwort: Ja.

Frage: Haben Sie Ihr Wissen über diese Länder ausschließlich daher?

Antwort: Nein. Sie können aber fast alles nachlesen, was Sie wissen wollen, zum Beispiel bei wikipedia.org im Internet. Aus dieser Quelle habe ich unter anderem mein Wissen über Strychnin, Fettleibigkeit und vieles andere mehr.

Frage: Ihr Roman reicht von geheimnisvollen Scheichs auf Sansibar bis zu einem Gartenschuppen in Kampen/Sylt. Glauben Sie nicht, dass das etwas weit hergeholt ist?

Antwort: Nein. Ihnen ist vielleicht die Chaostheorie bekannt. Danach ist nicht auszuschließen, das Wüten eines Hurrikans in der Karibik auf eine winzige Störung des hydrostatischen Gleichgewichtes über Indonesien zurückzuführen, zum Beispiel durch den Flügelschlag eines Schmetterlings. Wenn solche fantastisch anmutenden Abhängigkeiten existieren, warum nicht auch andere?

Frage: Was gab den Anstoß zu Ihrem Buch?

Antwort: Der Wunsch, einen längeren Text zu Papier und zu Ende zu bringen, ein Besuch auf Sylt und der Hinweis, dass eine begnadete Geschäftsfrau ein lukratives Geschäft zugunsten ihrer Freundin sausen lässt.

Frage: Würden Sie sich als Schriftsteller bezeich­nen?

Antwort: Ich habe einen Kriminalroman geschrieben. Wenn das ausreicht, ein Schriftsteller zu sein, dann bin ich es. Ich vermute aber hinter Ihrer Frage, ob ich meine, ein herausragender oder zumindest guter Schriftsteller zu sein. Ich weiß das nicht. Aber ich zitiere in meinem Roman einen genialen Schriftsteller. Sie können danach auf Entdeckungsreise gehen. Er ist übrigens Amerikaner. Ich möchte jetzt schließen. Guten Tag.

Der Ermittler

Hoch Caesar hatte sich über Skandinavien festgesetzt. Jung konnte die Tage, seit es das letzte Mal geregnet hatte, nicht mehr zählen. Untypisch, dachte er und hob seine Tasse an die Lippen. Er liebte Ostfriesentee am frühen Morgen. Es war still auf der Terrasse. Frau und Tochter schliefen noch dem beginnenden Ferientag entgegen.

Als er wenig später das Haus, das am Südrand der Stadt lag, verließ, waren die flachen Frühnebelfelder auf der Nachbarkoppel von der aufgehenden Sonne schon weggebrannt. Jung bestieg gut gelaunt seinen Wagen.

Jung mochte sein Auto, ein Kompromiss zwischen seinem Willen zu sparen und dem Wunsch seiner Frau Svenja nach Ästhetik, Image und – wie sie sich auszudrücken pflegte – einem gewissen Basiskomfort, wie ergonomischen Sitzen mit Heizung, Klimaanlage, CD-Radio und anständigen Reifen auf coolen Felgen. Er genoss die kurze Fahrt. Die magere Wirtschaft der Region mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten des Landes hatte zumindest den Vorteil eines entspannten Berufsverkehrs. Sein Weg führte ihn zur Polizeiinspektion Nord auf Norderhofenden.

Er erfreute sich am Anblick der neu gestalteten Hafenspitze gegenüber dem Polizeigebäude. Ihm gefielen die breiten, langen Promenaden, die glatten, schweren Teakholzbänke unter einfachen, schnörkellosen Laternen, das weitläufige Bohlwerk mit der Museumswerft, an deren Bootsstegen restaurierte Oldtimer aus der Zeit der kommerziellen Segelschifffahrt lagen. Gegenüber, am Ostufer, sah man den ochsenblutroten Holzbau des Restaurants Bellevue mit der über dem Wasser schwebenden, überdachten Holzterrasse, und gleich links davon liefen die Stege der neuen Marina in die Förde, an denen Sportboote vertäut lagen. Auch einige Luxusjachten konnte er ausmachen. Die gesamte Innenstadtsanierung war mit viel Geld in den vergangenen Jahren vollendet worden und – seiner Meinung nach – gut gelungen.

Er stellte sein Auto auf dem Parkstreifen im Innenhof der Polizei-Inspektion ab und grüßte den wachhabenden Polizeibeamten am Aufgang zum Treppenhaus.

»Morgen, Petersen.«

»Moin, Herr Kriminalrat. Nach langer Zeit mal wieder Arbeit auf dem Schreibtisch?«

Jung quittierte den alten Beamtenscherz mit gequältem Grinsen, machte aber gute Miene zum öden Spiel und grinste zurück.

»Ja, Petersen, selten, aber heftig.«

»Darüber können Sie sich ja nicht beklagen, immer interessant und immer vergeblich, oder nicht?«

»Nee, Petersen, aber interessant, das stimmt schon.«

Er betrat das Treppenhaus. Petersen hatte im Grunde recht: Seine Arbeitsbeanspruchung und sein Arbeitserfolg hielten sich in Grenzen.

Vor fünf Jahren war er zum Leiter des neu eingerichteten Sonderdezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen ernannt worden, und in der Zeit danach hatte er gerade mal ein gutes halbes Dutzend Fälle zu bearbeiten gehabt. Die letzten vier Fälle handelten von spurlos verschwundenen Personen (zwei Männern, zwei Frauen, alle aus sozial schwachen Verhältnissen), von denen die ermittelnden Beamten vermuteten, dass sie Opfer von Kapitalverbrechen geworden seien. Im Laufe der Ermittlungen ließen sich aber dafür keine Beweise finden. Die vermeintlichen Opfer waren einfach weg: Keine Leichen, keine Spuren, nicht mal die Hinterbliebenen, soweit es sie überhaupt gab, vermissten sie.

Bei der langwierigen Aufarbeitung der Akten hatte Jung herausgefunden, dass die männlichen Opfer (beide arbeitslos) sich mit großer Wahrscheinlichkeit ins Ausland abgesetzt hatten.

In unseren technisierten, sogenannten zivilisierten Gesellschaften der Ersten Welt war die Änderung einer Identität für Normalsterbliche, also Menschen ohne Einfluss, Macht und Geld, nur möglich, indem sie sich den chaotischsten Flecken der Dritten Welt anvertrauten und sich stark genug fühlten, dort zu überleben. Dafür schien in erster Linie Afrika geeignet zu sein. Seine zeitraubenden Bemühungen, Spuren zu finden, waren an den Kriegswirren, an der Indolenz und am Desinteresse der infrage kommenden Ansprechpartner gescheitert. Und einer persönlichen Recherche vor Ort wollten seine Vorgesetzten nicht zustimmen; vordergründig aus Sorge um seine Sicherheit, in Wahrheit aber aus Kostengründen. Er war aber völlig einverstanden mit der Entscheidung gewesen, denn die Vorstellung, in Afrika einen weißen Mann suchen zu müssen, der sich nicht finden lassen wollte, löste in ihm Horrorgefühle aus.

Die zwei verschwundenen Frauen waren zusammen in den Jahren nach der Wende aus den neuen in die alten Bundesländer gewechselt. Wie ihre Nachbarn später aussagten, waren sie in bester Laune und mit Neugier auf die Freiheiten des Westens angekommen und wollten das Leben, jung wie sie waren und befreit vom Mief des realen Sozialismus, genießen. Sie hatten sofort ziemlich gut bezahlte Arbeit als Reinigungskräfte bei der Verwaltung der Bundeswehr gefunden, die zu dieser Zeit ihre Liegenschaften noch in eigener Regie pflegte und instand hielt. Sie waren ledig, hatten keine Kinder zu versorgen, und die Verwandtschaft war im Osten geblieben. Bald hatten die Frauen eine geeignete und preiswerte Wohnung gefunden. Jetzt fing das richtige Leben an. Sie erwarben kein Auto, keine Luxusküche, keine Ledermöbel und keinen elektronischen Schnickschnack. Stattdessen feierten sie ihr neues Leben. Die Nachbarn berichteten von Festen mit lauter Musik und viel Lachen, von Urlaubsreisen in so exotische Länder wie Portugal oder Spanien. Für die Frauen schien sich ihr Leben famos zu entwickeln.

Mit der Reform von Grund auf, mit der der Verteidigungsminister nicht nur der veränderten politischen Lage in Europa und der Welt Rechnung tragen, sondern vor allem die Kosten dämpfen wollte, wurden die von der Bundeswehr benötigten Dienstleistungen, wie die Pflege des Fuhrparks, der Objektschutz, die Handwerksbetriebe und auch die Reinigung der Betriebsräume, an private Unternehmen ausgelagert. Die Frauen wurden im Zuge einer sozialverträglichen Abwicklung von einem großen Reinigungskonzern übernommen. Hier leisteten sie die gleiche Arbeit unter ungleich schwereren Bedingungen. Kontingentierungen, Zeitverschreibungen und Nachtarbeit lösten Eigenverantwortung, Kaffeepausen und Gespräche mit Kollegen und Menschen ab, denen sie die Arbeitsumgebung verschönern und sauber zu halten halfen. Ihre Feiern wurden leiser, und schließlich feierten sie gar nicht mehr. Die Nachbarn sahen sie nur noch selten. Die Gespräche brachen ab. Sie arbeiteten, wenn andere schliefen, und umgekehrt.

Einige Zeit später wurden sie im Rahmen einer marktbedingten Restrukturierungsmaßnahme des Unternehmens für den ersten Arbeitsmarkt freigestellt: Das heißt, man entließ sie und übergab sie in die fürsorglichen Arme der Arbeitslosenverwaltung. Ihre Lebensgeister waren zu dieser Zeit wohl noch so vital, dass sie das, was sie aus freien Stücken in der versunkenen DDR-Welt zurückgelassen hatten, nicht wiederhaben wollten. Und so meldeten sie sich erst gar nicht beim Arbeitsamt.

Nach Ausbleiben der Mietüberweisung schickte die Hausverwaltung einen Vertreter, um die Rückstände in bar einzutreiben. Er stand vor verschlossener Tür. Auf seine Frage nach den Mieterinnen meinten die Nachbarn, die Frauen wären auf Reisen.

Schließlich wurde die Wohnung unter polizeilicher Kontrolle geöffnet. Sie wirkte, als hätten die Bewohnerinnen sie gerade für einen Kinobesuch verlassen.

Die anschließenden Ermittlungen zum Verbleib der beiden Frauen blieben so ergebnislos, als hätte es sie nie gegeben. Anfragen bei Bahn, Busunternehmen, Fluggesellschaften, Reisebüros, Volkshochschulen und so weiter und so fort gingen alle ins Leere. Fahndungsaufrufe in den Medien blieben ohne greifbares Ergebnis. Ein Auto oder Kreditkarten, über deren Gebrauch Spuren hätten aufgenommen werden können, besaßen sie nicht.

Schließlich landeten die Akten auf Jungs Schreibtisch. Er überprüfte jedes Detail, durchforstete akribisch die Nachbarschaft und die Verwandtschaft im Osten, bemühte sich, Augenzeugen aus den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden zu ermitteln: alles vergeblich. Es schien ihm, als besuchten die Frauen eine Filmvorführung, deren Abspann auf sich warten ließ. Sie saßen im Dunkeln, ohne sich zu rühren, und keiner sah sie.

Jungs Arbeit hatte den Ermittlungsergebnissen seiner Kollegen nichts Wesentliches hinzufügen können; hier und da eine Präzision oder ein unbedeutendes Detail, das eine oder andere Mosaiksteinchen. Aber er hatte den Vorteil, nicht unter Zeitdruck zu stehen, nicht den bohrenden Fragen seiner Vorgesetzten nach Fortschritten ausgesetzt zu sein. So konnte er die Fakten und Eindrücke, solange er wollte, in seinem Kopf bewegen und seinen Gefühlen und Intuitionen nachgehen.

Dabei entwickelte sich in ihm langsam die Vorstellung, dass er nach Menschen suchte, die ihr Leben nicht mehr gemocht hatten. Sie hatten es einfach verlassen, nicht, um in den Tod zu gehen, sondern in der Hoffnung, irgendwo ein neues zu finden. Sie hatten schon bei ihrem Neuanfang im Westen bewiesen, dass ihnen hierfür Mut, Kreativität und Einfallsreichtum zur Verfügung standen.

Je stärker sich bei Jung diese Vorstellung verdichtete, desto schwächer wurde sein Ehrgeiz, die Fälle lösen zu wollen. Das fiel ihm umso leichter, weil es keiner, weder sein Chef noch seine Kollegen, von ihm erwartete. Das öffentliche Interesse an den Fällen war nie da gewesen oder schon lange erloschen. Warum sollte er Menschen nachstellen, die in Ruhe gelassen werden wollten?

Jung behielt seine Gedanken jedoch für sich. Den hin und wieder auftretenden Fragen seines Chefs begegnete er mit dem richtigen Hinweis, dass er der Aufklärungsarbeit der Kollegen nichts wirklich Neues hatte hinzufügen können. Das freute alle, weil er damit bescheinigte, dass gute Arbeit geleistet worden war. Aber darüber hinaus erfreute Jungs Kollegen sein mangelnder Erfolg besonders deswegen, weil er ihnen als arroganter Besserwisser bekannt war.

Jungs Ernennung zum Dezernatsleiter mochte nach außen wie eine Auszeichnung erscheinen. In Wahrheit war es eine Strafversetzung, eine sowohl weise als auch elegante Entscheidung seines Chefs, die in wunderbarem Einklang mit den Gepflogenheiten des Berufsbeamtentums stand.

Bevor Jung nach seinem Studium in den Polizeidienst eingetreten war, hatte er sich seinen Schritt gründlich überlegt. Er war davon überzeugt, dass Polizeiarbeit, und hier in erster Linie die Verbrechensbekämpfung, die wesentlichste Voraussetzung sei, dass Bürger den demokratisch verfassten Staat als ihren Staat annehmen, sich für ihn einsetzen und Pflichten übernehmen. Ihre körperliche und materielle Unversehrtheit, ihre Rechte, ihre Sicherheit müssten ernst genommen werden. Die Anstrengungen, den Schutz dieser Werte sicherzustellen, müssten als höchster Ausdruck staatlich legitimierter Gewalt wahrnehmbar sein. Eine gute Polizeiarbeit hätte sich – so war er überzeugt – an dieser Leitlinie auszurichten. Qualität und Effektivität sollten die Kriterien sein, um die herum die Arbeit zu organisieren sei. Das hätte mit einer guten Ausbildung anzufangen. Die besonderen Fähigkeiten der Beamten sollten erkannt, gefördert und eingesetzt werden. Langjährige Erfahrung sei ein hoch einzuschätzendes Gut und sollte neben einem nüchternen Blick auf die Wirklichkeit zur Besetzung von Leitungsfunktionen qualifizieren. Jung hätte über dieses Thema aus dem Stand lange, überzeugende Vorträge halten können.

Nun lernte er seinen ersten Kriminaldirektor kennen. Der inhalierte von 50 filterlosen Zigaretten pro Tag jeweils nur drei Züge pro Zigarette, um seine Gesundheit zu schonen. Er fiel dadurch auf, dass er den Schreibdienst in den Wahnsinn trieb, weil er für einen halbseitigen Brief Tage brauchte, an denen er immer wieder Korrekturen anzubringen hatte. Schließlich war die Liste der Mitadressaten länger als der ganze Brief. Dieser Direktor erwarb sich den Ruf eines eifrigen Arbeiters, weil er regelmäßig über die Dienstzeit hinaus in seinem Büro anzutreffen war; doch in Wahrheit nicht etwa, weil er zu viel zu tun gehabt hätte, sondern weil er mit dem bisschen Schreiben nicht zum Ende kam und nicht zu früh bei seiner Frau zu Hause sein wollte. Jung brauchte nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie lange dieser Direktor mit der Abfassung der regelmäßig anfallenden Beurteilungen seiner Beamten (an die 50) beschäftigt sein musste und für was ihm nun – außer Zigaretten zu rauchen – noch an Zeit für andere Arbeiten übrig blieb. Wie sich später herausstellte, waren das u. a. Gründe für dessen Beförderung gewesen: Für die Ermittlungsarbeit war er einfach unbrauchbar. Hier waren tägliche Berichte zu verfassen, die er in angemessener Zeit nicht fertigbrachte. Er musste Qualitäten haben, die Jung verborgen blieben.

Die Arbeit in seiner Abteilung drehte sich – so schien es Jung – in erster Linie um Dienst- und Urlaubspläne, um die Einhaltung der Arbeitszeitverordnung und der Dienstzeit, um die Anzugsordnung, die Frauenquote, um Mobbing und Alkohol am Arbeitsplatz, um Beförderungsaussichten, die nächste Gehaltserhöhung, um Krankheiten, um Stress mit Vorgesetzten und Untergebenen, um die Kaffeekasse, den verdreckten Kühlschrank und so weiter und so fort. Dass die Abteilung dennoch Arbeitsergebnisse vorweisen konnte, nötigte ihm nur ein Kopfschütteln ab. Er stellte sich vor, was geleistet werden könnte, wenn die Gewichtung besser verteilt wäre, wie viel erfolgreicher sie sein könnten und so beschäftigt, dass sie keine Zeit dafür aufbringen konnten, die Einhaltung der Dienstzeiten zu überwachen (ein beliebter Zeitvertreib bei Chefs und Mitarbeitern).

Die Wahrnehmung seiner Arbeitsumgebung brachte Jung mehr und mehr in Wut. Er ereiferte sich und erging sich in langen Tiraden über die Sinnlosigkeit der angetroffenen Praxis. Je absurder er seine Arbeitswelt wahrnahm, umso wütender verteidigte er seine Vorstellungen von richtiger Arbeit. Etwas anderes wäre ihm wie Verrat an seiner Sache vorgekommen.

Jungs Überzeugungsarbeit blieb erfolg- und folgenlos. Schließlich fühlte er sich wie in Watte gepackt. Seinen Kollegen und seinem Chef ging er auf die Nerven, aber nichts passierte. Das machte ihn noch wütender. Er sann auf Abhilfe. Das Letzte, was ihm einfiel, war, nicht mitzumachen, zu verweigern, der Dienst nach Vorschrift, was im Grunde auf versteckte Sabotage hinauslief.

So verbrachte er seine Jahre. Sein Gehalt ging jeden Monat pünktlich auf seinem Konto ein. Er baute ein Haus, seine Kinder wurden größer, seine Frau machte sich selbstständig. Er empfand seine Arbeitswelt und seine Kollegen als unzumutbar, und umgekehrt galt wohl das Gleiche, wie er nur vermuten konnte, denn keiner sagte ihm ins Gesicht, was er von ihm hielt. Seine Wut wuchs, und er begann, sich selbst und seine Umgebung zu verachten.

So war die Situation, als sein Chef auf die Idee kam, ihn zum Leiter eines neu zu schaffenden Sonderdezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen zu machen. Hier leitete er sich selbst. Außer ihm gehörte dem Dezernat kein weiterer Beamter an. Brauchte er Unterstützung, so stand ihm frei, bei anderen Abteilungen darum zu bitten.

Jung zog nun in ein eigenes Büro um und hatte Zeit nachzudenken. Ihm wurde langsam und nur widerwillig klar, dass er gescheitert war; dass er keinen Weg gefunden hatte, auch nur den kleinsten Schritt in Richtung seiner Ziele zu tun. Ihm wurde unter entsetzlichen seelischen Schmerzen bewusst, dass seine Art, sich zu bewegen, sich zu äußern, mit seinen Kollegen, Chefs und Mitarbeitern umzugehen, dazu angetan war, seine eigenen Ziele zu sabotieren. Er selbst war das erste Problem und dann die anderen, die Umstände, die Bürokratie, und wer weiß noch was. Diese Erkenntnis zerschmetterte sein Selbstbewusstsein gänzlich. Er begriff, dass das Ausmaß seiner Wut seinen Verstand verzehrt hatte, wie ein Waldbrand Bäume verzehrt, und er begann, seine Wut zu fürchten.

Mit den Jahren aber begriff Jung seine neue Stellung als Wendepunkt, und er dankte seinem Chef insgeheim jeden Tag aufs Neue für die Versetzung auf seinen jetzigen Posten: Er verschaffte ihm Erholung und gab ihm Gelegenheit, sich zu sammeln. Die billige, schäbige Zweckmöblierung seiner Amtsstube (und aller anderen auch), gegen die er früher grob polemisiert hatte (Luxusasyl für bezahlte Gehirnamputierte), regte ihn nicht mehr auf. Er konnte sich allmählich besser auf seine Arbeit konzentrieren. Jung bemerkte, dass sein Widerwille gegen die alltäglichen Polizeiarbeiten schwand, die er in der Vergangenheit verabscheut hatte. Je besser es ihm gelang, seine Wut zu spüren und unter Kontrolle zu halten, desto mehr wuchs der Spaß an der Arbeit.

Er nahm nun auch an Kollegen Fähigkeiten wahr, die ihm vorher verborgen geblieben waren. So hatte er den Bürovorsteher des Leitenden Kriminaldirektors in die Schublade des intriganten, servilen Liebedieners und Karrieristen gesteckt. Jetzt fand er heraus, dass ihn Verschwiegenheit, Loyalität und ein sicheres Gespür dafür, was die Beamten angeht und was nicht, auszeichneten. Jung hätte ein Dutzend ähnlicher Beispiele aufzählen können.

In den letzten Jahren hatte sich nichts verändert. Jung freute sich darüber, und gleichzeitig schmerzte es ihn. Er war auch nicht verärgert, als sein Chef ihn an einem freien Wochenende anrief und ihn auf die Übernahme eines neuen Falles vorbereitete: Am Telefon wolle er aber auf Einzelheiten nicht weiter eingehen. Schon der Zeitpunkt des Anrufes war ungewöhnlich. Und der ausdrückliche Hinweis des Leitenden auf Arbeitsbeginn am Montag – wann denn sonst? – weckte Jungs Interesse und ließ ihn auf eine besondere Arbeit hoffen.

Jung betrat sein Büro im ersten Stock. Die fünf dicken Aktenordner auf seinem Schreibtisch waren nicht zu übersehen. Er öffnete das Fenster zu der in der Morgensonne glitzernden Förde, um den Wochenendmief hinauszulassen. Er machte es sich auf seinem Bürostuhl so gut es ging bequem. Noch bevor er den ersten Satz des zusammenfassenden Berichtes gelesen hatte, hörte er den unverkennbaren Stakkatoschritt seines Chefs im Gang vor seinem Büro. Es hätte zu Holtgreve gepasst, wenn er seine Schuhe mit Eisen an Spitze und Ferse hätte beschlagen lassen, wie es in den 50er-Jahren bei Halbstarken mal in Mode gewesen war. Um diese Tageszeit war er gewöhnlich auf dem Weg zur Teeküche am Ende des Ganges. Jung erschrak daher, als seine Tür ohne vorheriges Anklopfen aufgestoßen wurde und Holtgreve ungefragt und ohne langes Zögern auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm.

Holtgreve war klein, nicht dick, aber kompakt und drahtig. Sein Schädel war bis auf einen silbrigen Haarkranz spiegelblank. Er bildete sich etwas darauf ein, nie krank zu sein (in Wirklichkeit war er sehr selten krank, aber dann ernstlich). Sein Auftreten und seine Garderobe suggerierten seiner Umgebung, dass er in der allernächsten Sekunde bereit war, vor den Polizeipräsidenten, den Innenminister oder den Papst zu treten, um Orden, höhere Ämter oder letzte Weihen zu empfangen.

»Morgen, Jung«, begrüßte ihn Holtgreve freundlich. »Ich hab Sie schon sehnlichst erwartet. Das soll keine Kritik sein. Sie wissen ja, ich bin immer etwas früher hier. Mein Morgentee in der geliebten Bürotasse und die Zigarette ohne die nervenden Nichtraucher sind mir heilig. Genug davon, Sie sind ja da.« Er strich sich mehrmals über den kahlen Schädel und steckte die rechte Hand in die Jackentasche, als wolle er dort etwas finden, was er den ganzen Morgen schon vergeblich gesucht hatte.

Jung stutzte: Reden von dieser Länge und den jovialen Ton entre nous war er vom Leitenden nicht gewohnt. Der begrüßte seine Leute morgens eher mal mit der freundlichen Bemerkung, sie sähen aus wie aus dem Gepäcknetz gefallen. Im Übrigen waren Anweisungen im Telegrammstil und Befehlston seine große Stärke. Deswegen erwiderte Jung vorsichtig, aber interessiert: »Wenn Sie nicht zu mir gekommen wären, hätte ich mich bei Ihnen gemeldet. Den vorliegenden Fall haben Sie mir ja schon telefonisch ans Herz gelegt, und ich hätte natürlich mit Ihnen Rücksprache gehalten, bevor ich irgendetwas unternommen hätte.«

»Gut. Richtig. Gefällt mir. Ich sehe, wir sind da kon­form.«

Das war wieder original Holtgreve-Sprache, wenngleich ihm sonst nicht so viel Lob über die Lippen kam. Es signalisierte, dass der Leitende unter Druck stand und sich entspannte, nachdem sich Jung wider Erwarten fügsam zeigte.

»Leise und diskret arbeiten. Keine Kritik, bitte. Das ist Fakt. Kommt von ganz oben«, fuhr er eindringlich fort.

»Ich glaube, ich lese erst einmal den zusammenfassenden Bericht und mach mir ein grobes Bild von …, ja wovon denn? Noch weiß ich von gar nichts. Bevor ich in die Einzelheiten einsteige und konkrete Schritte vorbereite, werde ich mich mit Ihnen absprechen«, beschwichtigte Jung seinen Chef noch einmal.

»Gut. Sehr gut. Bin immer für Sie da. Schön, dass Sie es sind. Sie machen das. Das ist keine Kritik an den anderen, Sie wissen schon.«

Holtgreve nahm endlich die Hand aus der Jackentasche, legte beide Hände auf die Oberschenkel und stemmte sich aus seinem Stuhl.

»Ich geh schon, bleiben Sie sitzen. Ich höre von Ihnen, diskret und schnell. Und benutzen Sie das Ding zwischen Ihren Ohren, dafür werden Sie bezahlt.«

Bevor er noch seinen Lieblingsspruch zu Ende gebracht hatte, war er schon durch die Tür und schloss sie hinter sich.

Das kann ja interessant werden, dachte Jung. Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, legte seine Unterarme auf die Schreibtischplatte und starrte versonnen auf den Aktenberg. Ganz oben konnte nur Holtgreves direkter Vorgesetzter, der Polizeipräsident in Kiel, sein. Holtgreve pflegte sonst keine Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten auf Ministerialebene, aus Politik oder Wirtschaft. Dafür war er nicht gebaut, nicht glatt und geschmeidig genug, eher hölzern, unbeholfen und langweilig. Mit ihm konnte man keine Intrige durchziehen, keine Seilschaften bilden. Nur der Präsident selbst pflegte – schon wegen seiner Dienststellung – weitreichende Kontakte zu Politik und Wirtschaft. Das gehörte zu seinem Job wie das Salz in die Suppe. Jung spürte seine erwachende Neugier und wachsende Unruhe. Er witterte abstoßende Schweinereien auf gesellschaftlicher Ebene, die permanent unter der voyeuristischen Kontrolle der Öffentlichkeit lagen und das bevorzugte Ziel jener Medien waren, die mit dem Blick durch Schlüssellöcher Schlagzeilen und Geld machten. Jung erinnerte sich dunkel an einen spektakulären Todesfall auf Sylt, zu dessen Bearbeitung Holtgreve eine Sonderkommission zusammengestellt hatte. Er war vor rund einem Jahr Gesprächsthema unter den ermittelnden Kollegen gewesen, und Jung hatte beiläufig das eine oder andere aufgeschnappt. Später flatterten die Ermittlungsakten über die zwei verschwundenen Frauen auf seinen Schreibtisch. In der Folgezeit konzentrierte er sich auf seine Arbeit und verlor den Kontakt zu dem anderen Fall. Er hatte auch nichts mehr von der Sache gehört.

Seine Unruhe wuchs. Er fragte sich besorgt, was da wohl auf ihn zukomme. Ein Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn, jetzt endlich mit dem Studium der Akten anzufangen, bevor seine Fantasie mit ihm durchzugehen drohte. Mit einem leichten Seufzer blickte er durch das geöffnete Fenster auf das glitzernde Fördewasser, schlug die zuoberst liegende Akte auf und begann mit der Lektüre des zusammenfassenden Berichtes:

Am 16. August 2003, gegen 21 Uhr, entdeckte Frau Helga Bongard, geb. 18. Oktober 1948 in Essen, wohnhaft Op de Hörn 6, Holtbüll/Nordfriesland, die Leiche ihrer Freundin Frau Anna Mendel, geb. 05. Mai 1945 in Berlin, im Haus Norderende 5, Kampen/Sylt. Sie hatten sich an diesem Tag im Haus der Verstorbenen verabredet. Frau Bongard hatte in den 90er-Jahren für Frau Mendel gearbeitet, die eine Maklerfirma und eine Vermietungsagentur für Ferienwohnungen auf Sylt betrieb. Sie waren freundschaftlich verbunden geblieben, nachdem Frau Bongard den Betrieb verlassen hatte, um sich auf dem Festland selbstständig zu machen.

Auf ihr wiederholtes Klingeln hatte ihre Freundin nicht reagiert. Sie öffnete die unverschlossene Haustür und fand sie tot im Sessel ihres Wohnzimmers. Sie vermutete sofort, dass es sich nicht um ein natürliches Ableben handeln konnte, und verständigte die Polizeiwache in Westerland. Um 21.37 Uhr trafen Polizeiwachtmeisterin Karin Johannsen und Polizeiobermeister Jens Jürgensen vor Ort ein und veranlassten nach Feststellung des Todes der Frau sofort die Aktivierung der Spurensicherung (inklusive Rechtsmediziner) und der Abteilung für Gewaltverbrechen bei der Polizei-Inspektion Nord in Flensburg. Während die angeforderten Beamten mit dem Hubschrauber eingeflogen wurden, sperrten die beiden das Grundstück ab und nahmen die Personalien der Freundin des Opfers auf. Die erste flüchtige Überprüfung der Wohnung ergab keine Hinweise, die auf Gewaltanwendung oder Gewaltabwehr hätten schließen lassen können.

Nach Ankunft der Spezialisten aus Flensburg wurde eine eingehende Untersuchung der Leiche und des Tatorts vorgenommen. Der erste Eindruck der Beamten vor Ort wurde bestätigt. Der Rechtsmediziner schätzte den Todeszeitpunkt auf den frühen Morgen zwischen 8 und 11 Uhr des gleichen Tages. Vorbehaltlich einer noch durchzuführenden Obduktion stellte er Tod durch ein krampfauslösendes Gift fest (die spätere Obduktion bestätigte als Todesursache Vergiftung durch Strychnin).

Die inzwischen unterrichteten nächsten Angehörigen (Sohn Jürgen Mendel und dessen Ehefrau Karin, wohnhaft Steinmannstr. 12, Westerland/Sylt) betraten das Haus der Toten um 23.45 Uhr und identifizierten die Verstorbene als ihre Mutter bzw. Schwiegermutter, Anna Mendel. Weitere Angehörige konnten zu diesem Zeitpunkt nicht befragt werden (Sohn Holger Mendel lebt in New York/USA, die Tote ist seit 1990 geschieden [der geschiedene Mann Victor Mendel ist wohnhaft in Berlin-Steglitz, Forststr. 64 und lebt allein], alle noch verbleibenden möglichen Angehörigen wie Vater, Mutter, Geschwister, Tanten etc. gibt es nicht bzw. sind bereits verstorben). Die Tote war selbstständige Immobilienmaklerin und Inhaberin einer Agentur für die Vermietung von Ferienwohnungen in Westerland/Sylt. Sie hinterlässt ein geschätztes Immobilienvermögen von ca. 80 Millionen Euro und ein Barvermögen von 16 Millionen Euro. Gemäß Testament geht das Erbe zu gleichen Teilen an die Söhne Jürgen und Holger, beide Diplomkaufleute. Als Nachfolgerin in der Führung ihrer Firmen bestimmte die Verstorbene die Schwiegertochter Karin Mendel geb. Samuelson, ebenfalls Diplomkauffrau.

Jung entnahm den Akten, dass die intensiv geführten Ermittlungen der eigens eingesetzten Sonderkommission sich im Wesentlichen auf die Aufdeckung der Herkunft des Giftes und die Durchleuchtung des sozialen Umfeldes der Toten konzentrierten. Die Herkunft des Toxins konnte nicht ermittelt werden. Den mit der Toten in enger und auch weiterer Beziehung stehenden Personen konnte ein Zusammenhang mit der Tat nicht nachgewiesen werden. Auch vage Anhaltspunkte konnten nicht gefunden werden, selbst unter dem Generalverdacht, der bei der Höhe der Erbschaft und der mächtigen Position der Toten auf dem Immobilen- und Ferienhaussektor der Insel zwangsläufig auf das gesamte Umfeld fallen musste.

Die Sonderkommission beendete ihre Arbeit nach gut neun Monate dauernden Ermittlungen mit der Vermutung auf Selbstmord. Gegen diese These sprach allerdings, dass Frau Mendel keinen Abschiedsbrief hinterlassen und auch ihrer Umgebung, soweit sie überhaupt in Kontakt mit ihr stand, nie ein solches Vorhaben signalisiert hatte. Dafür sprach, dass die Tote, wie die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion ergab, unter einer Stoffwechselkrankheit und infolge davon unter Fettleibigkeit, schweren Kreislaufproblemen und Herzrhythmusstörungen litt, die ihre Lebensqualität stark herabsetzten. Selbst die Aufrechterhaltung einer eingeschränkten Bewegungsfreiheit war nur unter Einsatz hoher Dosen verschiedenster Medikamente gewährleistet (von Vitaminen und Mineralien bis hin zu Appetitzüglern und Herzstärkungsmitteln). Der Bericht schloss mit der Feststellung, dass die Todesursache durch eigene oder fremde Hand nicht zweifelsfrei zu ermitteln war und dass man den Fall zur weiteren Bearbeitung an das Sonderdezernat übergeben habe.