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KÖNIGIN GENEVIER

Eine Frau kämpft für das Recht

Band 01

 

VERZWEIFLUNG,
HOFFNUNG,
NEUBEGINN

 

von

FRANK BRUNS

KÖNIGIN GENEVIER

Eine Frau kämpft für das Recht

Herausgeber: ROMANTRUHE-Buchversand.

Cover: Romantruhe (Bildrechte: shutterstock).

Satz und Konvertierung:

ROMANTRUHE-BUCHVERSAND.

© 2018 Romantruhe.

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Die Personen und Begebenheiten der

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Produced in Germany.

Prolog

 

Diese Geschichte basiert auf den Überlieferungen eines Frauenordens, der um 472/480 auf einer Burg in den spanischen Pyrenäen wirkte.

Man sagte ihm nach, er habe aus heilkundigen Frauen bestanden, die aber auch kriegerisch geschult der Mero-winger Besatzungsmacht harte Attacken versetzte.

Childerich soll endlich den Orden geduldet haben, weil dieser bei der umliegenden Bevölkerung in hohem Ansehen stand und der Bischof von Rom Druck ausübte.

Die Ordensschwestern sollen sich auf den Gral berufen haben und abweichend von der dogmatischen Christenlehre einer alten Religion der Astarte der Pyrenäen, der Diana / Inanna von Sumer angehört haben.

Wie die Kartarrer, leugneten sie die Kreuzigung Jesu und stritten seinen Tod durch die Römer ab.

Die Überlieferung und Legendenbildung lässt den Schluss zu, dass nach der Schlacht bei Berry am Indre (Gallien), Königin Genevier und einige Frauen der Artusritter auf der ehemaligen Gralsburg Mont Salvage den Orden der Schwestern der Diana gründeten.

Sie ließen sich kämpferisch ausbilden und geboten so den grausamen Plünderungen der Horden des Merowingers Childerich I in vielen Fällen Einhalt.

Obwohl vieles mystifiziert ist und die Legenden oft nur Bruchstücke der Ereignisse darstellen, lässt sich die Geschichte und Lebensweise des Ordens um Genevier in bestimmten Teilen rekonstruieren.

Vieles der nachfolgenden romanhaften Wiedergabe wird sich so oder ähnlich zugetragen haben, wenn man auch in einigen Fällen auf Vermutungen angewiesen ist.

Die Annahme, dass der Orden von der ehemaligen britischen Hochkönigin Genevier (Gwynviwer / Genebra) gegründet worden ist, erweist sich als legitim, da sich auch die Geschichte nahtlos in die Nachfolgezeit – also nach dem Verschwinden Artus’ – einfügen lässt.

Ebenso ist es nachvollziehbar, dass es sich bei der Gralsburg um die Burg San Salvador de Verdera oberhalb des Fischerortes Cadaques handelt, da Wege- und Ortsangaben übereinstimmen.

 

Frank Bruns – Museumspädagoge

Verzweiflung – Hoffnung – Neubeginn

 

1

 

»Die Zeiten werden immer schlimmer. Die Unruhen nehmen zu.« Genevier strich sich eine Strähne des rötlich braunen Haares aus der Stirn. Die goldenen Strahlen der Spätherbstsonne warfen sanfte Schatten auf ihre schönen, leicht römischen Gesichtszüge. Sie lehnte sich mit dem Rücken an eine Zinne der Burgmauer. Ihr Blick glitt an dem Turm entlang, auf dem das Drachenbanner wehte.

Obwohl seit dem Tode Artus’ bereits zwei Jahre vergangen waren, zeigten die Feinde vor dem Wappen immer noch Respekt.

Eileens braune, sanfte Augen ruhten auf der schlanken Gestalt der Königin. Während der Abendwind ihr weiches blondes Haar umspielte, ergriff sie die zarte Hand der Freundin.

»Ja«, bestätigte sie leise. »Doch hier oben in den Pyrenäen sind wir sicher.«

Genevier lächelte ob der beruhigenden Worte. »Liebste Eileen – deine Zuversicht ist wohl unerschütterlich.«

Die Angesprochene legte nun beide Hände um Geneviers Schultern. »Du bist meine Zuversicht! Bedenke, wie viel du bereits getan hast. Du hast diese Burg – die einige Shangrilah, die anderen San Salvador nennen – hier auf dem Mont Salvage wieder aufgebaut. Der Merowinger lässt dich in Ruhe. Ganz davon abgesehen, dass er mit Aetius ganz andere Sorgen hat. Der Römer würde ihn lieber heute als morgen vom Thron stoßen.«

Die Königin zog ihr Wollcape enger um die Schultern. Die Zehen ihrer nackten Füße wippten leicht. Sie wandte sich halb um und schaute hinab in den Burghof. Die leichten Rüstungen der Kämpferinnen glänzten und ihre Schwerter blitzten, wenn die Klingen im Übungsspiel aufeinander prallten.

Sechzig Frauen hatten vor der Verfolgung Childerichs hier oben Zuflucht gefunden. Doch Genevier wusste, dass diese Ruhe nicht von langer Zeit sein konnte und ließ daher vom alten Garms alle gründlich im Kampfe ausbilden.

Die meisten Ritter der Tafelrunde waren im großen Kampf bei Berry gefallen. Nur auf Lancelot würde man noch bauen können. Doch er hielt sich zur Zeit in Benoic auf. Er hatte innerhalb der politischen Wirren alle Hände voll zu tun und konnte sich wenig um die Königin und ihre Getreuen kümmern.

Nach dem großen Kampf hatte Childerich Camelot zerstört. Er ließ alle Angehörigen des Hochkönigs verfolgen und töten. Die Frauen der königstreuen Ritter flohen und versteckten sich. Genevier hatte Zuflucht in einem Kloster nahe der Küste gefunden. Als sie die Kunde erreichte, welche Grausamkeiten der Merowinger im Lande vollziehen ließ, sammelte sie die verfolgten Frauen um sich und konnte mit ihnen unter lebensgefährlichen Umständen die Bretagne erreichen. Von der Küste aus begann die schwierige Reise quer durch das Land.

Allein Lancelot konnten sie es verdanken, dass sie die alte Gralsburg Parcivals erreichten. Dieser Teil der Gralsfamilie hatte sich bei den Wirren in alle Winde zerstreut. Repanse de Schoy starb in Arles einen furchtbaren Martertod und Orgeluses Spur verlor sich auf einem maurischen Sklavenmarkt. Auf den Verbleib Parcivals gab es keinen Hinweis.

Genevier drückte Eileen an sich. »Lass uns gehen, es ist Zeit für die Abendandacht.«

Sie liefen die steilen Steinstufen hinab und gelangten in den Hof. Die Mauern warfen nun lange Schatten.

Die Kämpferinnen hatten die Waffen und Schilde zur Seite gelegt. Der alte Garms klopfte den Mädchen auf die Schultern.

»Gut gemacht.«

Genevier lächelte still. Garms hatte immer zu ihr gestanden. Auch damals, als die Intrige um sie und Lancelot bald zu einer Katastrophe geführt hätte. Der Waffenmeister war es auch, der Modreds Spiel durchschaute.

Durch eine kleine Pforte erreichten die Königin und Eileen einen wundervollen Garten. Mit viel Liebe und Mühe hatten die Frauen der Burg ihn in zwei Jahren angelegt. Alter Baumbestand hatte mit verwendet werden können. Jeder, der diesen Garten betrat, spürte sogleich die Ruhe, die er ausstrahlte. Alle Pflanzen waren nach einem uralten System angepflanzt und gesetzt worden.

»In gewisser Weise stellen sie ein Spiegelbild des Kosmos dar«, hatte Genevier damals zu Eileen gesagt.

»Kosmos? Was ist das?«

Dann hatte die Königin ihr das erklärt, was ihr einst Merlin Ambrosius gesagt hatte. Der weise, ehemalige Hochkönig hatte Genevier in vielen Dingen unterrichtet. So in der Mathematik, in der Astronomie und der Chemie.

»Als Frau meines Neffen musst du ihm auch im Wissen zur Seite stehen«, hatte der Alte damals gesagt.

»Wissen bedeutet Macht – das hat auch Artus erkannt.« Dinge um die Natur und die Heilkunde wusste Genevier von Morgana – Artus’ Schwester.

»So ist Morgana nie böse gewesen?«, hatte Eileen erstaunt gefragt.

Die Königin hatte darauf den Kopf geschüttelt. »Sie fiel einem schlimmen Gerücht des Merowingers und Modreds zum Opfer. Morgana ist eine sehr weise und schöne Frau gewesen. Oberste Priesterin eines uralten Frauenordens. Sie besaß das Wissen Dianas.«

Genevier erinnerte sich an jedes Wort, als sie nun durch das Bogentor schritten. Das Emblem Dianas drehte sich zwischen den Kletterrosen leicht im Wind.

Genevier spürte die Unebenheiten der steinernen Stufen unter den nackten Fußsohlen. Alle Frauen auf San Salvador de Verdera hatten ihre Erfüllung und den Sinn der Schöpfung in der alten Religion gefunden. Dort – wo eigentlich das Erbe des Grals begann.

»Was ist eigentlich mit Morgana geschehen?«, drang Eileens Stimme in die Gedanken der Königin.

Diese zuckte die Schultern. »Niemand weiß es. Doch ich denke, dass Morgana Mittel und Wege kannte, um dem Merowinger ein Schnippchen zu schlagen. Merlin allerdings« – setzte Genevier leise hinzu – »wurde von Modred ermordet.«

Sie hatten den Heiligen Hain erreicht. Trotz des voranschreitenden Herbstes entfaltete sich hier eine berauschende Blumenpracht.

An den Wasserspielen blieb Genevier vor der Statue der Göttin stehen. Sie zeigte Diana im weichfließenden, knöchellangen Gewand – den Blick stolz nach Osten gerichtet. Das Gesicht strahlte Weiblichkeit, Güte, Wissen – aber auch zugleich Durchsetzungsvermögen aus. Die Füße der Statue waren nackt, so wie es die Göttin einst vor dem Götterrat der Zwölf geschworen hatte. Am mittleren Zeh des rechten Fußes glitzerte ein Diamant. Alle Frauen auf San Salvador trugen am mittleren Zeh ihres rechten Fußes einen kleinen Ring mit eingelassenem Diamanten und dem Symbol Dianas. Dieses Symbol charakterisierte gleichzeitig den Gral.

Genevier und Eileen trafen auf dem sanft ansteigenden Weg zum Tempel immer mehr Frauen. Alle trugen das leicht bläuliche Gewand und liefen barfuß.

Vom Säulenportal des Tempels her trug der Wind leise, einschmeichelnde Musik herüber. Durch die einsetzende Dämmerung sah man den Widerschein des Heiligen Feuers zwischen den Verzierungen der Kapitelle.

Der Tempeleingang wirkte Ehrfurcht gebietend.

Halb griechisch und halb ägyptisch. Hoch über dem Portal erstrahlte im letzten Licht der Abendsonne gold und blau das Emblem des Planeten des Durchquerens – der Heimat Dianas.

Eileen löste vor den vier breiten Treppenstufen die Riemen ihrer Sandalen. Sie hatte sich noch nicht an die Barfüßigkeit gewöhnen können. Genevier ließ sie gewähren. Sie wusste: eines Tages würde auch sie sich voll zu Diana und ihrer Liebe zu den Menschen – insbesondere dem Schutz der verfolgten Frauen – bekennen.

Eileen war einst Genevier zur Hilfe gekommen. Eine versprengte Kampfeinheit Childerichs hatte sie in einem Dorf nahe Burgunds gejagt. Genevier hatte sich in arger Bedrängnis befunden. Wie ein Wirbelwind war plötzlich Eileen auf ihrem Gescheckten daher gerast und hatte mit mächtigen Schwerthieben vier Merowinger in eine andere Welt geschickt, worauf der Rest sich feige davon machte.

»Verfluchte Brut!«, hatte sie gerufen.

Erst nach Tagen – sie hatte sich Genevier angeschlossen – lüftete sie das Geheimnis ihrer Herkunft.

»Du… du bist eine Schwester Childerichs?«, hatte die Königin nach Luft schnappend gefragt.

Eileens Augen hatten geblitzt.

»Ja – ich bin eine Merowinger. Doch ich weiß auch, dass Childerich der Satan in Person ist, obwohl er immer die Worte des Königs von Jerusalem auf den Lippen trägt.«

Dann hatte sie die Königin umarmt und gesagt: »Unsere beiden Familien entstammen dem Gral. Die Pendragon und die Merowinger. Unser Zweig entstammt dem des Jesus und seiner Frau Maria. Eurer aus dem des Joseph von Arimathia und seinem Weibe. Doch mein Bruder hat das angeborene Erbe eigennützig missbraucht. Er schreckt in seiner Machtbesessenheit vor nichts zurück. Sieh hier!«

Damit zog sie ihr Wams über den Schultern auseinander. Genevier sah die tiefen, vernarbten Striemen der Peitsche.

»Wer sich widersetzt, spürt seine Wut. Selbst in der eigenen Familie! Aetius hätte ihm nie wieder die Macht geben dürfen. Doch der Caesar in Rom wollte es so. Ich hasse sie beide!«

Die geheimnisvolle Musik, deren Ursprung in einem nicht erkennbaren Bereich lag, umfing Genevier und vertrieb die Gedanken der Vergangenheit.

Vor dem Alabasteraltar erhob sich auf einem mächtigen Dreibein eine eherne Halbkugel. Darin flackerte das ewige Heilige Feuer. Im Hintergrund glitzerte die mit Goldstaub überzogene, beinahe drei Meter hohe Statue Dianas.

Im Gegensatz zu der Figur bei den Wasserspielen, zeigte sich die Göttin hier nackt. So – wie sie die Götter im Rat beschämte.

Der Boden des Tempels bestand aus kostbaren Mosaiken. Sie spiegelten die Umlaufbahnen der einzelnen Planeten um die Sonne wider. Eine leicht blaue Spur deutete die Bahn des Immerwiederkehrenden Planeten der Götter an. An der Decke des Tempels herrschte das Symbol des Planeten – die geflügelte Kugel. Gleichsam Zeichen des Grals. »Der Gral hat seinen Ursprung nicht im Hause David«, hatte Morgana einst Genevier erklärt.

»Sein wahrer Ursprung liegt in einer Zeit vor der letzten großen Flut.«

Bis auf die Frauen, die San Salvador bewachten, sammelten sich alle im Kreise der Planeten. Sie ließen ihre Gewänder zu Boden gleiten, sanken auf die Knie, hoben die Arme in Kopfhöhe und richteten die Handflächen nach vorn zur Statue aus.

»Diana – Urmutter des Seins – unsere große Hoffnung – wir, deine Schwestern, ehren und grüßen dich…« So begann das abendliche Gebet.

Genevier erinnerte sich noch an das, was sie damals zu Eileen gesagt hatte, als sie dieser das Ritual erklärte. »Wir ehren die Göttin als gleichwertige Mitglieder einer Familie. Unsere Gebete sind nicht das winselnde, nach Gnade heischende Flehen dieser Kuttenträger.«

Darauf hatte Eileen erstaunt zurückgefragt: »Das sagst du, die doch zwei Jahre unter Nonnen gelebt hat?«

»Diese Nonnen! Sie flehen einen angeblichen Leichnam um Erleuchtung und Hilfe an. Sie wissen nichts! Das einzige, was ich mit ihnen gemeinsam habe, ist der Schwur der Barfüßigkeit. Doch die Nonnen laufen auf nackten Füßen, um sich vor Paulus falscher Religion zu erniedrigen. Meine nackten Füße symbolisieren den Stolz Dianas! Außerdem –«, fügte sie nach einer minimalen Pause hinzu, »– nehme ich über die feinen Nerven der Fußsohlen die Kraft des Kosmos aus der Erde auf.« Es hatte lange gebraucht, bis Eileen die Zusammenhänge begriffen hatte. Trotzdem hatte sie sich noch nicht durchringen können, sich ganz zu Diana zu bekennen.

Wie Perlen bedeckten die Gestirne den dunklen Himmel, als die Frauen, angeführt von Genevier, den Tempel verließen. In der großen Halle der Gralsburg nahmen sie gemeinsam das Abendessen ein. Gegen Mitternacht bestimmte das Los die neuen Wachen.

Ein scharfer Wind tat sich in den frühen Morgenstunden auf und trieb bedrohliche Wolken vor sich her. Genevier war gegen vier Uhr erwacht. Sie konnte nicht wieder einschlafen. So hatte sie ihre Kemenate verlassen und war auf den Turm gestiegen. Dort traf sie den alten Garms, den einzigen Mann auf der Burg. Er lehnte an einer Zinne und blickte über das Land, das sich durch den Frühnebel der Dämmerung schälte. Überrascht wandte er sich um. Er hatte seine Königin gehört, obwohl ihre nackten Sohlen kaum ein Geräusch verursachten.

»Genevier! Was treibt dich so früh herauf?«

Er nahm sie in den Arm. Garms zählte bald achtzig Jahre. Von Anbeginn – seit sie ihre Heimat auf Camelot gefunden hatte – war Garms ihr ein väterlicher Freund und Ratgeber gewesen. Wenn er das Handeln der Burgfrauen auf dem Mont Salvage auch nicht verstand, so würde er doch jede einzelne mit seinem Leben verteidigen.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, entgegnete Genevier auf die Frage des Alten. »Was quält meine Herrin?«, erkundigte er sich mit leiser, angenehmer Bass-Stimme.

»Es sind Erinnerungen der Vergangenheit. An ein Königreich des Sommers. Eine Welt des Friedens.«

Garms drückte sie fest an sich und nickte. »Es waren gute Zeiten auf Camelot. Einen Mann wie Artus wird es nicht mehr geben.«

Eine Träne stahl sich aus dem rechten Auge der Königin und hing wie ein glitzernder Tautropfen an ihrer Wange. Garms wischte sie sanft weg. Obgleich Genevier dabei war, die Vierzig inzwischen zu überschreiten, zeigte ihr Gesicht immer noch mädchenhafte Züge. Lediglich die Augen bewiesen die Weisheit der Jahre.

»Ist Artus wirklich tot?«

Der Alte hob leicht die Schultern. »Zuletzt sah man ihn schwer verwundet bei Avallon. Wenn der Merowinger ihn gefunden hat, ist sein Tod sicher.«

»Lancelot hat nach ihm gesucht.«

»Ja«, nickte Garms. »Die Spur war wage. Doch Lancelot wird von seiner eigenen Verwandtschaft bedrängt. Childerich verzeiht ihm nicht, dass er als Merowinger – wenn auch aus einer Nebenlinie – Bannerführer des Pendragon wurde.«

Die Königin zog tief die feuchte Morgenluft ein.

»Lance…«, seufzte sie.

Garms lächelte wissend. Ihre unglückliche Liebe, ihre gespaltenen Gefühle zwischen Artus und Lancelot, hatten eine ernste Krise in der Tafelrunde heraufbeschworen. Dies hatte Modred genutzt.

»Doch dieser Bastard ist tot«, erklärte Garms mit fester Stimme. »Das wissen wir.«

Genevier blickte zu Boden. »Vielleicht sind es nur die Umstände gewesen, die Modred so werden ließen. Ein Vater – der ihn nicht anerkennen durfte – weil er seinen Sohn in Unwissenheit mit seiner Schwester zeugte. Seine Mutter besaß nicht genügend Macht über ihn.«

»Ach was!« Garms Stirnader schwoll an. »Er war ein Lump! Ganz das Gegenteil von seinem Bruder Gawan.«

»Gawan wuchs behütet am Hofe Lots auf«, wandte Genevier ein.

»Heißt das etwas?« Der Waffenmeister schüttelte unwirsch den Kopf. »Seine Mutter gab ihm alle Liebe dieser Welt. Als Dank stellte Modred sie als Hexe dar.«

Verächtlich spuckte der Alte über die Brüstung. Plötzlich stutzte er. Er kniff die Augen zusammen und deutete nach Norden.

»Sieh!« Rötlicher Schein zeichnete sich am Horizont ab.

Genevier schluckte. »Das ist Ceret!«

Garms knirschte mit den Zähnen. »Der merowingische Hurensohn hat wieder zugeschlagen. Er raubt und mordet, nur um seiner Macht Willen!«

Genevier wandte sich rasch um. »Wir müssen etwas tun!«

Garms hielt sie energisch zurück. »Warte! Es ist zu früh! Deine Frauen sind inzwischen wohl die besten Kriegerinnen, die es auf dieser verdammten Welt gibt, doch der Mörderhorde sind sie dennoch nicht gewachsen.«

Er drückte die Hand der Königin fest an seine Brust. »Auch mein Herz schmerzt«, sagte er leise – »doch wir können nichts tun. Erst wenn sie fort sind.«

Geneviers Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber Menschen werden hingeschlachtet. Wozu?!«

»Tja«, machte Garms leise. »So wird es immer sein.«

Die Königin riss sich los. Sie hastete in den Burghof und ließ Alarm geben.

»Genevier! Warte!« Garms eilte hinter ihr her. »Warte doch! Du brauchst vier Stunden bis Ceret. Es ist zu spät!«

Die Augen der Frau blitzten. »Es kann nicht zu spät sein.« Sie holte tief Atem. »Garms! Wenn ich nur ein einziges Leben vor dieser Horde rette, so ist es mir den Einsatz wert!«

Nur Minuten später jagte ein Trupp von dreißig schwerbewaffneten Amazonen über die Zugbrücke und nahm den steilen Weg ins Tal. Allen voran ritt – in goldbronzener Rüstung – Genevier. Eileen ritt an ihrer Seite. An der Lanze das Banner des Pendragon.

 

 

2

 

Der Rauch drang beißend in die Augen. Doch auch Wut und Verzweiflung riefen die Tränen Geneviers hervor.

»Hat gründliche Arbeit geleistet – dein Verwandter«, knurrte Garms.

»Er ist nicht mein Verwandter«, gab die Königin mit fast erstickter Stimme zurück. Ihr Blick glitt über das, was einmal das Dorf Ceret gewesen war.

Der alte Waffenmeister lenkte seinen Braunen an einem verkohlten Balken vorbei.

»Leider doch. Deine Mutter ist eine Tante Childerichs gewesen. Sie hat es dir nie verziehen, dass du den Pendragon geheiratet hast.«

Genevier verzog das Gesicht. »Du bist gut informiert.«

Der Alte drängte sein Pferd nahe an das seiner Herrin. Er ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich so zart an und doch konnte sie so hart und unbarmherzig das Schwert führen.

»Ich habe dich auf den Knien geschaukelt. Vergiss das nicht!«

Die Königin schluckte. Nun wusste sie mit Gewissheit, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass Garms ihr später nach Camelot gefolgt war.

Alyshia kam auf ihrem Gefleckten heran und wischte sich den Ruß aus dem Gesicht. Dichte schwarze, fettige Rauchwolken lagen über den Ruinen.

»Es ist zu spät, Genevier«, stöhnte die hochgewachsene, durchtrainierte Frau. »Obwohl wir wie die Teufel geritten sind – es ist zu spät. Die nicht ermordet worden sind, wird der Merowinger in die Sklaverei entführt haben.«

Das befürchtete die Königin auch.

Da ließ sie ein Wimmern aufhorchen. Sie hob die Hand. »Was ist das?«, flüsterte sie.

Alyshia und Garms wandten sogleich ihre Köpfe in die Richtung, aus der das Wimmern gekommen war.

Garms entdeckte es zuerst! Ein vielleicht gerade zehn Monate altes Kind lag neben der Leiche seiner Mutter.

»Himmel!«, kam es aus der Kehle des Waffenmeisters und es hörte sich an, als ob ein Wolf knurre. Er stieg vom Pferd und nahm das Kind auf.

»Es scheint unverletzt«, stellte er fest.

Er reichte es Genevier herauf.

»Armes Kerlchen«, flüsterte sie und drückte das kleine Wesen an sich. Dann rief sie ihre Kriegerinnen zusammen.

»Sucht alles sorgfältig noch einmal ab. Vielleicht gibt es doch noch Leben hier.« Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Nach einer Stunde intensiven Suchens, in den Trümmern und der näheren Umgebung, brach der Trupp auf. Genevier hielt das Kind an sich gedrückt. Es war inzwischen eingeschlafen.

Garms schaute mit mildem Blick zu den beiden.

»Die Mutterrolle steht dir gut.«

Trotz der schlimmen Situation lächelte Genevier. Wie gern hätte sie mit Artus Kinder gehabt. Doch dazu war es nicht gekommen.

»Ich werde ihn Moses nennen«, erklärte die Königin.

Garms zog die buschigen, rötlichen Augenbrauen hoch. »Ihn?«

Genevier lachte und nickte. »Es ist ein Knabe.«

»Hm«, machte der Alte. »Aber weshalb Moses? Wie wär’s mit Dietrik?«

Die Königin schaute den Freund von der Seite an.

»Dietrik? – Ein guter Name. Es sei!«

Garms nickte befriedigt. »In deiner Obhut wird er ein stolzer Recke werden.«

»Wer weiß?!« Genevier trieb ihr Pferd an und setzte sich an die Spitze ihrer Kriegerinnen.

Unterwegs trafen sie immer wieder auf brennende Gehöfte und hingemetzelte Menschen. Childerich kehrte sein Land – oder das, was er dafür hielt – mit eisernem Besen. Nur wer sich zu ihm bekannte, blieb verschont.

Das Dorf, das der Trupp nach einigen Stunden erreichte, lag in einem malerischen Tal. Der Fluss schlängelte sich im weichen Licht der Herbstsonne dahin. Nichts schien das idyllische Bild zu stören.

»Weshalb kann die Welt nicht so friedlich sein?«, fragte Genevier mehr zu sich selbst. »Die Mönche sprechen von ihrem barmherzigen Gott. Weshalb lässt er dann morden und brennen zu?«

Sie ritten langsam den Weg hinab, der ins Dorf führte. Plötzlich hielt Garms sein Pferd an und griff Genevier in die Zügel.

»Warte!«, zischte er und machte den anderen ein Zeichen, ebenfalls anzuhalten. »Da stimmt etwas nicht.«

Sein Blick glich dem des Adlers, als er Richtung Dorf starrte. »Seht ihr irgendwo Leben?«

Der alte Waffenmeister setzte sein Pferd vorsichtig in Trab – hielt es aber nach wenigen Metern wieder an.

Er lauschte.

Dann vernahmen es alle.

Das typische Pfeifen einer Peitsche und das klatschende Geräusch, welches entsteht, wenn das Schnurende auf einen Körper traf.

Geneviers Kriegerinnen zogen wie auf Kommando ihre Schwerter.

Im Schritt lenkten sie ihre Reittiere zum Dorf. Sie bildeten zwei Reihen, deren Anführer Garms war.

Seine Augen glitten unaufhörlich von links nach rechts und zurück. Er schien jede Einzelheit der Umgebung in sich aufzusaugen.

Das Klatschen der Peitsche wurde lauter. Sie näherten sich dem Dorfplatz.

Nun sahen sie es!

Geneviers Lippen bildeten nur noch einen schmalen Strich. Ihr Gesicht unter dem Helm mit dem roten Drachenzeichen verwandelte sich in eine harte Maske.

Auf dem runden Dorfplatz hatten mehrere Männer – teils in verwahrlosten Rüstungen – Menschen zusammengetrieben. An zwei Pfählen hingen Körper. Nackt und mit Blut überströmt.

Ein Mann und eine Frau.

Der Mann schien tot zu sein. Eine gewaltige Blutlache hatte sich unter seinen freischwebenden Füßen gebildet und Rinnsale suchten sich ihren Weg durch das grobe Pflaster des Platzes.

Die Menschen des Dorfes hielten sich verängstigt in den Armen.

Kein Wort wurde gesprochen.

Kein Schluchzen.

Kein Schrei der Gemarterten.

Eine gespenstische Szene.

Der Körper der Frau zuckte lediglich unter der Wucht der Hiebe. Der Körper bildete eine blutüberzogene Masse.

Kleine rote Bäche rieselten über ihre Beine und Füße zu Boden.

Der Profoss, der die Peitsche mit satanischem Lächeln schwang, machte endlich eine Pause und wischte sich den Schweiß ab.

Doch gleich wurde er von einem Mann auf einem schwarzen Pferd angeherrscht:

»Weiter! Weiter! Erschlagt diese verdammte Brut!«

Genevier hatte inzwischen erkannt, dass es sich um zwölf Männer handelte, die das Dorf strafen wollten.

Die rechte Hand der Königin verkrampfte sich um den Schwertgriff.

»Angriff!«, schallte ihre Stimme über den Platz. Mit einer Macht, die man der zierlichen Frau nicht zugetraut hätte.

Da stoben die Kämpferinnen mit Garms auch bereits in die Mitte der Schergen, die vor Verblüffung kaum zur Gegenwehr greifen konnten. Wie eine Furie ging die Königin dazwischen.

Ein ausholender Schwertstreich!

Der Arm des Profosses mit samt der Peitsche flog durch die Luft. Blut spritzte im Bogen und traf auch Geneviers Goldhelm.

Nun erst ging der Aufschrei durch die Menge.

Der Spuk dauerte vielleicht zwei Minuten, dann lebte keiner der Mordgesellen mehr.

Genevier drückte einer ihrer Gefährtinnen ihr Schwert mit der rötlich besudelten Klinge in die Hand und sprang vom Pferd. Sie rannte auf den Pfahl zu, an dem die Frau hing.

Deren Gesicht zeigte sich verquollen vom Schmerz.

Der Mund geöffnet, die Finger verkrallt – aber sie lebte noch.

»Schnell!«, rief die Königin. »Nehmt sie ab!«

Dann lief sie zu dem Mann.

Doch hier kam tatsächlich jede Hilfe zu spät. Das Fleisch hatte sich durch die Peitschenhiebe teilweise von den Knochen gelöst. Jedoch viel entsetzlicher zeigte sich die Wunde der Vollkastration.

Genevier wurde übel. Sie musste sich mit aller Macht zusammennehmen, um ihren Mageninhalt nicht auf den Platz zu entleeren.

Endlich hatte sie sich etwas im Griff und konnte sich an die umstehenden Menschen wenden.

Mit bleichen, völlig verstörten Gesichtern blickten diese auf ihre Retter.

Es dauerte noch Minuten, bis ein älterer Mann – wie sich bald herausstellte handelte es sich um den Dorfvorsteher – etwas sagen konnte.

»Es war in den frühen Morgenstunden, als der Reitertrupp uns überfiel. Man suchte Spione aus Benoic. Als wir keine Auskunft geben konnten, packten sie Jacques und Mirelle.« Er deutete auf den Toten und auf die Frau, die notdürftig von der Ärztin Alyshia versorgt wurde.

Benoic!

Also befand sich Lancelot in Bedrängnis.

Genevier biss sich auf die Lippen. Garms ließ den Toten wegbringen und Mirelle wurde in das Haus des Bürgermeisters gebracht. Genevier hegte wenig Hoffnung, dass sie überleben würde.

Die Kämpferinnen von San Salvador durchstreiften die Umgebung des Dorfes. Aber sie konnten keine Feinde mehr entdecken.

Auf dem Schild eines der Schergen erkannte Garms den braunen Drachen mit der Rune.

Er zeigte das Wappen Genevier.

»Ehemals Modreds Mann«, zischte die Königin und ballte die Fäuste.

Garms nickte. »Gegen Blutgeld überfallen sie Dörfer. Eine bessere Lösung konnte Childerich sich nicht einfallen lassen. Bei einer Anklage würde er immer seine Hände in Unschuld waschen.« Der Waffenmeister spuckte aus.

Genevier versammelte die Dorfbewohner.

Sie erklärte ihnen, dass sie mit weiteren Strafaktionen rechnen müssten, wenn kundig wurde, dass man die Verbrecher erschlagen hatte. Doch der Dorfvorsteher und die anderen Männer wollten ihre Heimat nicht verlassen.

Was konnte Genevier tun?

»Hört Männer! Dann lasst die Frauen und Kinder mit mir nach San Salvador ziehen. Vorerst – bis ihr sicher sein könnt, dass nichts mehr passiert. Die Lage kann sich auch beruhigen.« Die Männer beratschlagten.

Als die Königin ihnen erklärte, dass der Merowinger bereits unzählige Frauen als Sklavinnen an die Mohren verkauft habe, um seine Truppen zu finanzieren, stimmten sie zu.

»Wenn etwas passiert, sendet einen Boten zur Burg.«

Dann gab die Königin des Gral das Zeichen zum Aufbruch. Die Schwerverletzte allerdings musste vorerst in der Obhut des Dorfvorstehers bleiben. Dessen Frau blieb darum ebenfalls zurück.

»Ich werde Mirelle pflegen«, sagte sie und hielt die Zügel von Geneviers Pferd. »Gut. Ich werde in zwei Wochen jemanden vorbeischicken.«

Dann ließ sie ihr Pferd antraben. Die anderen folgten. Es war bereits tiefe Nacht. Unterwegs trafen sie zweimal auf Merowinger. Doch sie wurden in keine Kämpfe verwickelt. Die Königin umging geschickt die gefährlichen Regionen. In den Vorboten der Frühdämmerung kam die Gralsburg in Sicht.

Der Trupp ritt die Serpentinen hinauf. Rasselnd senkte sich die Zugbrücke.

Genevier zog sich in ihre Kemenate zurück, wo ihr Eileen half, das Rüstzeug abzulegen.

Die Königin warf sich das leichte Tempelgewand über und suchte die Thermen auf.

Die kühle Frühluft durchdrang das dünne Gewand, doch sie belebte den Geist. Im Heiligen Hain kniete die Königin vor der Statue der Göttin.

»Große Göttin – ich danke dir, dass du meine Frauen beschützt hast. Gib uns die Kraft weiter zu kämpfen. Für eine neue und friedliche Welt.«

Das warme Wasser in den Thermen entspannte Genevier. Sie ließ sich von dem künstlichen Wasserfall berieseln und schloss die Augen.

Szenen vergangener Tage tauchten aus ihrem Unterbewusstsein auf.

Glückliche Tage auf Camelot.

Sie sah die bunten Banner auf den weißen Türmen.

Die Musik – die strahlenden Lüster im Thronsaal – sie vernahm das Waffengeklirr der Turniere und wie aus weiter Ferne drangen die allzubekannten Stimmen an ihr Ohr. Die sonore Stimme Tristans, die sanfte Art Gawans, das unverkennbare Timbre Artus’ und der weiche Akzent Lancelots.

Tränen rannen über ihre Wangen und vermischten sich mit dem Wasser der Therme.

Die Scheibe des Mondes senkte sich zum Horizont und würde bald der Sonne Raum geben. Vereinzelt drang der Schein von Fackeln durch das aufsteigende Morgenlicht bis in den Hain.

»Tauche auf aus den Schatten der Vergangenheit!«

Genevier zuckte zusammen. Diese Stimme! Wo kam sie her? Sie kannte sie nur zu gut.

»Merlin«, hauchte sie.

Doch dann merkte sie, dass es nur eine Stimme ihres eigenen Verstandes war, der ihr signalisierte, dass sie aus den Alpträumen erwachen sollte.

Sie schüttelte sich. Wie oft schon war es geschehen, dass sie glaubte, vertraute Stimmen zu vernehmen. Oder den Klang der Harfe Garets.

Die Königin entstieg dem Wasser und trocknete sich ab. Sie warf das Gewand über und lief auf nackten Füßen durch das weiche, feuchte Gras zur Arkadenbrüstung. Sie blickte in das weite, von Nebel durchflutetet Tal. Das Rauschen des Meeres drang im Morgenwind den Berg hinauf.

Später warf sich Genevier noch lange auf ihrem Lager hin und her. Sie fand trotz Erschöpfung keinen Schlaf. Sie dachte an den bedrängten Lancelot und wusste nicht, was sie zu tun vermochte.

 

 

3

 

Das Heilige Feuer warf bizarre Schatten auf die steinernen Wände, reflektierte an den Säulen und verbreitete den angenehmen Duft nach Myrrhe und Weihrauch. Zwei Schwestern knieten vor dem Standbild Dianas. Eine andere Schwester betete vor dem Gemälde Aradias, der Tochter der großen Göttin.

Genevier spürte den kühlen Marmorboden unter den Füßen. Während sie da stand und nur schaute, glitt die Erinnerung erneut herauf. In die Zeit, als die Burg noch Munsalvache genannt worden war. Bei den Bergbauern hieß sie auch San Salvador de Verdera oder die Burg der Ritter mit den grünen Gürteln.

Vor dem geistigen Auge tauchten die Gestalten des Vergangenen auf. Der athletische Amfortas, der strahlende Sir Parcival, die anmutige Repanse de Schoy und die stolze, schöne Orgeluse. Wie herrlich waren die Feste gewesen, die hier im ehemaligen Rittersaal zu Ehren der Göttin gefeiert worden waren.

Welche Stille hatte sich im Saal ausgebreitet, wenn alle dem Boten lauschten, weil ein Königreich oder Fürstentum sich in Not befand. Dann entschied das Los, welcher Ritter als König vom Gral kommissarisch die Verwaltungsgeschäfte des betreffenden Landes übernahm, bis der rechtmäßige Herrscher seinen Thron einnehmen konnte. Orgeluse war es meist, die im verdeckten, goldenen Gefäß den Namen zu dem auserwählten Ritter brachte. Wie atemlos war die Spannung, wer es sein würde – wen die Göttin ausgesucht hatte.

Tränen rannen erneut über die Wangen Geneviers. Ach – so lang war’s noch gar nicht her!

Sie schaute auf die Flammen des ewigen Feuers. Dann wanderte ihr Blick weiter zur Statue. Diese war uralt. Gefertigt aus Alabaster. Überzogen mit Goldstaub. Sie zeigte Diana mit ihrem herrlichen Körper – nackt – wie sie vor dem Rat der Zwölf erschienen war, um ihre Gefährten und Brüder zu beschämen. Enki und Enlil hatten die Erde bereits unter sich aufgeteilt, als Diana ihre Ansprüche geltend machte.

Wie weise hatte sie später als Königin in Uruk geherrscht. Sie hatte sich dem besonderen Schutz des weiblichen Lebens verschrieben. Die Erfüllung eines Schwurs, der später von Aradia weitergeführt worden war. Danach hatte Dianas Enkelin das Erbe übernommen. Diana selbst hatte sich in ihr ewig kreisendes Schloss zurückgezogen, wo sie dem Rat der Zwölf angehörte.

Nun wollte Genevier das Erbe erfüllen.

Nachdem Orgeluse den romantisch veranlagten Gawan geheiratet hatte, war die Erfüllung des Schwures der Diana auf Repanse de Schoy übergangen.

Obwohl sie Königin im Vorderen Indien geworden war, hatte es sie in der Zeit der Wirren nach Munsalvache zurückgezogen. Als der Merowinger die Burg bedrängte, kam Orgeluse mit zweihundert Rittern von Orkney aus zur Hilfe. Doch sie gerieten in einen Hinterhalt.

Genevier wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.

Die Trauer und der Schmerz drohten sie zu überwältigen.

Doch was war das?

Die Königin blickte unverwandt auf die Statue und mit einemmal schien es, als ob die starren Gesichtszüge der Göttin an Weichheit zunähmen.

Dann vernahm Genevier die Stimme.

Sie schien von überall her zu kommen.

Ihr Herz schlug wild! Was hatte das zu bedeuten?!

»Genevier – meine Erbin! Eine schwere Aufgabe erwartet dich. Aber du wirst sie meistern. Mit der Hilfe des San Greal, des heiligen Blutes deiner Abstammung. Erfülle meinen Schwur. Einst wird kommen ein neuer König des Gral und er wird kämpfen gegen die Verwirrung eines Glaubens und eine Macht, die sich zu Unrecht auf das Haus David beruft. Die Kraft des Gral liegt in der geheimen, unerkannten Mission. Erfülle – Genevier! Erfülle!«

Die Flammen in dem ehernen Becken zu Füßen der Statue schienen plötzlich hoch zu schlagen.

Genevier blinzelte mit den Augen. Doch die Statue stand da wie immer, und das Heilige Feuer flackerte.

Die Königin schluckte erneut. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigte.

Sie schaute zu den anderen Schwestern, die immer noch im Gebet versunken waren.

Hatte nur sie die Stimme Dianas vernommen? War alles vielleicht nur Einbildung gewesen? Oder Vision?

Auf unsicheren Beinen verließ Genevier den Tempel.

Die Sonnenstrahlen trafen warm auf die Treppen des Portals. Sie brachen sich in dem goldenen Löwen – dem Wappen der Gottkönigin.

Wie in Trance schritt die Herrin des Mont Salvage die steinernen Stufen herab. Sie spürte den Bruchstein unter den Fußsohlen. Gleichzeitig gewahrte sie aber auch die Kraft, die durch ihren Körper strömte.

Diana hatte zu ihr gesprochen. Kein Zweifel! Doch weshalb nur zu ihr?

Da kamen ihr die Worte des weisen Merlin in den Sinn: »Nur wenige werden auserwählt, weil sie die innere Stärke besitzen.«

Sie ging durch den Heiligen Hain, und hörte das Zwitschern der Vögel. Diese machten sich bereit, der Sonne nach zu ziehen. Bald würde der Winter das Land beherrschen und der Schnee die Gipfel der Pyrenäen bedecken. Das würde etwas Ruhe bringen, denn der Merowinger konnte dann die Pässe nicht nutzen.

»Meine Königin so in Gedanken…?«

Genevier schaute zurück und erblickte Eileen.

»Entschuldige, ich habe dich im Tempel gar nicht bemerkt. Ich bin etwas durcheinander. Machst du mit mir einen Spaziergang durch den Heiligen Garten?«

Eileen nickte bestätigend. »Gern.« Sie schlüpfte rasch in ihre Sandalen und folgte ihrer Königin.

Zusammen schritten Sie an den Blumenrabatten vorbei zu den alten Bäumen. Auf einer halbrunden Marmorbank nahmen sie Platz. Von hier besaß man einen herrlichen Blick über die Meeresbucht von Rosaria.

Eine Weile schauten sie den fernen tanzenden Schaumkronen zu, dann legte Genevier der Freundin die Hand auf das Knie.

»Eileen«, begann sie leise. »Du befandest dich ebenfalls im Tempel. Ist dir etwas aufgefallen?«

Eileen schaute Genevier erstaunt an. »Was sollte mir aufgefallen sein? Es war wie immer. Der Duft des Heiligen Feuers, die anheimelnde Stille…«

Genevier nickte. Sie hatte also nichts bemerkt. Nun begann Genevier an sich zu zweifeln. Hatte sie sich vielleicht alles nur eingebildet?

»Was hat dich so aufgewühlt?«, wollte die Freundin wissen.

Die Königin zuckte leicht mit den Achseln. Ein Blatt löste sich aus der Krone des Baumes, unter dem sie saßen und sank sanft, mit leichten Wellenbewegungen, herab. Es blieb genau auf Eileens Schuhspitze liegen.

Genevier bückte sich ein wenig herab und nahm das Blatt auf. Dabei schaute sie auf den Fuß der Freundin. Die leichte Sandale ließ die gepflegten Zehen frei. Die Sonne blitzte in den Steinen des Dianaringes.

Die Königin glitt von ihrem Sitz und ging vor Eileen in die Knie. Sie hob den Fuß ein wenig an und küßte den großen Zeh. Dann tat sie das selbe mit Eileen’s anderem Fuß.

Eileen machte ein verlegenes Gesicht. Wie durch Watte hörte sie Geneviers Worte: »Wann wirst du dich voll zu Diana bekennen?«

Eileen schluckte und die Schamröte stieg ihr ins Antlitz. »Was tust du… meine Königin… ich bekenne mich zu ihr.«

Genevier nickte und sah ihrer Bannerführerin fest in die Augen. »Auch zu unserem Gelöbnis?«

Eileen musste erneut schlucken. Sie presste die Lippen aufeinander. Endlich neigte sie sich nach vorn, löste die Riemen ihrer Sandalen und zog diese aus.

»Komm!«, forderte Genevier sie auf und erhob sich.

Etwas unsicher blickte Eileen zu den Sandalen in ihrer Hand und zu ihren bloßen Füßen. Doch dann stand sie auf und folgte ihrer Königin barfuß.

Sie ging etwas verkrampft, denn zum ersten Mal spürte sie den herbstfeuchten Boden unter den nackten Sohlen.

Genevier lächelte. »Spürst du die Erde? Fühlst du ihre Kraft?«, flüsterte sie. »Wie sie von den Fußsohlen in deinen Körper strömt?«

Tatsächlich überkam Eileen ein merkwürdiges Gefühl. Es war wie ein unbekannter Strom, der sich über ihren ganzen Körper ausbreitete. Mit jedem Schritt wurde sie ruhiger und ausgeglichener.

Sie erreichten die Thermen. Genevier legte ihr Gewand ab und stieg in das anheimelnde Wasser. Eileen zögert einen Moment, dann tat sie es ihrer Königin gleich. Unter einem der künstlichen Wasserfälle trafen sie sich.

Die Sonne war inzwischen höher gestiegen. Das Cap Creus würde wieder einen wundervollen Tag erleben.

Während hier im Oktober die Tagestemperaturen noch bis 26 Grad anzusteigen vermochten, verzeichneten die Pyrenäen-Spitzen oft bereits mehrere Minusgrade.

Eileen lehnte sich mit dem Kopf an den Beckenrand aus rundgeschliffenem Fels und breitete die Arme nach hinten aus, sodass die Beine zur Wasseroberfläche trieben.

Genevier entspannte sich auf die gleiche Weise.

»Glaubst du, dass ich je eine wirkliche Priesterin der Diana werden kann?«, fragte Eileen leise.

Das Sprudeln des Wassers strahlte Ruhe aus.

Geneviers Lippen umspielte ein Lächeln. »Natürlich. Du musst dich nur zur alten Religion bekennen. Zur ursprünglichen. Nicht zu dem Unsinn, den Paulus verbreitet hat.«

Eileen blickte zum tiefblauen Himmel auf.

Er leuchtete in einer Farbe, wie sie nur hier zu finden war.

»Was hat die alte Religion mit dem Gral zu tun?«

»Der Gral…«, begann Genevier sinnend. »Der Gral ist unsere Abstammung. Noch weiter als die heilige Familie Josuas.«

Eileen schaute erstaunt.

»Josua? Du meinst Rabbi Josua?«

»Er war mehr als ein Rabbi. Die Römer nannten ihn Jesus. Doch er war ein König! Der rechtmäßige König von Jerusalem. Es war sein Erbe, nach dem Johannes der Täufer ermordet worden war.«

Eileen runzelte die Stirn. »Aber Jesus ist der Sohn Gottes gewesen!«

Genevier schaute nun ernst. »Jeder König von Jerusalem ist der Sohn Gottes gewesen. Aber verwechsle das nicht mit dem Gott, den Paulus erschaffen hat, um eine Macht gegen die Römer aufzubauen. Jesus’ Anspruch auf Jerusalem geht zurück bis zu den Herrschern Babyloniens, Assyriens und Sumer. Bis hin zu Ishtar – die richtig IN.ANNA hieß.«

Eileen schaute völlig irritiert. »Aber das sind doch Heiden gewesen!«

Genevier schüttelte unwirsch den Kopf.

»Das Wort Heide bezeichnet Ungläubige. Aber was sind denn Ungläubige? Paulus baute eine Religion auf, die bei Jesus beginnt und endet. Und das ist falsch! Das wahre göttliche Königreich entstammt einem Volk, das vor langer, langer Zeit von den Sternen herabstieg. IN.ANNA / Diana gehörte zu diesem Volk. Die Familie der Pendragon entstammt in direkter Linie von diesem Volk.«

Eileen drehte sich zu ihrer Königin um. »Bekämpft euch deshalb mein Bruder?«

»Ja – denn eure Familie besitzt die selbe Abstammung. Auch Childerich erhebt Anspruch auf das Königreich in Jerusalem und somit auf den Thron der Welt.«

Eileen machte große Augen. »Aber dann seid ihr… sind wir… eine Familie…«

Genevier nickte. »Im Grunde ja. Doch Childerich ist machtbesessen. Er will herrschen um des Herrschens Willen. Er…«

Ein lauter Ruf unterbrach Genevier.

Saharia kam aufgeregt angerannt. »Meine Königin – kommt rasch! Eine Botin ist gekommen!«

Genevier stieg halb aus dem Wasserbecken.

»Eine Botin? Woher?«

»Aus Juncaria. Der Merowinger hat dort gewütet, weil er Anhänger der Pendragon dort vermutete.«

Rasch trocknete die Königin sich ab und warf das Tempelgewand über. Eileen folgte ihr.

 

 

4

 

In der großen Halle herrschte Aufregung. Zahllose Frauen umringten irgend etwas oder irgend jemanden. Genevier bahnte sich einen Weg. Dann sah sie die schwer atmende Botin auf den Steinfliesen liegen. Ihr Kleid war zerfetzt und ließ mehr von ihrem Körper frei, als es bedeckte. Ihre bloßen Füße bluteten an vielen Stellen.

Genevier kniete sich neben sie. Sie bettete den Kopf der Frau in den Schoß.

»Bringt Wein!«, rief sie. Sogleich reichte man einen Becher. Die auf dem Boden liegende trank wie eine Verdurstende.

»Hatte sie ein Pferd?«, erkundigte sich die Königin.

»Nein«, antwortete die Castellanin. »Sie muss den ganzen Weg gelaufen sein. Seht euch die Striemen auf ihrem Rücken an.«

Genevier hatte diese bereits bemerkt. »Was ist geschehen?«, fragte sie leise die erschöpfte Frau.

Mühsam, manchmal stockend, berichtete sie von dem Überfall. »Am frühen Morgen… über zweihundert Soldaten… sie trieben alle zusammen. Nur wenige konnten sich verstecken. Sie verbrannten die Häuser, folterten und erschlugen die Männer. Dann vergewaltigten sie die Frauen und Mädchen. Viele wurden an den Bäumen aufgehängt. Man legte Feuer unter die Körper bis sie sich in schreiende Fackeln verwandelten. Andere wurden zu Tode gepeitscht. Immer wieder fragten sie nach Namen die wir nicht kannten…«

Sie stockte und setzte erneut an. »Am grausamsten gingen sie mit der Frau des Dorfvorstehers um. Sie zogen sie aus und…« Sie schüttelte sich. »… und… zwängten ihr einen umgekehrten Spieß in die Gedärme. So banden sie die vor Qualen halb von Sinnende auf ein Gestell und brannten ihr Fußsohlen und Brüste, bis sie schwarz waren.«

Die Frau wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

»Mich hielt man wohl für tot, doch ich sah alles. Endlich konnte ich fliehen.«

Die Anstrengung war nun zu groß. Sie sackte in Ohnmacht zusammen.

Genevier erhob sich mit steinernem Gesicht. »Bringt sie in die Krankenstation.«

Dann rief sie ihre Kriegerinnen zusammen.

Es dauerte nur knapp eine Viertelstunde, bis sich das Burgtor öffnete und ein starker Trupp in ihren griechisch anmutenden blitzenden Rüstungen über die Bohlen der Zugbrücke donnerte.

Allen voran Genevier!

Hinter ihr Eileen mit dem Drachenbanner an der Lanze.

Wie die wilde Jagd ging es die schmalen Wege abwärts in die Ebene.

Am späten Nachmittag erreichten sie den Ort des Grauens. Schwer hing der Rauch über den Resten der Stadt. Es stank nach verbranntem Holz und Tod. Ratten huschten durch die Trümmer.

Als der Trupp die Rambla erreichte, schloss Genevier in Wut und Ekel die Augen. Zu furchtbar stellte sich die Szene dar.

»So muss die Hölle sein«, murmelte Eileen.

»Das ist die Hölle«, knirschte die Königin. »Verflucht sei die Brut Childerichs!« Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Ihre Kriegerinnen schwärmten aus. Was sie fanden, war unbeschreiblich. Welche Gnade hatten die Erschlagenen und Verbrannten erlebt! Denn die zahlreichen, eilig zusammengezimmerten und sadistischer Phantasie entstammenden Foltergestelle raubten dem Betrachter den Verstand. Was mussten erst die verstümmelten Menschen darauf erlitten haben.

Plötzlich vernahmen sie Stimmen.

Die Königin riss ihren Schwarzen herum und… staunte.

Es hatten wirklich einige das Massaker überlebt. Sie hatten in den unterirdischen Räumen der Kirche Schutz gefunden. Scheinbar hatten die Mörder doch Skrupel gehabt, das Gotteshaus anzuzünden.

Zum Schluss zählte Genevier über fünfzig Menschen – Männer, Frauen und Kinder, die dem ihnen zugedachten Schicksal entkommen waren.

Der Ort selbst zeigte sich beinahe völlig zerstört. Die Männer liefen in ohnmächtiger Wut durcheinander, die Frauen weinten und drückten ihre Kinder an sich.

Genevier ließ Wagen heranschaffen. Darauf verteilte man Frauen und Kinder. Dann zog der Trupp in bedrückter Stimmung ab.

Es war der Abend des darauffolgenden Tages, als Genevier den großen Rat vom Mont Salvage einberief. Er bestand aus zwölf Frauen. Sie saßen an einer runden Tafel, ähnlich der, die einst in Camelot gestanden hatte.

Der Rat bestand nicht nur aus ehemaligen Fürstinnen. Es handelte sich um Frauen aller Schichten, die in einem Abstimmungsverfahren für ein Mondjahr gewählt worden waren. Genevier führte den Vorsitz. Befehlsgewalt hatten aber nur alle gemeinsam.

»Schwestern«, leitete die Königin die Sitzung ein. »Ihr alle habt gesehen – oder wenigstens die Kunde in allen Einzelheiten vernommen – was geschehen ist. Die Stadt ist zerstört. Mit unbeschreiblicher Grausamkeit ließ der Merowinger seine Soldaten wüten. Ihr wisst, dass dies kein Einzelfall ist und es sich jeder Zeit wiederholen kann. Nur an die Burg wagt sich keiner heran.« – »Noch nicht«, setzte sie hinzu. »Wir sind keine solche gewaltige Streitmacht, dass wir den Heeren Childerichs überall entgegentreten können. Also beschränkt sich unser Tun zur Zeit auf Linderung dessen, was für die Überlebenden solcher Massaker möglich ist. Und das ist denkbar wenig. Doch das Gebot Dianas fordert von uns, nicht untätig zu sein. Ich würde mich Childerich ausliefern, wenn es dem Gemetzel ein Ende bereiten würde. Doch der Merowinger gibt sich damit nicht zufrieden. Die meisten von euch wissen noch, was er einst prophezeite, als er Camelot zerstörte. Er will jeden Abkömmling und Sympathisanten des Pendragon auf der Folter sterben sehen. Doch dürfen wir ihm das Feld so überlassen? Einem König, der sogar sein eigenes Volk auspresst bis zum letzten Lebenstropfen? Ich habe gesehen, wie er eine Bauernfamilie nackt hinter Pferde binden ließ. Wie sie zu Tode geschleift wurden, nur weil sie durch schlechte Ernten ihre Abgaben nicht bezahlen konnten.«

Sie machte eine Pause. Endlich fügte sie leise an: »Doch ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.«

Tiefe Stille lag nach Geneviers Worten über dem Saal.

Da fasste sich Sehdra, eine knochige Müllerfrau, ein Herz und sprach: »Die Zeit der Rache wird kommen. Doch wir müssen unseren Orden vergrößern und zerstörte Orte wieder aufbauen.«

Alle wussten, dass Sehdra recht hatte. Gegen die Heere Childerichs war im Moment nichts auszurichten. Jedenfalls nicht im offenen Konflikt auf dem Schlachtfeld.

Genevier versammelte die Männer aus Juncaria im Burghof. Inzwischen hatte die Dunkelheit sich ausgebreitet. Zahlreiche Fackeln beleuchteten den gepflasterten Hof und warfen bizarre Reflexe auf die Mauern.

Die Männer waren sich rasch einig, dass sie ihren Heimatort wieder aufbauen wollten. Ihre Frauen würden vorerst auf San Salvador bleiben. Ein Trupp von vierzig Kriegerinnen würde die Männer schützen, so gut es ging.

»Ich glaube nicht, dass der Merowinger noch einmal eine solche gewaltige Streitmacht hier her schickt. Die Pässe sind bereits des nachts verschneit. Meine Kriegerinnen werden euch gegen kleineres Raubgesindel Schutz bieten können.«

Dann berief sie eine etwa vierzigjährige, schlanke Frau zu sich. »Komm mit mir. Ich muss dir etwas sagen.«

Mit erstauntem Gesichtsausdruck folgte sie der Königin in deren Kemenate. In dem großen Kamin des Turmzimmers brannte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme Wärme.

Die Burg an sich besaß ein ganz besonderes Heizsystem. Genevier hatte sich die hier an verschiedenen Stellen entspringenden Thermen zu nutze gemacht. Überall unter den Steinfliesen verliefen Tonröhren, durch die das warme Wasser geleitet wurde. Diese Erwärmung des Bodens erwies sich als besonders angenehm, weil die Schwestern ja im Namen Dianas alle barfuß gingen.