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Roland Zingerle

Lindwurmtöter

Klagenfurter Kneipen-Krimi Nr. 2

 

 

 

 

 

Prolog

 

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Großhandelsvertreter Hubert Pogatschnig und der Bierführer-Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Gruppeninspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt…

Samstag, 23.55 Uhr, Klagenfurter Innenstadt.

 

Die Tage der Sonne waren vergangen. Die Landeshauptstadt lag in einer trüben Düsternis versunken, wie ein Diamant in einem Bottich Seifenlauge. Die Nächte waren kalt geworden und regelmäßig rieselte Raureif von den Kreuzbergler Kastanienbäumen.

Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht stürmte ein eisiger Wind durch die Straßen von Klagenfurt, ein Wind, der so überraschend gekommen war, dass sich die Nachtschwärmer eiligst in die Lokale flüchteten, um die heraufdräuende Winterdepression mit Gerstensaft und Härterem zu bekämpfen.

 

Auch Hubert Pogatschnig und Ludwig Melischnig waren auf halbem Weg zur Euphorie. An eine Theke gelehnt, waren sie mit einem Mann ins Gespräch geraten, der einen Kopf ohne Haare und einen Mund voller Sprüche besaß. Sein Name war Gerhard.

„Womit verdienst du dein Geld, Gerhard?“, fragte ihn Pogatschnig.

„Ich handle mit Holz“, erwiderte der Kahle und nahm einen erschreckend großen Schluck aus seinem Bierglas.

„Holz?“ Pogatschnigs Augenaufschlag erklärte die Zeitverzögerung seiner Antwort. „Bauholz? Brennholz? Holzwolle?“

„Holz“, erwiderte Gerhard achselzuckend, „was immer du brauchst.“

„Und womit verdienst du dein Geld?“

Pogatschnig wusste um die katastrophalen Preise in der Holzwirtschaft bescheid. Gerhard lachte.

„Ich kenne da den einen oder anderen Trick“, erklärte er. „Hast du zum Beispiel gewusst, dass Bordelle bei Geschäften in Italien und in der Slowakei unglaublich wichtig sind? Dort kommen die besten Abschlüsse zustande. Kein Wunder, dass der Mädchenhandel blüht!“

„Mädchenhandel?“ Ludwig Melischnigs Stimme klang wie elektrisiert.

„Du meinst … Mädchen …?“

„Junge Frauen, ja“, Gerhard schien irritiert über die Rückfrage zu sein. „Die werden im Osten mit allen möglichen Versprechungen geködert und dann in den Westen verschleppt, wo sie anschaffen müssen.“

Melischnig war entsetzt!

„Du darfst es Ludwig nicht übel nehmen“, meinte Pogatschnig und legte Melischnig freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Er ist, was Frauen betrifft, ein bisschen zart besaitet.“

„Wie heißt denn Dein Mädchen?“, wollte Gerhard wissen.

„Bettina“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Und? Hübsch?“

„Oh, ja!“ Melischnig setzte einen Blick auf, der je zur Hälfte von Liebe und Alkohol verklärt war. „Sie ist lieb, sie ist … sie ist … einfach wunderbar!“

„Oje, das kann jetzt dauern!“ Pogatschnig drehte die Augen über und seufzte. „Wenn Ludwig anfängt, über Bettina zu schwärmen, ist das ungefähr so, als würde ein Öltanker durch einen Zauberwald tänzeln.“

„Mädchenhandel“, sagte Melischnig nun wieder mit fassungslosem Kopfschütteln, „die werden einfach verschleppt, oder wie?“

„Hier hast du meine Visitenkarte“, Gerhard ahnte, worin das Gespräch gipfeln würde und wollte es daher rechtzeitig ablenken. „Wenn du in der Gegend bist, ruf mich einfach an, dann gehen wir auf einen Kaffee und ich erzähle dir mehr über den Mädchenhandel.“

Sonntag, 3 Uhr morgens, Neuer Platz, Klagenfurt.

 

Wenn es etwas gab, das Gruppeninspektor Leopold Ogris’ grundsätzlich miese Laune noch mehr vermieste, dann war es, aus dem Schlaf gerissen zu werden. Das mochte daran liegen, dass ihn nie jemand weckte, um ihm zum Geburtstag zu gratulierten oder um ihm zu sagen, was für ein toller Hecht er war. Wenn ihn jemand aufweckte, dann hatte ein anderer Jemand, der zufällig in seinem Revier gelebt hatte, abrupt aufgehört, dieses zu tun.

 

Der Gruppeninspektor stand vor dem Lindwurm am Neuen Platz und besah sich den Tatort: Der Körper eines verwahrlosten, älteren Mannes lag bizarr verkrümmt auf den Stufen des Lindwurmbrunnens. Seine Arme waren grausam nach hinten überstreckt, was daran lag, dass seine Hände mit Handschellen an das Gitter gekettet waren, das den Lindwurm umgab.

Um die Todesursache herauszufinden brauchte Gruppeninspektor Ogris keinen Pathologen: Das Opfer war erstickt worden. Ein zerknitterter Plastiksack war ihm über den Kopf gestülpt und mit Hilfe zweier aneinander gesteckter Kabelbinder am Hals festgezurrt worden. Eine Umhängetasche aus zerschlissenem Stoff schlang sich irgendwie um den Oberkörper des Toten. Sie hatte sich offensichtlich im Todeskampf geöffnet und eine Flut von Papierblättern freigegeben, welche nun rund um den verdrehten Leichnam verstreut lagen.

„Warum können sich die Menschen nicht tagsüber gegenseitig umbringen?“, knurrte der Gruppeninspektor einen Polizisten an, der gerade zu ihm gekommen war. „Nein, es muss immer in der Nacht sein! Wenn ich schlafen will!“

Der Polizist ging nicht auf das Lamento seines Vorgesetzten ein.

„Ein Zeitungsausträger hat die Leiche gefunden“, erklärte er sachlich und zeigte auf einen Mann mittleren Alters, der mit leichenblassem Gesicht und schreckensgeweiteten Augen unweit des Toten auf den Stufen des Lindwurmbrunnens hockte. „Bei dem Opfer handelt es sich um einen stadtbekannten Flugblatt-Verteiler.“

„Namen“, schnauzte ihn der Gruppeninspektor an. „Ich brauche Namen, keine Berufsbezeichnungen!“

„Nun – sie wissen, wie das so ist, mit diesen sogenannten Originalen: Ein jeder kennt sie vom Sehen, doch damit hat es sich meistens auch schon.“

Gruppeninspektor Ogris’ Augen funkelten seinen Untergebenen zornig an:

„Ist das etwa Ihr Zugang zu Ihrer Arbeit?“, fuhr er auf. „Soll ich das in meinen Bericht schreiben: ‚Ein stadtbekanntes Klagenfurter Original’?!“

„Tut mir leid, Herr Gruppeninspektor, mehr kann ich zur Identität des Opfers derzeit nicht sagen.“ Ogris’ schlechte Laune schien an dem Polizisten abzuprallen wie Hagelkörner vom Dach des Kärntner Landhauses. „Er hat keinen Ausweis oder sonstige Gegenstände bei sich, aus denen man auf seine Identität schließen könnte. Ich weiß allerdings, dass er immer wieder hier am Neuen Platz gestanden ist und seine Flugblätter verteilt hat. Auch gestern Nachmittag. Ich habe ihn gesehen.“

Gruppeninspektor Ogris schnaubte und ging näher an den Toten heran. Dessen Glieder waren verdreht, sein vernachlässigtes Gewand, das ihm das Aussehen eines Obdachlosen gab, verrutscht. Sein Todeskampf musste mehrere Minuten gedauert haben, in denen er offensichtlich versucht hatte, den Plastiksack irgendwie von seinem Kopf abzustreifen.

 

Bei den Papierblättern, die aus der Umhängetasche gefallen waren, handelte es sich um die Flugblätter, von denen der Polizist vorhin gesprochen hatte. Gruppeninspektor Ogris ging über einem dieser Blätter in die Hocke und las seinen Text: ‚Lindwurmtöter’ stand als große Kopfzeile auf dem Blatt, der Rest war mit einer alten, mechanischen Schreibmaschine zu Papier gebracht und anschließend schier zu Tode kopiert worden. Die einzelnen Artikel waren mit freihändig gezeichneten Strichen voneinander getrennt.

„Ratloses Rathaus“, las der Gruppeninspektor halblaut eine der Überschriften. „’Aus aller Welt’, ‚Mauschelei’, ‚Das Lindwurm-Geheimnis’ …“

Ogris schüttelte den Kopf. Er hatte geglaubt, dass diese Zettelverteiler mit ihren selbstgestrickten Verschwörungsphantasien inzwischen der Vergangenheit angehörten. Heute hatte doch jeder Mensch Zugriff auf das Internet, da ließen sich Thesen zum bevorstehenden Weltuntergang doch viel effizienter verbreiten.

 

„Seid ihr vom C.S.I.?“

Gruppeninspektor Leopold Ogris schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah mitten in die alkoholgeweiteten Augen eines sensationsgierigen Passanten.

„Was…?“

„C.S.I?“, wiederholte dieser. „Seid ihr vom C.S.I?“

„Gehen Sie nach Hause, Sie stören hier die polizeiliche Ermittlungsarbeit!“

Gruppeninspektor Ogris schob den Mann bestimmt zur Seite, weg vom Tatort.

„Ich wollte nur wissen, ob ihr vom C.S.I seid“, protestierte der Betrunkene, „wie die im Fernsehen!“

„Kann vielleicht jemand den Tatort absperren?“, rief der Gruppeninspektor ungehalten. Oft hatte er das Gefühl, alles selbst tun zu müssen!

Der Betrunkene torkelte in die Nacht davon und brabbelte dabei vor sich hin:

„C.S.I. … C.S.I.-Klagenfurt!“

Gruppeninspektor Ogris sah ihm nach und schüttelte wieder den Kopf. – „C.S.I.-Klagenfurt“! – Er konnte wirklich nur hoffen, dass die Menschheit irgendwann einmal vor dem Fernseher einschlafen und in der Wirklichkeit wieder erwachen würde!

Sonntag, 11 Uhr, Pogatschnigs Wohnung in Waidmannsdorf, Klagenfurt.

 

Das Wesen des Rausches ist seine Unverhältnismäßigkeit. Wenigen Stunden des Höhenfluges folgen viele Stunden körperlicher Reue.

Hubert Pogatschnig konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, ob er zuerst die Augen geöffnet hatte und dann aufgewacht war oder umgekehrt. Er wusste nur, dass sein erster Sinneseindruck ein stechender Kopfschmerz war.

Verdammt! Bier allein hatte nie diese Wirkung auf ihn, es war der verfluchte Schnaps gewesen, den dieser Gerhard gestern Nacht noch hatte ankarren lassen. Der besaß wegen seiner Ost-Geschäfte anscheinend wodka-gestählte Innereien, dagegen waren die bis gestern noch unschuldigen Nieren eines Lebensmittel-Großhandelsvertreters wie Pogatschnig so wehrlos wie die eines Säuglings.

Pogatschnigs Schritte zum Apothekenschrank waren wie ferngesteuert. Ja, Medikamente gegen Kopfschmerzen widersprachen seiner Vorstellung von Männlichkeit: