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Der neue Sonnenwinkel
– Jubiläumsbox 4 –

E-Book: 19 - 24

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-168-1

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Das Geheimnis der Gerda S.

Roman von Michaela Dornberg

In Gedanken hatte sie diese Szene in vielen Jahren mehr als nur einmal durchgespielt, ohne zu denken, dass sie wirklich einmal eintreten würde.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und Gerda versuchte, all ihre Gefühle niederzudrücken. Sie brauchte ihren klaren Verstand, sie durfte sich keine Sentimentalitäten erlauben.

Es gab nur zwei Möglichkeiten, hierzubleiben, sich der Situation zu stellen oder zu gehen.

Sie musste gehen, weil ihr das andere nichts bringen würde, ihr Weg mit Leonie war so oder so zu Ende, dann war es besser, jetzt an sich zu denken.

Sie nahm ein Foto von Leonie in die Hand, wollte es in ihre Tasche stecken, doch dann besann sie sich.

Nichts durfte an ihre Vergangenheit erinnern, sie musste Leonie in ihrem Herzen behalten, und das würde sie. Weiß Gott, das würde sie. Die Zeit mit Leonie war die schönste ihres Lebens, und sie wollte keinen Augenblick davon vermissen.

Sie zwang sich, nicht daran zu denken, wie es hätte sein können, wären sie nicht in diesen Sonnenwinkel gekommen.

Es brachte nichts, sie waren gekommen. Und obwohl sie es hätte verhindern können, war es geschehen. Und sie hatte sich von Anfang an unbehaglich gefühlt.

Sie hatte es gespürt, ohne es wahrhaben zu wollen, dass das das Ende ihrer gemeinsamen Reise war. Vom ersten Tag an hatten Leonie und sie sich voneinander entfernt. Leonie war eingetaucht in ein neues Leben, und sie hatte sich immer mehr zurückgezogen.

Und dann war dieser Mann gekommen!

Es war wie eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen, wie ein Tsunami, wie ein zerstörender Erdrutsch, als der Name Isabella Duncan plötzlich aufgetaucht war. Ein Name, den sie in all den Jahren verdrängt hatte.

Es war ja nicht nur der Name – Leonies plötzliches Interesse für das Klavierspiel, für das sie eine unglaubliche Begabung hatte.

Gerda schloss die Augen. Es war vorbei!

Sie durfte und wollte nicht zurückdenken. Sie ging noch einmal durch das Haus, ignorierte, dass der Kater miauend an der Terrassentür kratzte. Er hatte hier auch nichts mehr verloren. Merkwürdig war schon, dass sie zusammen gekommen waren, dass er am Tag ihres Einzugs aufgetaucht war, wie aus dem Nichts, denn niemand hatte ihn vermisst.

Der Kater musste sich ein neues Zuhause suchen, aber das ging sie nichts mehr an.

Gerda sah sich aufmerksam um, überprüfte den Inhalt ihrer Tasche, dann legte sie den Haustürschlüssel auf den Tisch, weil sie den nicht mehr brauchte, dann ging sie.

Sie hatte Tränen in den Augen, und es zerriss ihr beinahe das Herz. Doch da musste sie jetzt durch. Sie hatte keine andere Wahl.

Als sie das Haus verließ, sah sie sich sorgfältig um, von dem Mann, von dem sie nun wusste, dass er Magnusson hieß, Lars Magnusson, gab es zum Glück keine Spur. Sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen, sie hatte keine Lust auf Konfrontation.

Sie stieg in ihr Auto, ein paar Häuser weiter schwatzten zwei Frauen miteinander, sahen neugierig zu ihr hinüber. Um nicht aufzufallen, grüßte Gerda kurz, dann fuhr sie los.

Sie wusste, es war eine Fahrt ohne Wiederkehr.

Den Sonnenwinkel würde sie, weiß Gott, gewiss nicht vermissen. Doch Leonie …

Sie durfte an sie nicht mehr denken, sie musste so tun, als habe es das Mädchen nie gegeben.

Ehe sie die Siedlung verließ, kam ihr Manuel Münster entgegengeradelt, winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Es war ein netter Junge. Unter normalen Umständen hätte sie es begrüßt, dass ihre Tochter einen so netten Freund hatte, unter normalen Umständen …

Nichts war normal, und nichts mehr würde normal sein.

Sie hatte einen hohen Preis gezahlt. Und es war noch nicht zu Ende. Ihr Leben ohne Leonie würde sehr einsam sein.

Gerda fuhr vorsichtig, hielt sich an die Verkehrsregeln. Sie durfte nicht auffallen!

Sie war froh, endlich auf die Autobahn fahren zu können.

An dem ersten Rastplatz hielt sie an. Er war nicht besucht, kein Auto stand herum, und das war gut so.

Gerda holte aus ihrer Tasche ihren Personalausweis, ihren Reisepass, dann stieg sie aus, ging zu dem nächsten Abfallbehälter, warf beides hinein, und dann nahm sie aus ihrer Jackentasche ein Benzinfläschchen, ein Feuerzeug.

Sie zündete den Behälter an, es begann zunächst zu qualmen, dann kamen Flammen aus ihm heraus.

Gerda ging zu ihrem Auto zurück, wartete, bis alles niedergebrannt und der Behälter verkohlt war.

Niemand würde in den verkohlten Resten herumstochern und nach etwas suchen, sondern glauben, jemand habe den ­Behälter mutwillig und ohne Grund angezündet.

Das mit dem mutwillig stimmte, aber sie hatte einen Grund.

Sie hatte ihre Vergangenheit vernichtet.

Ehe sie endgültig losfuhr, griff sie in ihre Handtasche, holte einen Personalausweis und einen Reisepass heraus.

Sie sah ihr Bild, nur hieß sie jetzt … Beate Möller. Nach der würde niemand suchen.

Welch ein Glück, dass sie vorgesorgt hatte, und welch ein Glück, dass man für Geld alles kaufen konnte. Auch eine neue Identität.

Sie war ein Mensch, sie hatte auch Gefühle, und die gestattete sie sich jetzt. Sie begann zu weinen, denn sie vermisste Leonie jetzt schon. Es würde sehr schwer sein, ohne sie zu leben.

Sollte sie doch umkehren, sich stellen, alles erzählen? Vielleicht kam sie ja glimpflich davon.

Nein!

Es hatte keinen Sinn, Leonie würde sich von ihr abwenden, und das war schlimmer als eine Gefängnisstrafe, das war unerträglich.

Sie wischte sich energisch die Tränen weg, dann beschleunigte sie das Tempo, auf der Autobahn ging das.

Es war ein Weg ohne Wiederkehr.

*

Leonie stieg am Abend aus dem Bus aus. Sie war müde und glücklich. Der Schulausflug war herrlich gewesen, und sie freute sich darauf, ihre Erlebnisse mit ihrer Mami zu teilen. Die Ärmste würde vielleicht sogar ein wenig lächeln, was sie, seit sie im Sonnenwinkel wohnten, verlernt zu haben schien.

Hoffentlich war die Mami nicht ernsthaft krank. Leonie machte sich ganz große Sorgen. Sie hatte doch nur ihre Mami, die war ihre Familie, ihre Freunde waren der Manuel und Hilda. Doch es ging nichts über Familie. Die Mami musste unbedingt zu der Frau Doktor gehen. Ewig konnte man keine Kopfschmerzen haben, immer konnte man nicht müde sein. Da musste etwas dahinterstecken. Und wegen ihrer Krankheit war die Mami manchmal auch so unleidlich, sie hatte sich wirklich sehr verändert, seit sie im Sonnenwinkel lebten, und nirgendwo war es doch so schön!

Auf jeden Fall würde die Mami ganz gewiss gleich ein bisschen lachen, wenn sie ihr so manch lustige Begebenheit vom Schulausflug erzählte. Da waren aber auch ein paar komische Dinge geschehen, und die hatten alles noch schöner gemacht.

Es war wirklich ein herrlicher Tag gewesen, von dem würde Leonie noch lange zehren, denn immerhin war es der erste Schulausflug ihres Lebens.

Leonie rannte die Straße entlang, sie hatte es eilig.

Verwundert bemerkte sie, dass Blacky, ihr schwarzer Kater, vor der Haustür hockte und kläglich miaute. Warum hörte Mami das denn nicht?

Leonie bückte sich, nahm den Kater auf den Arm, der sofort begann, behaglich zu schnurren.

»Bist der Mami wohl entwischt?«, fragte sie. »Ja, ja, das hat man davon, wenn man nicht hört.«

Sie schloss die Haustür auf, trat ein, ließ den Kater vom Arm, der merkwürdigerweise nicht davonstob, sondern an ihrer Seite blieb.

»Mami, ich bin wieder da, und es war ganz toll«, rief Leonie, »und wenn ich dir erzähle, was …«

Leonie brach ihren Satz ab, ein unbehagliches Gefühl beschlich sie, das sie sich nicht erklären konnte. Auch der Kater war anders als sonst.

»Mami …«

Leonie wusste nicht, warum sie so beunruhigt war, ihre Mutter nicht sofort zu sehen. Sie stand nicht immer parat, wenn sie nach Hause kam, dafür war das Haus viel zu groß, und wenn man sich oben aufhielt, wusste man nicht, was unten los war.

Leonie rannte ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Gästebad.

Von ihrer Mutter keine Spur!

Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Treppe hinaufrannte. Ihrer Mami war doch nichts passiert? Schließlich war sie den ganzen Tag weggewesen.

Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Da war nichts, nur der Kleiderschrank war ein wenig verrückt. Im Badezimmer war auch niemand, nicht im Gästezimmer.

War ihre Mami wieder ein wenig sentimental und hielt sich in ihrem Prinzessinnenzimmer auf? Das tat sie manchmal, wenn sie Sehnsucht nach ihr hatte. Ja klar, nur da konnte sie sein.

»Mami, da bin ich wieder.«

Von ihrer Mutter gab es auch hier keine Spur, doch Leonie entdeckte sofort das kleine Babytäschchen und den dicken Umschlag.

Was hatte das zu bedeuten?

Sie blieb wie angewurzelt stehen, traute sich nicht, auf ihr Bett zuzugehen, weil sie wusste, dass das alles nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Ihr Herz schlug wie verrückt, sie merkte, wie sie zitterte, all ihre Freude war wie weggeblasen, Angst beschlich sie.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagestanden hatte, irgendwann lief sie auf ihr Bett zu, öffnete zuerst einmal das kleine Täschchen. Darin fand sie eine winzige Babyrassel und eine goldene Kette, auf der ein Name eingraviert war, den sie noch nie zuvor gehört hatte – ›Claire‹.

Was hatte das zu bedeuten?

Warum hatte sie diese Dinge noch nie zuvor gesehen?

Warum hatte die Mami niemals darüber gesprochen?

Wo war dieses Täschchen mit dem unerklärlichen Inhalt aufbewahrt gewesen?

Vor lauter Fragen wurde Leonie ganz schwindelig.

Irgendwann griff sie nach dem Umschlag, öffnete ihn, begann zu lesen, und dann brach sie stöhnend zusammen. Es durfte alles nicht wahr sein. Man spielte ihr einen bösen Streich.

Sie las den Brief wieder und wieder, es war kein böser Streich, es war die bittere Wahrheit, und Mami war nicht mehr da, um ihr eine Erklärung zu geben.

Mami …

Sie begann bitterlich zu weinen, denn ihre heile Welt war zusammengebrochen, war zusammengestürzt wie ein Kartenhaus.

Was sollte sie jetzt tun?

Ihre Tränen versiegten, sie war wie gelähmt, und nicht einmal Blacky konnte sie trösten, der um ihre Füße strich.

So war es also, wenn man allein war, wenn die Welt in Scherben vor einem lag.

Ganz allmählich begriff sie, dass ihre Mami nicht ihre Mami war, und sie war auch nicht Leonie, sie war Claire. Und es gab eine andere Frau, die ihre leibliche Mutter war.

All das war mehr als ein Mensch aushalten konnte. Sie begann zu begreifen, dass es niemals mehr so sein würde, wie es gewesen war. Es war alles aus und vorbei. Und sie hatte keine Ahnung, was kommen würde.

Ihre heile Welt gab es nicht mehr!

Was sollte sie jetzt tun?

Zu Manuel gehen?

Nein, diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Der arme Manuel hatte seine eigenen Probleme. Was bei den Münsters geschehen war, das war ganz schrecklich.

Aber immerhin hatte man Manuel nicht sein Leben weggenommen. Er war noch immer Manuel, sein Vater noch immer sein Vater, und seine Stiefmutter: Ja, die gab es wirklich, auch wenn die Ärmste jetzt im ­Krankenhaus lag nach diesem schrecklichen Autounfall, den sie durch ihre Raserei selbst verschuldet hatte. Sie hatte ihr ungeborenes Baby verloren, das war schlimm, ihr schnittiger Sportwagen war nur noch ein Haufen Schrott. Wenn man so reich war wie die Münsters, dann konnte man sich leicht einen neuen Sportwagen kaufen, die Verletzungen von Frau Münster würden wieder heilen. Doch ihre eigenen? Sie begann verzweifelt zu weinen, sie hatte niemanden mehr.

Plötzlich richtete sie sich auf. Das stimmte nicht! Warum hatte sie denn nicht an die Frau gedacht, die wie eine Omi zu ihr war? Natürlich! Sie musste zu Hilda, ihrer großmütterlichen Freundin, zu der flüchtete sie sich doch immer, wenn sie Probleme hatte, und Hilda konnte so wunderbar trösten, und sie machte den allerbesten Kakao von der ganzen Welt.

Sie packte das Täschchen und den Brief zusammen, stopfte beides in eine Umhängetasche, dann nahm sie Blacky auf den Arm, lief mit ihm hinunter. Als sie an der Küchentür vorbeikam, begann Blacky zu miauen, sprang von ihrem Arm, lief in die Küche, und da begriff sie, was er wollte. Er hatte Hunger.

»Armer Blacky«, murmelte sie, »du sollst nicht darunter leiden, dass alles so anders ist, so schrecklich.«

Automatisch bereitete sie sein Futter zu, sah, wie gierig er das hinunterschlang.

Sie überlegte, dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde niemals mehr in dieses Haus hier zurückkehren, auch nicht in ihr Prinzessinnenzimmer, das sie gekauft hatten, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Sie war so stolz und glücklich gewesen, doch jetzt spürte sie nichts mehr. Aber Blacky durfte nicht zurückbleiben.

Sie griff nach dem Einkaufskorb, den sie sich immer auf den Gepäckträger klemmte, wenn sie einkaufen ging, weil Mami, nein, die war sie ja überhaupt nicht, nicht in der Lage dazu gewesen war.

Es war schrecklich! Sie war durcheinander! Sie war unglücklich! Es war überhaupt nicht zu beschreiben, was sich in ihr abspielte. Aber Blacky, der konnte nichts dafür. Ahnte der Kater etwas?

Er ließ sich in den Korb setzen, und aus dem sprang er auch nicht, als sie ihn auf den Gepäckträger klemmte. Tiere waren schlau. Blacky wusste, dass das seine einzige Chance war.

Sie redete beruhigend auf ihn ein, und dann radelte sie los.

Sie war den Weg nach Rottenburg so oft geradelt!

Mit einem Gefühl der Vorfreude, wenn sie sich zu Hilda geschlichen hatte, um sich von ihr heimlich Klavierstunden geben zu lassen.

Wenn sie traurig gewesen war, weil sie nicht verstehen konnte, was mit Mami los war, die ihre Mami nicht mehr war.

Ihr Verstand begriff das, doch ein Herz ließ sich nicht einfach abstellen. Sie wusste nicht mit den Gefühlen umzugehen, die in ihr waren, die zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, aber auch Wut und Ärger schwankten.

Sie radelte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Blacky gefiel das nicht, doch er sprang nicht aus dem Korb.

Das machte sie froh, denn Blacky war zu ihnen gekommen, als sie in das wunderschöne Haus gezogen waren, und jetzt ging er mit ihr. Sie hätte ihn wirklich nicht zurücklassen dürfen. Es reichte, wenn man sie zurückgelassen hatte, einfach so, ohne Verantwortungsgefühl, ohne daran zu denken, was das alles mit ihr machte.

Sie konnte nichts dafür, die Tränen verschleierten ihren Blick, und sie riss sich erst ein wenig zusammen, als ein Auto sie anhupte, weil sie urplötzlich bis zur Mitte der Fahrbahn gefahren war.

*

Hilda Hellwig freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend. Sie war ein Krimi-Fan, und heute gab es einen Film der Serie, die sie besonders liebte.

Sie stellte schon mal eine Schale mit Chips zurecht, legte eine Tafel Schokolade in die Nähe, man konnte ja nie wissen. Und dann stellte sie ein Glas bereit und eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Rhabarbersaft, den hatte sie für sich entdeckt. Er war köstlich, und am besten schmeckte er, wenn sie ihn als Schorle mit Mineralwasser verdünnt trank. So war er ihr zu süß.

Es würde ein schöner Abend werden, auf den sie sich freute. Hilda überlegte, ob sie sich nicht schon ihren Schlafanzug anziehen sollte, dann wurde es noch gemütlicher.

Mitten in ihre Gedanken hinein läutete es Sturm.

Sie zuckte zusammen.

Hoffentlich war das nicht ihre Tochter Cornelia, die wieder Geld von ihr haben wollte. Cornelia war ihr einziges Kind, doch manchmal dachte Hilda schon, ob man sie im Krankenhaus damals vertauscht hatte. Dieser Meinung war auch ihr verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, gewesen. Cornelia war an nichts weiter als an Geld interessiert, und wenn Hilda daran dachte, sie ihre eigene Tochter sie sogar bestohlen hatte, wurde ihr noch ganz anders zumute.

Nein, Cornelia sollte es jetzt nicht sein. Sie fühlte sich schlecht, jetzt solche Gedanken zu haben, doch Cornelia hatte dafür gesorgt, dass alle Gefühle für sie gestorben waren. Natürlich würde sie immer für sie sorgen, und Cornelia war auch versorgt, wenn sie mal nicht mehr war. Aber wünschte man sich als Mutter nicht etwas anderes, als nur als Versorgungsanstalt da zu sein?

Es klingelte erneut, diesmal noch heftiger. Es hatte keinen Sinn, sie konnte nicht so tun als sei sie nicht zu Hause. Es brannte überall Licht.

Hilda ging zur Tür öffnete. Sie prallte beinahe zurück, als sie Leonie bemerkte, die völlig verstört vor ihr stand, und es war nicht zu übersehen, dass das Mädchen geweint hatte.

Es musste etwas ganz Schreckliches geschehen sein, es war nicht zu übersehen, dass Leonie geweint hatte, sie war ja vollkommen aufgelöst. Ob etwas mit ihrer Mutter passiert war?, schoss es Hilda durch den Kopf. Das arme Mädchen!

So, wie Leonie augenblicklich drauf war, das war schlimm, das ließ sich nicht mit einem heißen Kakao beheben.

Es war eine Situation, mit der Hilda nur schlecht umgehen konnte. Sie liebte Leonie, und es war für sie unerträglich, die Ärmste so leiden zu sehen.

»Leonie …«, stammelte Hilda, mehr brachte sie nicht über ihre Lippen.

Der Kater sprang von Leonies Arm, huschte blitzschnell ins Haus hinein.

Eigentlich mochte Hilda keine Katzen, als Haustiere waren ihr Hunde lieber, wenn überhaupt. Wenn man sich ein Tier anschaffte, dann musste man sich klar darüber sein, dass es kein Spielzeug war, das man irgendwann einfach in die Ecke stellen oder entsorgen konnte. Ihr war die Verantwortung zu groß.

Hilda sagte jedoch nichts. Leonie hatte gewiss ihre Gründe dafür, warum sie ihre Katze mitgebracht hatte. Blacky hieß er wohl, erinnerte Hilda sich, und Leonie liebte den ihr zugelaufenen Kater.

Leonie sagte auch nichts, sondern warf sich wie eine Ertrinkende in Hildas Arme, klammerte sich verzweifelt an ihr fest und begann, hemmungslos zu schluchzen.

Um Gottes willen!

Leonies emotionaler Ausbruch machte Hilda Angst. Sie hatte das Mädchen schon traurig, betrübt, unglücklich erlebt, so jedoch noch nie.

Hilda streichelte ein wenig hilflos beruhigend den Rücken des verzweifelten Mädchens, doch es dauerte eine ganze Weile, ehe das Schluchzen verebbte.

Endlich konnte Hilda eine Frage stellen. »Leonie, was ist geschehen?«

Hätte sie das bloß nicht getan. Sofort löste diese Frage bei Leonie einen erneuten Tränenschwall aus, der zarte Mädchenkörper wurde vor Erregung geschüttelt.

Hier draußen konnten sie nicht bleiben. Hilda führte die willenlose Leonie ins Wohnzimmer, drückte sie aufs Sofa, setzte sich daneben, und dann ergriff sie Leonies kalte, schlaffe Hand, streichelte sie behutsam und wartete, bis das Schluchzen verstummt war.

Hilda überlegte kurz, dann erkundigte sie sich leise: »Leonie, Liebes, willst du jetzt mit mir reden über das, was dich so aus der Bahn geworfen hat?«

Leonie zitterte, schluchzte kurz auf, riss sich zusammen, dann nahm sie wortlos die Babytasche aus ihrem Beutel, reichte sie Hilda, die ein wenig verwundert war. Was sollte sie damit? Dieses kleine, unscheinbare Täschchen konnte unmöglich an Leonies Ausbruch die Schuld tragen.

»Hilda, sieh bitte hinein.«

Das tat Hilda.

Sie fand in dem Täschchen eine kleine Babyrassel und eine goldene Kette. Auf dem Anhänger stand der Name ›Claire‹. Es war ein wunderschöner Name, weich und klangvoll, kein Grund, sich deswegen zu erregen.

»Ich weiß damit nichts anzufangen«, Hilda war verunsichert, »was bedeutet das?«

Es folgte ein tiefer Seufzer, dann kam ein: »Claire, das bin ich.«

»Ach so, Claire ist dein zweiter Name, du heißt also Leonie-Claire. Das klingt wunderschön, doch deswegen bist du ja wohl nicht so aufgeregt, oder?«

Leonie weinte erneut, Hilda nahm sie wieder in die Arme, drückte sie fest an sich, sprach beruhigend auf sie ein.

Allmählich hörte das Weinen auf, Leonie-Claire griff erneut in die Tasche und reichte Hilda einen dicken Briefumschlag, der bereits sehr mitgenommen aussah, er war zerknautscht, die Tränenspuren darauf waren nicht zu verkennen.

»Lies das bitte«, sagte das Mädchen dumpf, »dann wirst du alles verstehen.«

Hilda Hellwig zögerte, den Brief aus dem Umschlag zu ziehen, sie ahnte, dass in diesem Umschlag des Rätsels Lösung lag, und das war etwas, was das arme Ding in allen Grundfesten erschüttert hatte.

Sie spürte den Blick des Mädchens auf sich gerichtet, da gab sie sich einen Ruck, zog die eng beschriebenen Blätter aus dem Umschlag. Dabei zitterte ihre Hand.

Sie holte tief Luft, dann begann sie zu lesen. Das ging nicht an einem Streifen, sie musste zwischendurch eine Pause einlegen, denn es war ungeheuerlich, es war erschütternd, was sie da lesen musste. Manche Passagen musste sie ein zweites Mal lesen, weil sie glaubte, dass sie da etwas missverstanden hatte. Sie hatte es nicht.

Der Text des Briefes verschlug einem den Atem.

Sie war außer sich, sie merkte, wie ihr Herz stärker schlug, sie merkte, dass sie feuchte Hände bekam.

Sie war außer sich, wie musste es da in dem armen, armen Mädchen aussah. Hilda wollte etwas Tröstendes sagen, doch sie bekam kein einziges Wort heraus. Welche Worte sollte man denn auch finden? Ihr fielen keine ein.

Hilda legte mit zitternden Fingern den Brief auf den Tisch, dann wandte sie sich ihrer Besucherin zu, nahm sie ganz fest in ihre Arme, hielt sie liebevoll umfasst, eine ganze Weile.

Es war Leonie, die eigentlich Claire hieß, die zuerst anfing zu sprechen.

»Hilda, ich habe eine solche Angst. Man wird mich in ein Heim sperren, vielleicht komme ich auch in ein Gefängnis, denn wir haben ja illegal gelebt.«

Sie musste jetzt die richtigen, die überzeugenden Worte finden, damit das Mädchen nicht wieder anfing zu weinen.

Hilda schickte ein Stoßgebet gen Himmel, jetzt bloß die richtigen Worte finden!

»Du kommst nirgendwo hin, mein Herz, du bleibst bei mir, und ich regele alles für dich. Ich bleibe bei dir, solange du es haben möchtest, ich bleibe bei dir, wohin du auch gehst.«

»Versprochen?«, wisperte Leonie-Claire.

»Versprochen, ich schwöre es. Und ich schwöre dir auch, dass dir nichts passieren wird, wenn, dann nur über meine Leiche.«

Diese Worte überzeugten Leonie-Claire: »Ich möchte, dass wir für immer zusammen sein werden, Hilda, kannst du mir das auch versprechen?«

Hilda wunderte sich über sich selbst, sie wuchs über sich hinaus.

»Wenn du es willst, dann bleiben wir für immer zusammen«, versprach sie.

Das Mädchen kuschelte sich enger, vertrauensvoll an sie.

»Das ist gut, mit dir habe ich keine Angst, ich wusste sofort, dass du so etwas wie eine Omi für mich bist, die ich mir immer gewünscht habe, und die ich leider nicht hatte.«

Vielleicht hatte sie die ja sogar, noch wusste man nicht viel über die Familie. Aber das war Hilda im Augenblick gleichgültig. Sie hatte immer eine Omi sein wollen, sie genoss es, die Rolle spielen zu dürfen.

»Liebes, hast du eigentlich schon etwas gegessen?«, wollte Hilda wissen.

Ein Kopfschütteln war die Antwort.

»Dann wird es höchste Zeit, dass du etwas zu dir nimmst. Auch wenn alles ganz schlimm ist, darf man das Essen nicht vergessen. Was hältst du von Spaghetti?«

Die konnte man immer essen, egal, wie man auch drauf war.

Die Kleine nickte, und Hilda fragte sich, wie sie das Mädchen nun anreden sollte, Leonie ging ja wohl nicht mehr, doch Claire, das war fremd. Ein ganz schönes Durcheinander.

Blacky kam aus einer Ecke hervor.

»Und was bekommt dein Kater?«, wollte Hilda wissen. Er war nun mal da und konnte nichts für den ganzen Schlamassel.

»Den habe ich noch gefüttert, aber darf ich mit dir in die Küche kommen? Ich mag jetzt nicht allein sein, und danke, dass ich bei dir bleiben darf. Ich habe nur noch dich. Und, nicht wahr, Hilda-Omi«, wie selbstverständlich kam das über die Lippen des Mädchens, »solange ich bei dir bin, da muss ich keine Angst haben.«

Hilda war so gerührt, dass sie spontan ihre Arme ausbreitete, Leonie-Claire presste sich schutzsuchend an sie. Die Kleine kam Hilda vor wie ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Und irgendwo stimmte der Vergleich ja auch. Sie strich dem Mädchen übers Haar, über den Rücken.

»Du musst keine Angst mehr haben, mein Herzchen, alles wird gut.«

Wie das funktionieren sollte, wusste Hilda nicht. Es war eine Situation, die sie noch nie erlebt hatte, doch mit den Herausforderungen wuchsen auch die Kräfte. Und gab es nicht immer einen Ausweg?

Sie legte einen Arm um die Kleine, dann gingen sie gemeinsam in die Küche, gefolgt von dem Kater, und Hilda stellte fest, dass es überhaupt nicht unangenehm war, so ein Tier um sich zu haben …

*

Vor lauter Erschöpfung und Stress schlief Leonie-Claire, Hilda hatte beschlossen, sie erst einmal so zu nennen, sehr schnell ein. Doch sie selbst konnte keinen Schlaf finden. Die Geschichte ließ sie nicht los. So etwas las man normalerweise in Romanen und zweifelte an der Glaubwürdigkeit. Es real zu erleben, das war wirklich unfassbar. Wie sollte alles weitergehen?

Natürlich würde das Mädchen bei ihr bleiben, aber auf ewig ging das nicht. Sie wusste nicht, ob sie jetzt die Polizei einschalten musste, ob es eine Möglichkeit gab, sich mit Isabella Duncan in Verbindung zu setzen. Das wäre gut, aber wahrscheinlich ging es nicht ohne Polizei, es handelte sich schließlich um eine Straftat.

Hildas Gedanken drehten sich im Kreis. Je länger sie über alles nachdachte, umso unruhiger wurde sie. Sie fühlte sich durch die ganze Situation überfordert. Sie war nicht mehr die Jüngste, und abgesehen von dem Ärger mit ihrer Tochter, war ihr Leben immer gerade verlaufen.

Hatte sie zu vollmundig zu vieles versprochen, was sie nicht halten konnte?

Das arme Mädchen hatte man furchtbar enttäuscht, sie hatte jegliches Vertrauen verloren. Sie durfte sie nicht auch noch enttäuschen.

Was also sollte sie tun?

Hilda hatte keine Ahnung. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, sie trank heiße Milch mit Honig. Nichts half!

Irgendwann, der Morgen zeigte sich bereits am Himmel, als ihr eine rettende Idee kam. Warum war sie denn nicht sofort darauf gekommen?

Ja, das war es, sie musste mit Frau Dr. Steinfeld reden, die war nicht nur eine fantastische Ärztin, sondern eine kluge, besonnene Frau für alle Lebenslagen.

Jetzt war Hilda beruhigt, und sie konnte sogar noch ein wenig schlafen, doch nicht lange, sie musste die Frau Doktor erreichen, ehe sie mit der Sprechstunde begann.

Hilda stand auf, zog sich an, kochte sich einen starken Kaffee, dann setzte sie sich an den Tisch und beobachtete die Zeiger ihrer Küchenuhr, die sich viel zu langsam fortbewegten.

Sieben Uhr …, nein, das war wirklich zu früh, sieben Uhr dreißig …, ja, da konnte man es wagen, da war sie bestimmt bereits aufgestanden.

Hilda wählte ihre Nummer, die sie auswendig kannte, und die Frau Doktor meldete sich sofort.

Hilda war so aufgeregt, dass sie nicht die richtigen Worte finden konnte, sie stammelte etwas von Notfall, dass sie die Frau Doktor unbedingt sprechen müsse. Nein, nein, mit ihr sei nichts, alles sei viel schlimmer.

Roberta mochte die alte Dame, doch was die da alles erzählte, das klang einfach ein wenig zu konfus.

»Frau Hellwig, bitte bleiben Sie ganz ruhig, ich setze mich jetzt in mein Auto und komme sofort zu Ihnen, einverstanden? Und dann können Sie mir in aller Ruhe alles erzählen.«

Hilda wollte noch etwas sagen, brachte vor lauter Aufregung kein vernünftiges Wort heraus und bedankte sich schließlich nur noch dafür, dass die Frau Doktor kommen würde.

Als das Telefonat beendet war, bekam Hilda ein schlechtes Gewissen, doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Schließlich war sie so etwas wie ein Notfall!

Hoffentlich wachte die Kleine nicht auf, es war besser, sie sprach erst einmal allein mit der Frau Doktor, zeigte ihr diesen ungeheuerlichen Brief.

Sie trank die zweite Tasse Kaffee, wurde noch aufgeregter, dann begann sie eine unruhige Wanderung durchs Haus, und schließlich stellte sie sich in die Haustür, damit die Frau Doktor nicht klingeln musste.

Hilda stellte sich auf eine Wartezeit ein, doch das war überhaupt nicht nötig, die Frau Doktor kam viel schneller als erwartet, sie musste geflogen sein.

Schon als Hilda die Ärztin sah, wurde sie ruhiger, sie wusste, dass jetzt alles gut wurde.

Roberta stieg aus ihrem Auto, griff nach ihrer Arzttasche und kam auf Hilda zugelaufen. Die war blass, wirkte aufgeregt, aber nicht wie ein Notfall.

Ehe Roberta Fragen stellen konnte, bat Hilda sie in ihr Wohnzimmer, sie bat die Ärztin, sich zu setzen, dann reichte sie ihr den Umschlag mit dem verhängnisvollen Brief.

»Bitte, Frau Doktor, lesen Sie das.«

Das klang so eindringlich, dass Roberta keine andere Wahl hatte, als den Brief aus dem Umschlag zu nehmen. Sie faltete die Blätter auseinander, dann begann sie zu lesen.

»Leonie, mein geliebtes Mädchen, ich wünschte mir von ganzem Herzen, du müsstest diesen Brief niemals lesen.

Doch wenn das der Fall ist, dann bin ich nicht mehr bei dir, dann ist unser gemeinsamer Weg zu Ende, für mich die schönste Zeit meines Lebens. Du hast Licht, Glück, Sonne und unendlich viel Liebe in mein Leben gebracht.

Und ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll.

Es ist aufgeflogen, man weiß Bescheid.

Du bist die Tochter von Isabella Duncan, der weltberühmten Pianistin, und du wurdest entführt.

Doch mit dieser Entführung habe ich nichts zu tun.

Du kamst zufällig auf meinen Weg, und für mich war es ein Geschenk des Himmels.

Als ich dich fand, im buchstäblichen Sinn des Wortes, da war ich am Ende, und ich dachte sogar über einen Suizid nach. Mein Freund hatte mich verlassen, ich hatte meine Arbeit verloren, die Wohnung konnte ich mir nicht mehr leisten. Ich musste alles verkaufen, was sich zu Geld machen ließ, mit den mir verbliebenen Habseligkeiten, die alle in mein klappriges Auto passten, fuhr ich los, zunächst ziellos, dann Richtung Norden. Ich wollte zu einer alten Freundin, von der ich mir Hilfe erhoffte.

Ich verfuhr mich. Als ich einen entlegenen Bauernhof entdeckte, fuhr ich hin, um mich nach dem Weg zu erkundigen.

Ich entdeckte zwei tote Männer auf dem Hof, einen dritten Toten in einem Auto, in dem ein Baby ganz kläglich weinte. Und ich entdeckte noch etwas. Eine Tasche voller Geld.

Ich versuchte, auf dem Hof jemanden zu finden, da war niemand, es gab nur die Toten, das Baby und das Geld. Für mich war es ein Fingerzeig des Himmels.

Ich nahm das Baby, das Geld, dann ging ich zu meinem Auto zurück und fuhr los.

Dass es Unrecht war, darüber dachte ich nicht nach. Ich hatte mich immer nach einem Kind gesehnt, und nun hatte ich es, und das Geld, es war mehr, als man für das Leben brauchte.

Wenn man Geld hatte, konnte man alles mühelos erreichen, man bekam auch Papiere. Aus mir wurde Gerda Schulz, und auch meine Tochter Leonie wurde rechtmäßig in meinem Pass eingetragen.

Es war so einfach.

Natürlich las ich von der Entführung und der Lösegeldzahlung, von den verzweifelten Aufrufen von Isabella Duncan. Sie tat mir leid, einen Moment lang dachte ich daran, den Sachverhalt aufzuklären.

Dann war das süße Gift der Versuchung einfach zu groß. Diese Frau konnte alles wieder haben, aber ich nicht.

Sie war schön, sie war berühmt, sie hatte Geld im Übermaß.

Nein, es ging nicht, diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen, das Schicksal hat mich auf diesen Hof geführt, und ich wollte endlich auch ein Stück von dem großen Kuchen haben.

Du heißt Claire, aber so konnte ich dich nicht nennen, um nicht aufzufliegen.

Was ich getan habe, das war nicht richtig. Und ich bitte dich, mir zu verzeihen.

Ich habe dir all meine Liebe gegeben, und ich habe alles getan, um dich zu einem ordentlichen Menschen zu erziehen.

Mein Liebling, ich wünsche dir viel Glück, möge Gott auf all deinen Wegen sein.

In Liebe.«

Der Brief war nicht unterschrieben, was hätte diese Frau auch schreiben sollen, deine Mama?

Roberta legte den Brief beiseite, sie war erschüttert. Wie hatte sie sich in dieser Gerda Schulz so täuschen können. Und insgeheim bat sie Abbitte. Sie war verärgert gewesen, hatte Verschwörungstheorien vermutet, dabei war Lars auf der richtigen Spur gewesen. Roberta war sich sicher, dass er diese Frau mit seiner Beharrlichkeit aus der Reserve gelockt hatte.

Was sie getan hatte, das war durch nichts zu entschuldigen.

»Diese Frau muss von der Polizei verhaftet werden. Auch wenn sie das Mädchen nicht entführt hat, sie wusste, wohin das Baby gehörte und hat eiskalt Geld und das Baby genommen und viel, viel Unglück über die leibliche Mutter gebracht.«

Hilda war ganz resigniert.

»Diese Person hat sich längst aus dem Staub gemacht und hat das arme Mädchen eiskalt zurückgelassen, genauso eiskalt, wie sie es an sich genommen hatte.«

»Wir müssen dennoch die Polizei einschalten, und wenn es Ihnen recht ist, dann sofort. Aber lassen Sie mich noch etwas tun, ich rufe meine Frau Hellenbrink an, die soll die Patienten der Vormittagssprechstunde anrufen und absagen, und die unangemeldet kommen, soll sie für den Nachmittag bestellen.«

So war die Frau Doktor!

Sie wusste es und sagte dennoch: »Aber Frau Doktor, das geht doch nicht.«

»Doch, liebe Frau Hellwig, es geht. Oder soll ich Sie mit allem allein lassen?«

Oh Gott, nein!

Sie sprach es nicht aus, aber ihrem Gesicht war wohl anzusehen, dass sie alles überforderte.

Roberta lächelte beruhigend.

»Sehen Sie, Frau Hellwig, nun lassen Sie mich mal machen. Wenn Sie allerdings für mich einen Kaffee hätten, das wäre ganz wunderbar.«

Na klar, sie hatte die Frau Doktor bestimmt vom Frühstückstisch weggeholt, wie peinlich.

Sie stand auf. »Ich hole Ihnen den Kaffee, wie immer nur schwarz?«

Roberta nickte.

Ehe Hilda den Raum verließ, sagte sie: »Frau Doktor, mir fällt ein Stein vom Herzen, wie schön, dass Sie da sind. Nun weiß ich, dass alles gut wird, alles wird gut, was Sie in die Hand nehmen.«

Sie ging, und Roberta blieb ein wenig verlegen zurück. Sie konnte wirklich nicht mit Lob umgehen, weil für sie alles ganz selbstverständlich war, was sie tat.

Das war schon ein Ding, was ihr Lars da aufgedeckt hatte. Wäre er mit seiner Spürnase, mit seiner Beharrlichkeit nicht gewesen, hätte diese Gerda Schulz weiter ihr Unwesen treiben können, und sie wäre weiter unentdeckt geblieben, eine Mutter hätte sich weiterhin die Augen ausgeweint, und ein heranwachsendes Mädchen hätte weiterhin keine eigene Identität gehabt.

Roberta war wütend, doch das durfte sie jetzt nicht sein, sie brauchte ihren klaren Verstand. Zuerst rief sie Ursel Hellenbrink an, auf die sie sich hundertprozentig verlassen konnte, dann wählte sie die Nummer der Polizei, ließ sich mit der Kriminalpolizei verbinden, denn die war in diesem Fall zuständig.

*

Während sich um Claire, wie sie jetzt auch genannt werden wollte, die Ereignisse überschlugen, ging das Leben weiter.

Roberta durfte ihre Patienten nicht vernachlässigen, und so hatte sie mehr Arbeit als gewöhnlich und konnte ganz froh sein, dass Lars mit seinen Kapiteln beschäftigt war, die er unbedingt vor seiner Abreise in die Arktis abgeben musste.

So sehr sie ihn liebte, so gern sie mit ihm zusammen war, viel Zeit hatte sie nicht. Denn obwohl Hilda Hellwig sich rührend um das Mädchen kümmerte, musste auch sie ein Auge auf Claire haben. Eigentlich müsste die jetzt psychologisch betreut werden, doch das wollte sie um keinen Preis, also musste sie das übernehmen. Sie tat es gern, denn Claire durfte jetzt auf keinen Fall einen seelischen Schaden erleiden.

Ach, ihr Lars, der war wirklich ein unglaublicher Mann. Er fühlte sich bestätigt, und eigentlich hätte er jetzt triumphieren können, weil er es gewesen war, der alles ins Rollen gebracht hatte. Nichts davon. Da war er in seinem Job ähnlich wie sie in ihrem, über Selbstverständlichkeiten sprach man nicht.

Heute wollte Roberta nach einem anstrengenden Tag noch mal bei Sophia von Bergen vorbei. Die ersten Tage waren um, sie musste mit ihr die neue Dosierung der Pillen aus Amerika abstimmen, vor allem wollte sie wissen, ob sie überhaupt das Resultat brachten, das Roberta sich erhoffte.

Und einen Blick auf die arme Angela wollte sie auch werfen. Die war medikamentös versorgt, auch die drei Helferinnen sorgten für deren leibliches Wohl, was selbstverständlich war, da sie sich doch um Sophia kümmerten. Die Schmerzen konnte sie Angela nicht nehmen, sie konnte sie lindern. Und das tat Roberta.

In das Haus von Sophia von Bergen konnte Roberta zu Fuß gehen, und sie atmete tief die frische Luft ein und beeilte sich nicht, um recht viel davon zu haben.

Es hatte ganz schön viele Turbulenzen gegeben, und sie durfte den Patienten nicht immer nur predigen, sie sollten auf sich aufpassen. Sie musste es auch tun. Sie war ebenfalls nur ein Mensch, und manchmal überholte sie sich wirklich selbst in der Kurve.

Roberta hatte das Haus erreicht. Es war eines der Häuser, die Carlo von Heimberg gebaut hatte, die zu der Siedlung gehörten, für die er bereits mehrere Preise bekommen hatte.

Der Sonnenwinkel …

Ein Ort, der die heile Welt verkörperte, doch das nur scheinbar. Alles war einem Wandel unterworfen, auch hier lagen Freude und Schmerz beieinander. So war es halt, das Leben.

Vor ihr hatte Enno Riedel, ihr alter Studienfreund, hier praktiziert.

Vor Sophia von Bergen und Tochter hatte es einen Vorbesitzer des Hauses gegeben, Ricky und Fabian Rückert waren am Anfang ihrer Ehe hier glücklich gewesen, waren weggezogen, hatten es vermietet. Und vor der angeblichen Gerda Schulz und ihrer Tochter hatte es Vormieter gegeben, und nun würde es Nachmieter geben.

Oben auf dem Herrenhof, wo die Menschen lebten, die viele Leute glühend beneideten, herrschte auch nicht eitel Sonnenschein. Carlo Heimberg, der zweite Ehemann von Marianne von Rieding, der Erbauer der Siedlung, war krank und hatte unglaubliche Probleme damit, nicht mehr so zu können, wie er wollte.

Und Sandra Münster hatte sich mit ihrem Sportflitzer, weil sie den Geschwindigkeitsrausch liebte, um einen Baum gewickelt. Das Auto war Schrott, sie hatte zum Glück überlebt, doch sie hatte kurz vor der Geburt ihr Baby verloren.

Und das waren nur ein paar Beispiele. Auch im Sonnenwinkel blieb die Uhr nicht stehen, und auch hier lagen Glück und Leid dicht beieinander.

Roberta hatte das Haus ihrer Patientin erreicht, lief durch den Vorgarten, den Angela sehr liebevoll und geschmackvoll gestaltet hatte, ging zur Eingangstür, die vorher ziemlich protzig gewesen war. Die hatte man ausgewechselt gegen ein schlichtes Modell.

So war es halt, warum sollten Veränderungen vor der Haustür Halt machen?

Sie klingelte, drinnen näherten sich energische Schritte, und dann stand sie Teresa von Roth gegenüber.

»Hallo, Frau Doktor, heute haben Sie nur eine Patientin zu besuchen. Angela schläft, und ich glaube, wir sollten die Ärmste schlafen lassen. Sie bekommt ja kaum ein Auge zu, und ich bin überzeugt davon, dass sie Schmerzen hat, aber die können auch nicht kleiner werden, wenn sie sich immerfort Sorgen um ihre Mutter macht. Dabei haben wir doch alles im Griff, Sophia fehlt es an nichts. Gerade haben wir mit ihr zu Abend gegessen, Magnus ist eben gegangen, und ich sorge dafür, dass für die Nacht alles vorbereitet wird. Warum hört Angela nicht auf, sich zu sorgen? Ihre Krankheit kommt ja vom Stress.«

»Stress kann unter anderem ein Auslöser sein, dieser Zoster, wie man die Gürtelrose kennt, kann viele Ursachen haben, neben Stress kann es ein geschwächtes Abwehrsystem sein, dieser Virus, der in jedem schlummert, der mal die Windpocken hatte, kann Jahrzehnte in Lauerstellung liegen, um dann zuzuschlagen, wenn eine Schwäche da ist, die, wie gesagt, alle möglichen Ursachen haben kann. Bei meinem nächsten Besuch werde ich mir Frau Halbach noch einmal vornehmen, eindringlich mit ihr reden. Es ist schön, Frau von Roth, dass Sie sich so selbstverständlich kümmern.«

Teresa winkte ab.

»Wäre es umgekehrt, ich bin überzeugt davon, Sophia würde es auch für mich tun. Es ist schön, dass sie in den Sonnenwinkel gezogen ist. Mit ihr können Magnus und ich über alte Zeiten plaudern, über unser früheres Leben in einem völlig anderen Landstrich. Wir haben eine Vorstellung von unserer alten Heimat, wir haben dort gelebt, hatten eine wundervolle Jugend, waren glücklich, bis …«

Sie brach ab.

»Was soll es, die Vergangenheit ist tot, man kann sie nicht zurückholen, doch manchmal ist es einfach nur schön, sie kurz wieder heraufzubeschwören. Sophia ist im Wohnzimmer, wenn etwas sein sollte, ich habe in der Küche zu tun.«

Sie nickte Roberta zu, dann entfernte sie sich, eine stolze, hochgewachsene alte Dame. Roberta mochte die von Roths sehr gern, nicht nur die, auch die Auerbachs gehörten zu den Menschen im Sonnenwinkel, die sie besonders mochte, und ja, Angela Halbach und Sophia von Bergen mochte sie auch sehr, obwohl die noch nicht lange hier wohnten.