Cover

 

 

 

 

Eva & Roland Zingerle

Amazonas-Geschichten

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

 

Teil 1: Puerto Esperanza

Wie es dazu kam

Das Pueblo

Die Gringa zieht ein

Dorfleben

Kindersegen und Kirche

Das Froschkind

Lucy

Der Tunchi

Viechereien

Verdammter Tierfang

Ökologie

Frauengespräche am Fluss

Don Antonio Revalo

Die Staatspolizei

Der reiche Ranchero aus Brasilien

Mila

Depressionen

El Diablo?

Der Chullachaqui

Der Schlangenbiss

Tiere für das Dorf

Der große Regen

Ein Paket aus Österreich

Paradies mit Fehlbesetzung

Don Juan

Familien

Sonnenstunden

Ayahuasca

Schamanen

Zum Fischen an den Rio Pintuyacu

Diebstahl

Sozialer Ausgleich?

Andina

Rinderkäufer

Ein Festmahl im Urwalddorf

Missionarin auf schiefer Bahn?

Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Über Piranhas und Anakondas

Trockenzeit und Auszug aus dem Paradies

 

Teil 2: Iquitos

Neubeginn in Iquitos

Tomas oder die verdammte Zivilisation

Bildungswesen

Oskar

Die Schlange im Bauch

Geheimnisse um Quisto Cocha?

Der Weihnachts(b)engel

Ninette

Aufregung im Eisernen Haus

Das Erbe im Grab

Das Glücksschwein

Die High Society von Iquitos

Jacinta

Kurierte schlechte Laune

Amazonasfahrt

Sprachfehler

 

Anhang

Lebenslauf Eva Zingerle

Geografischer Überblick

Iquitos: ein geschichtlicher Abriss

Glossar

Impressum

Einleitung

 

Die vorliegenden Geschichten entstammen den Aufzeichnungen meiner Tante Eva Zingerle aus den Jahren 1989 bis 2002. Sie verfasste sie als Berichte für ihre Verwandten und Freunde in Mitteleuropa. Allerdings war es auch immer ihr Wunsch, diese Geschichten in Buchform publiziert zu sehen, was sich bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 jedoch nicht verwirklichen ließ. Das E-Book „Amazonasgeschichten“ ist somit eine Quasi-Wunscherfüllung – wenn auch posthum.

 

In den letzten siebzehn Lebensjahren meiner Tante war Spanisch ihre Alltagssprache, was die Art beeinflusste, wie sie in Deutsch schrieb. Ihre Sätze wirken dadurch zum Teil seltsam verdreht und Wörter wie „aber“, „eben“ oder „dann“ kommen sehr oft vor und passen nicht immer. Auch Bezeichnungen wie „Kleider“ für „Bekleidung“ und Ähnliches wirken heute anachronistisch, aber die Generation meiner Tante sprach bzw. schrieb nun einmal so. Ebenso wenig darf verwundern, wenn einige der angeführten Fakten heute nicht mehr stimmen und diverse Anschauungen unzeitgemäß wirken, immerhin ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel passiert.

Beim Überarbeiten der Texte für die Publikation war es mir wichtig, diese so authentisch wie möglich zu belassen, da ihre Art zu schreiben viel von der Persönlichkeit meiner Tante transportiert. Korrekturen nahm ich dort vor, wo der Inhalt verwirrend oder unverständlich vermittelt wurde, außerdem gab ich dem Gesamtwerk einen chronologischen Aufbau, um ihn flüssiger lesbar zu machen.

 

Weiterführende Informationen sind im Anhang angeführt. Dieser beinhaltet einen Lebenslauf von Eva Zingerle, einen geografischen Überblick über die peruanische Amazonasprovinz Loreto, einen kurzen geschichtlichen Abriss der Stadt Iquitos sowie ein Glossar der häufigsten fremdsprachlichen Begriffe, die bei ihrer ersten Nennung im Text in Klammern erläutert werden.

 

Roland Zingerle

Klagenfurt am Wörthersee, im Mai 2018

 

 

Teil 1:

Puerto Esperanza

Wie es dazu kam

zum Inhaltsverzeichnis

 

Heuer haben wir das Jahr 2002. Ich bin Österreicherin und lebe seit vierzehn Jahren hier am Amazonas. Es war kein Zufall, dass ich diese Provinz wählte.

 

In den 1960er-Jahren arbeitete ich für einige Jahre in Lima und flog im Urlaub 1966 das erste Mal nach Iquitos, der peruanischen Urwaldstadt am Amazonas.

Der Flughafen bestand aus einer alten Baracke und Einheimische boten lebende Papageien, Äffchen, Nasenbären und andere Wildtiere damals noch am Flugfeld zum Verkauf an. Es war die Zeit, in der hunderttausende Tiere ihren Weg in die Gefangenschaft fanden, es gab damals keine entsprechenden Schutzgesetze.

Dann waren da noch die Leute. Besonders liebenswürdige Einheimische, immer freundlich, ruhig, tolerant und hilfsbereit.

Selten flog ein Flugzeug pünktlich ab, denn die Crew benutzte den Aufenthalt, um Einkäufe in der Stadt zu machen, und sie verspätete sich regelmäßig dabei. Iquitos war zwar eine betriebsame Stadt, aber alles war gemütlich und die Leute freundlich.

Von Iquitos aus machte ich dann Ausflüge im Boot und war beeindruckt und begeistert. Nicht nur der Amazonas selbst, vor allem im Hochwasser der Regenzeit war es überwältigend, wenn man mit dem Boot durch die überfluteten Urwaldgebiete fahren konnte, an Baumkronen vorbei, Bromelien und Orchideen in Augenhöhe. Vor allem die kleinen Nebenflüsse und die Fahrten im Kanu zu den Urwaldseen liebte ich sehr. Dort wuchsen an den Ufern in Hülle und Fülle die zartblauen Wasserhyazinthen, die Bäume waren voll mit Lianen und großen, saftigen Schmarotzerpflanzen, die bei uns in Europa in den Fenstern so dahinkümmern, hier aber zu riesigen Pflanzen heranwachsen. Immer wieder flatterten schillernde Schmetterlinge leicht vorbei, all dies von unerhörter Schönheit.

Dazu kam die Stille, kaum unterbrochen von einem schnappenden Fisch, dem Schrei eines Vogels oder dem fast unhörbaren Eintauchen eines Krokodils, das vom Nahen unseres Bootes gestört wurde.

Ein Gefühl von Ruhe und Frieden überkam fast alle bei diesen Fahrten, es schien fast, als ob man durch Zufall wieder ein Paradies entdeckt hätte.

 

In den darauffolgenden Jahren kam ich immer wieder mal hierher, ich war einfach fasziniert vom Urwald.

In Iquitos entstand ein neuer Flugplatz, die Flüge waren (beinahe) pünktlich, der Urwald rückte durch die Rodungen weiter weg von der Stadt, es gab dann viele Autos, Fernsehen und Discos tauchten auf, aber es blieb gleich aufregend und die Leute in der Stadt gleich freundlich.

Zurückgekehrt nach Europa, wenn Stress und Probleme bei der Arbeit oft übermächtig wurden, tauchte in meinen Wunschträumen immer wieder ein Leben in Frieden und Ruhe im Amazonasurwald auf. Allein die Vorstellung, dass es dort Leute gab, die einen anlächeln auf der Straße, auch wenn sie einen nicht kennen, war schon ein Plus.

 

Ende der 1980er-Jahre, nach meiner Pensionierung, übersiedelte ich nach Peru. Ich lebte zunächst in Lima, wo ich mich mit sechzig Jahren erstmals verheiratete. Doch die Ehe war nur von kurzer Dauer, denn mein Mann verstarb an Krebs. Frisch verwitwet flog ich mit einer Freundin wieder nach Iquitos und entschloss mich spontan, hierzubleiben.

Ich mietete ein Haus in einem der Armenviertel und machte im neuen Flughafen einen Souvenirladen auf. Doch immer mehr festigte sich in mir der Gedanke, über kurz oder lang in den Urwald zu ziehen und ich schaute mich dahingehend um. Ich wollte einmal weg von allem, in Frieden leben – nicht, weil ich von der Zivilisation enttäuscht war oder Kummer hatte, nein: einfach nur mal aussteigen, auch wenn meine Familie und Freunde verständnislos den Kopf darüber schüttelten. In meinem Alter tat man so was einfach nicht mehr.

 

Ich fand Leute, die mich begleiten wollten. Lucy war mein Hausmädchen und ihr Mann Manuco verstand etwas von Landwirtschaft. Lucy sollte mir auch im Urwald im Haus helfen und Manuco sollte für sich mit meiner finanziellen Hilfe eine Landwirtschaft aufbauen und mir meine Unkosten mit den Ernten zurückbezahlen.

Schließlich fand ich in Puerto Esperanza, einem kleinen Dorf am Rio (Fluss) Momon, meine neue Heimstätte.

 

Es waren wieder die Ruhe und auch der Blick von meiner Hausterrasse auf den Urwaldfluss, die mich glücklich machten; es war ein Paradies. Aber wie wir alle wissen, gibt’s auch im Paradies nicht nur Engelswesen, sondern auch Schlangen.

Aber genau davon will ich Ihnen erzählen. Keine dieser Geschichten entspringt meiner Fantasie, es sind wahre Begebenheiten, die ich selbst Anfang der 1990er-Jahre erlebt habe, oder die mir so erzählt wurden.

Das Pueblo

zum Inhaltsverzeichnis

 

Esperanza ist ein kleines Pueblo (Dorf) am Rio Momon, einem kleinen Nebenfluss des Rio Nanay, welcher bei Iquitos in den Amazonas mündet. Mit dem Boot ist es etwa drei Stunden von Iquitos entfernt.

 

Das Dorf steht auf einem etwa zwanzig Meter hohen Hügel und hat etwa sechzehn Hütten. Alle sind Pfahlbauten, der Fußboden ist etwa einen Meter über der Erde. Alles Material dazu stammt aus dem Urwald. Die Eckpfeiler, Firste und andere Pfeiler sind dünne Baumstämme, der Fußboden und teilweise auch die Wände sind aus Pona gefertigt, einer Rohrart ähnlich wie Bambus. Das Rohr wird mit Lianen an den Pfeilern befestigt. Das Dach besteht aus kunstvoll geflochtenen Palmblättern.

In den meisten Häusern ist das Schlafabteil mit einer Wand aus Rohr umgeben, aber der terrassenförmige Wohnraum ist immer frei einsehbar. Die Feuerstelle ist fast immer außerhalb des Hauses, hier wird unter einem einfachen Feuerrost Holz angezündet. Kaum eine Familie hat mehrere Töpfe und trotz mindestens sechs Kindern gibt es auch nur zwei bis drei Teller und Löffel in der Familie. Natürlich gibt es auch kein Badezimmer oder Toiletten.

 

Als ich einmal ein einsames Dorf in der peruanischen Montana (gebirgiger Urwald am östlichen Ausläufer der Anden) besuchte, fragte ich meinen Gastgeber nach dem Badezimmer. Er sah mich einen Moment lang erstaunt an, nahm mich dann an der Hand und führte mich ins Freie, wo er eine weitausholende Geste machte und sagte:

„Der ganze Urwald steht Ihnen zur Verfügung.“

Seither weiß ich es.

 

Man würde denken, dass nun das ganze Dorf nur ein einziger Haufen Kot sei, aber keine Angst, der schwere Tropenregen, unseren Wolkenbrüchen gleich, der in kurzen Abständen fällt, wäscht alles weg.

Es gibt auch keinen Strom, also keine plärrenden Radios oder Fernsehgeräte. Ich war die Einzige im Dorf, die am Abend mit einem Stromaggregat den Fernseher für die Nachrichten in Betrieb nahm. Wasser wird mit Töpfen aus dem Fluss hochgetragen, eine Aufgabe, die meist den Kindern zufällt. Gewaschen und gebadet wird im Fluss. Es gibt auch keine Fahrzeuge und keine Straße, sondern nur schmale Fußwege zu den Pflanzungen, welche oft bis zu drei Stunden entfernt sind.

 

Die Leute sind bitterarm und leben nur von ihren Pflanzungen. Man muss sich nur vorstellen, dass ein Strunk Bananen mit etwa fünfzig bis sechzig Früchten am Markt von Iquitos für vier bis acht US-Dollar (etwa drei bis sechs Euro) verkauft wird. So ein Strunk wiegt fünfunddreißig bis vierzig Kilogramm und muss eben zwei bis drei Stunden von der Chacra (Pflanzung) zum Boot getragen werden. Da die meisten aber keine eigenen Boote haben, müssen sie auch noch den Transport bezahlen oder mit dem Kanu stundenlang den Fluss hinunterpaddeln.

Gepflanzt werden hauptsächlich Bananen, meist die grüne, große Sorte, die ohne Süße ist und gekocht oder gebraten wird. Dann wachsen noch Yuca (Maniok; Pflanze mit stärkehaltigen Wurzeln, ähnlich der Kartoffel), Mais, Reis und Bohnen.

Die Bewohner sind hauptsächlich Nachkommen des Indianerstammes der Cocamas, haben mittlerweile aber alle schon einen oder mehrere Weiße in ihrer Ahnenlinie und sind somit Mestizen.

 

Die Gringa zieht ein

zum Inhaltsverzeichnis

 

Nachdem ich die Dorfbewohner und den Dorfvorstand bei einer Versammlung um die Erlaubnis gefragt hatte, ins Dorf ziehen zu dürfen, wurde mir diese gerne gegeben, denn alle waren neugierig. So ließ ich also das Haus aus Holz bauen, nach eigenem Plan. Die Fußböden bestanden aus Brettern, die Bretterwände ließ ich mit Bambus verkleiden. Das Dach bestand – wie in den Flussdörfern üblich – aus dicht geflochtenen Palmblättern, die keinen einzigen Regentropfen durchließen. Wie allen Häuselbauern fielen auch mir die gravierenden Fehler erst beim Einzug auf.

Fast das ganze Dorf war beim Bau beschäftigt und mit meiner Bezahlung sehr zufrieden. Ich schaffte mir noch ein Boot mit Außenbordmotor an, einen Generator für das elektrische Licht, eine Motorsäge und Ähnliches.

 

Ich zog also ein und mit mir Lucy und Manuco, der Knecht Felipe und Gundi, meine Boxerhündin sowie zwei Amazonen-Papageien.

Dann kam meine erste Überraschung: Es war, als ob ich eine Ausstellung eröffnet hätte. Tagelang kamen nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch Leute von den Nachbardörfern, um sich alles anzusehen. Die Türen waren zu dieser Zeit noch nicht fertig, also stapften sie ohne zu fragen in die offenen Zimmer, begutachteten Wecker, Radio, Fotos oder das Schreibzeug in meinem Schlafzimmer. Frauen machten ungeniert im Bad Cremen und Eau de Cologne auf, probierten meinen Lippenstift, nahmen Kleider aus meinem Schrank, um sie anzusehen, und legten sich stundenlang in meine Hängematte, schauten mir bei meiner Arbeit zu oder erwarteten ein gemütliches Plauderstündchen. Sie ließen sich von mir Fruchtsäfte servieren, etwas, das hier niemals verweigert wird, sie fühlten sich so richtig zuhause und ich hatte das Gefühl, ich hätte eine Herberge eröffnet.

Ich war nicht sicher, ob ich empört oder belustigt sein sollte, doch sehr bald fand ich heraus, dass es keinerlei Provokation war, sondern ein normaler Brauch. Niemand kam auf den Gedanken, dass es mich stören könnte. Sie hätten das Gleiche von mir ebenso akzeptiert. Intimsphären und Privatleben sind hier fast unbekannt.

Beim Essen schauten uns Scharen von Kindern zu und staunten. Schnell sprach sich herum, dass wir bei Tisch mit Messer und Gabel in beiden Händen herumfuchtelten und nicht nur mit einem Löffel, wie es hier aus Mangel an Besteck üblich ist. Das Entsetzen aber stieg, als wir fast täglich Gemüse und Salate aßen, was im Dorf, außer in Suppen, fast unbekannt war.

„Die Gringa (die Fremde) isst Blätter (gemeint war Salat), rohe Karotten und rohe Tomaten“, lautete die Horrormeldung. Niemand wollte mehr zum Essen bleiben und die meisten verabschiedeten sich hastig, wenn der Tisch gedeckt wurde.

 

Gundi, meine Boxerhündin, fühlte sich am wohlsten. Sie tobte durch das Dorf, schwamm mit den Kindern im Fluss um die Wette und sank abends ermattet auf ihre alte Decke. Die Dörfler wollten es nicht glauben, dass ein Hund eine eigene Decke zum Schlafen hatte, wo sie und ihre Kinder auf dem blanken Boden schliefen. Es entsetzte und empörte sie. Als mich der Pfarrer bei seinem jährlichen Besuch im Dorf darauf ansprach und ebenfalls seinem Unmut darüber Ausdruck gab, wurde ich ärgerlich. Ich erklärte, ich könnte den Dörflern zeigen, wie man aus Maisstroh Strohsäcke macht, aber es war niemand daran interessiert.

Die Mitbewohner gewöhnten sich schließlich an meine Anwesenheit, ich wurde vertrauter mit den Nachbarn, aber auch mit dem Dorfklatsch.

 

Abends schaltete ich für zwei Stunden meinen Generator ein und den Fernseher, um die Nachrichten zu sehen, aber vorher gab es eine Telenovela, zu der die meisten Dorfbewohner kamen, um sie anzusehen.

Novelas sind Serien im Stil von E. Marlitts Romanen, in denen das Haupt-Liebespaar unentwegt durch Intrigen, dumme Lügen oder blödsinniges Verheimlichen von Geschehnissen auseinandergebracht wird. Es gibt Bösewichte, die armen, unschuldigen Mädchen und Frauen unsägliches Leid zufügen, das sich diese geduldig gefallen lassen. Selten sind es Männer, die leiden oder verfolgt werden, fast immer sind es nur die Frauen, die ihr bitteres Los gottergeben tragen.

Mit Befremden stellte ich fest, dass sich die Leute nicht nur mit den Helden identifizierten, sondern auch zum Teil fest überzeugt waren, dass diese Schnulzen sehr lebensecht wären und zum Teil sogar glaubten sie, dass es ein tatsächliches Geschehen wäre, das hier im Fernsehen gezeigt wurde. Als einmal eine Novela-Heldin unschuldig ins Gefängnis kam, um ihren Geliebten zu schützen und einige zuschauende Frauen über diese Ungerechtigkeit außer sich gerieten, als ob es ihre eigene Schwester beträfe, tröstete ich sie und sagte:

„Das ist ja nur eine Novela, da ist ja alles erfunden, es hat doch nichts mit der Realität zu tun.“

Da schaute mich eine der Zuschauerinnen an und meinte:

„Es ist doch im wirklichen Leben genauso!“

„So ein Blödsinn“, grollte ich, „du würdest doch in diesem Fall zu deinem Geliebten gehen und ihn fragen, ob er auch wirklich schuldig ist und ihm sagen, was der Bösewicht über ihn gesagt hat, oder nicht?“

„Wie könnte ich dies unter solchen Umständen?“, schluchzte sie daraufhin, noch immer unter dem Eindruck der Novela.

Dorfleben

zum Inhaltsverzeichnis

 

So lebte ich also im Dorf. Mein Haus lag etwa zwanzig Meter über dem Fluss, meine Terrasse stand auf fünf Meter hohen Stelzen. Als ich sie so hoch machen ließ, hänselte mich ein Freund und sagte:

„Du bereitest dich wohl für die Sintflut vor?“

Aber später, als der Fluss Hochwasser hatte, war ich froh. Denn dann konnte ich von der Terrasse aus fischen, weil das Wasser fast bis zu meinem Fußboden reichte. Aber auch sonst konnte ich von der Hängematte aus, die auf der Terrasse befestigt war, auf den Fluss sehen, der schmutzig-braun war, wie alle Urwaldflüsse. Auf der gegenüberliegenden Flussseite war dichter Urwald mit einer herausstechenden Lupuna.

Die Lupuna ist eine Riesenbaumart von etwa sechzig Metern Höhe und mit einem Stammdurchmesser von fünf bis sechs Metern. Hier in den Flussdörfern sagt man, dieser Baum hätte einen eigenen Geist, den man nicht ärgern dürfe. Trotz meiner typisch europäisch-materialistischen und realistischen Erziehung glaube ich das.

Ich lag oft in der Hängematte und meine freilebenden Papageien, meine Affen und mein Nasenbär besuchten mich. An unserem Flussufer gab es fast immer eine Schar Kinder, die vom Kanu ins Wasser sprangen und Gundi, meine Boxerhündin, hinterher – bereit sie zu retten. Doch dann tauchten sie unter und der Hund schwamm verwirrt herum und die Kinder kreischten vor Vergnügen. Fast alle, vor allem die Kleinen, waren nackt und ihre schönen schwarzen Haare fielen in nassen Strähnen herab.

 

Die Kinder wachsen hier in völliger Freiheit auf, es gibt kaum Verbote und nur ganz wenige Verpflichtungen. Babys werden den ganzen Tag von Müttern und Geschwistern umsorgt, sie sind zufrieden und ruhig. Selten hört man ein Kind weinen, und weinende Babys werden eben sofort an die Brust genommen.

Ich bin aufgewachsen in einer Siedlung in Österreich, wo alle paar Minuten ein Fenster aufgerissen wurde und die Stimme einer Mutter ertönte, die „Kaaaariiin“, „Michaeeel“ oder sonst einen Namen schrie.

Insofern war ich hier doch sehr erstaunt, dass niemals eine Mutter nach ihrem Kind rief. Sie wurden auch zum Essen nicht gerufen. Gekocht wurde einmal am Tag und die Kinder kamen, wenn sie hungrig waren. Es waren sowieso nicht genug Teller und Bestecke da, um alle gleichzeitig essen zu lassen, auch wenn die meisten Kinder sowieso mit den Händen aßen.

Gekocht werden meist Fisch vom Fluss, Yuca von der Chacra und Kochbananen, eventuell noch Reis und Bohnen. Fleisch gibt es nur zu besonderen Anlässen. Als besonderer Leckerbissen werden oft noch Suri gebraten, das sind Engerlinge, die in einer Palme leben. Sie haben viel Fett und das ist rar in den Dörfern, die Körper der Einheimischen verlangen also danach.

Die Aufgaben der Kinder sind limitiert. Mädchen müssen Kochtöpfe und Wäsche im Fluss waschen und Buben müssen Wasser holen und fischen. In der Pflanz- und Erntezeit müssen alle bei der Feldarbeit helfen.

Geschwister streiten sich selten; wenn doch, dann werden sie gleich ermahnt mit Worten wie: „Hör auf deinen großen Bruder“, „respektiere deine große Schwester“ oder: „pass auf deine kleine Schwester auf, du bist ja ihre große Schwester.“

Anscheinend werden dadurch der Selbstrespekt und die Familienzusammengehörigkeit gefördert, denn auch noch im Erwachsenenalter fühlen sich Familienmitglieder füreinander verantwortlich und stehen in Notzeiten zueinander. Da es hier für Krankheits- oder Todesfälle oder Arbeitslosigkeit kein soziales Netz gibt, ist es wichtig, eine Familie hinter sich zu haben.

Niemals hörte ich ein Kind sagen, ihm wäre langweilig oder es wüsste nicht, was tun. Dabei gab es keine gekauften Spielsachen und keine Puppen, dafür aber immer mindestens ein Baby in der Familie oder beim Nachbarn. Stundenlang spielten die Kinder mit einem Stück Holz oder etwas Ähnlichem.

Wenn ein Kind keine Lust hat, in die Schule zu gehen, wird es nicht gezwungen. Keiner macht sich Sorgen um die Zukunft dieser Kinder, und etwa neunzig Prozent der Erwachsenen in den Dörfern sind selbst Analphabeten oder können nur mit Müh‘ und Not ihre Namen schreiben.

 

Es gibt hier kaum Hausarbeit. Die Leute schlafen in Hängematten oder auf dem blanken Boden, Tisch- und Bettwäsche, Vorhänge und so weiter kennt man nicht. Doch werden die Kleider täglich gewaschen und ebenso geht das ganze Dorf täglich zum Baden an den Fluss, meist sogar zweimal. Aber Seife ist für einige nicht erschwinglich, so waschen sie sich mit Flusssand.

 

Kaum ein Paar, das hier zusammenlebt, ist verheiratet und leider wechseln sie auch noch oft die Partner. Wenn ein Mann seine Frau satt hat, oder umgekehrt, ist eine Trennung schnell beschlossen. Hab und Gut gibt es kaum, die paar Kochtöpfe nimmt meist die Frau mit. Meist werden die Kinder aufgeteilt, ohne Tränen und Ärger. Jeder nimmt in die neue Beziehung drei bis fünf Kinder mit und akzeptiert auch die Kinder des neuen Partners. Merkwürdigerweise gibt es da auch bei den neuen Geschwistern keine Reiberein, Intoleranz oder Eifersüchteleien oder viele Tränen. Die Kinder besuchen zwar freundlich den anderen Elternteil, aber leben auch ganz friedlich in der neuen Gemeinschaft.

Anscheinend sind die Kinder seelisch hier robuster als in Mitteleuropa. Sie werden nicht verhaltensgestört oder sondern sich ab, werden weder aggressiv noch depressiv. Oder ist es die Erwartungshaltung von uns Europäern, die unsere Kinder so instabil macht? Man nimmt es als selbstverständlich an, dass ein Kind auf so eine familiäre Entwicklung mit schwerem seelischen Schaden reagiert – und prompt tritt’s ein.

Hier in den Dörfern gibt es auch keine Probleme mit der schwierigen Pubertätszeit, sehr wohl aber in der Stadt. Verlässt ein Mann seine Frau und sie findet nicht gleich einen anderen, sitzt sie mit ihren Kindern da und ist hilflos, denn sie hat ja keinen Beruf erlernt. Meist wird sie dann von ihrer Familie wieder aufgenommen, seien es die Eltern oder auch die Geschwister. Die Mädchen in der Stadt haben es da leichter, sie haben fast alle eine Schulbildung und es gibt eine Menge Studentinnen und Mädchen in den verschiedensten Kursen. Aber zurück.

 

Diese glückliche Kindheit, ohne Pflichten, ohne Zwang oder Frustration, ist sicher etwas Schönes. Die Kinder in Esperanza waren lieb und unerhört freundlich, sie hatten keine Aggressionen und ich denke, dass so manche Eltern in Europa es mit Wonne hören würden und es sicher eher nachahmenswert fänden.

Aber es hat den Nachteil, dass die Kinder nicht gewöhnt sind, etwas zu tun, was ihnen nicht gefällt und dann vor allem eben im Erwachsenenalter Schwierigkeiten haben. Auch wenn eines von ihnen in Iquitos gute Arbeit bekam, mit gutem Gehalt, so verließ er/sie nach kurzer Zeit wieder diese Arbeit und kehrte lieber wieder in das armselige Leben im Dorf zurück. Sie konnten es einfach nicht ertragen, täglich pünktlich zur Arbeit zu kommen, acht Stunden durchzuarbeiten, ohne größere Pausen, und jeder Tadel entmutigte sie. Sie konnten auch die Arbeit nicht korrekt tun, wenn sie eben mal keine Lust hatten. Das alles brachte sie schnell in Stress, mit denselben Symptomen, die wir von der europäischen Leistungsgesellschaft her kennen. Dazu kam die Isolation von ihren Familien, die ihnen im Dorf Schutz und Wärme gegeben hatten. Disziplin war für sie eben ungewohnt, ebenso Verpflichtung und Verantwortung.

Zurück im Dorf waren sie wieder glücklich, auch wenn sie wieder in größter Armut leben mussten – nur die Wünsche nach Komfort und etwas Luxus wie Radio, Fernsehen, gute Kleidung und so weiter, steckte ab dann wie eine schleichende Krankheit in ihnen.

 

Für eine Leistungsgesellschaft sind so erzogene Leute sicher nicht geeignet, aber manchmal frage ich mich doch, nachdem ich fünfzig Jahre in einer solchen Leistungsgesellschaft gelebt habe, ob es wirklich so erstrebenswert ist, angepasst zu sein und ob Ansehen und Besitz wirklich das Wichtigste ist.

Ob man nicht in dieser grenzenlosen Freiheit zwar arm, aber doch glücklich sein könnte? Wer lebt in Mitteleuropa schon so frei und doch so geborgen?

Kindersegen und Kirche

zum Inhaltsverzeichnis

 

Die Durchschnittskinderzahl in den peruanischen Familien ist sechs. Familien der gehobenen Schichten und Leute mit guter Schulbildung haben jedoch bedeutend weniger. Dafür haben die Ärmsten meist acht bis zehn, aber sehr oft bis vierzehn oder gar sechzehn Kinder.

Auch hier in den Dörfern sind zehn Kinder ganz normal. Wenn eine Familie weniger hat, so deshalb, weil viele Kinder schon als Säuglinge sterben, meist an Brechdurchfällen oder weil die Frau mit Hilfe gewisser Pflanzen einen Abortus vornimmt. Die Säuglingssterblichkeit ist groß, aber auch viele Mütter sterben im Kindbett, oft aus Mangel an Hygiene, aber auch oft, weil der Körper der Frau, durch so viele Geburten ohne entsprechende Ernährung, so sehr geschwächt ist.

In den Städten werden unerwünschte Kinder einfach ausgesetzt oder schon mit vier oder fünf Jahren zur Arbeit auf die Straße geschickt, aber auch um zu betteln. So kann man in Iquitos noch lange nach Mitternacht kleine Schuhputzjungen, Kinder als Zigarettenverkäufer und Kleinkinder, die Motorfahrzeuge hüten, auf der Straße finden. Wenn die Polizei bei einer Razzia welche schnappt, kommen empörte Eltern, holen die Kinder im Kommissariat ab und schicken sie wieder auf die Straße. Es braucht einen also nicht zu wundern, wenn die Polizei nichts tut.

 

Nun hat die Regierung ein, in meinen Augen sehr vernünftiges Programm zur Verhütung und Sterilisation gestartet. Alle Verhütungsmittel werden auf den Gesundheitsposten umsonst abgegeben und auch eine Sterilisation, durch Unterbindung des Eileiters oder Samenstrangs, kostet nichts.

Aber dann startete die Kirche im Fernsehen und im Gottesdienst ein intensives Gegenprogramm. Sie behauptete, dass Präservative den Männern schwersten gesundheitlichen Schaden zufügen würden, was die unaufgeklärten Männer natürlich gerne hörten. Weiters wurde behauptet, dass die Sterilisation ein schwerer körperlicher Eingriff wäre, der oft zum Tod führte. Es gab tatsächlich zwei Fälle, in denen Frauen durch eine Infektion starben, was nun weidlich als Waffe genutzt wurde. Auch alle anderen Verhütungsmittel würden den Frauen schwerste Störungen bringen. Die einzige von der Kirche erlaubte und gepriesene Methode war die Knaus-Ogino-Methode, also das Zählen der unfruchtbaren Tage; eine Methode, die am unsichersten ist und die so ungebildete Leute, wie sie hier in den Flussdörfern leben, gar nicht verstehen.

Da ja auch der Papst anscheinend sonst keine Sorgen hat als gegen die Verhütung zu wettern, nimmt die Kirche offenbar in Kauf, dass die Familien hier zehn oder zwölf unerwünschte Kinder haben, die in das Elend geboren werden, im Elend aufwachsen und dann noch eine elende Zukunft haben. Aber den Eltern ist so ein guter Platz in der Ewigkeit gewiss.

 

Ich bin selber katholisch, aber dies finde ich kriminell. Ob der Papst auch so denken würde, wenn er nur einen einzigen Monat in einer solch bitterarmen Familie mit zwölf Kindern leben müsste, wo Fett, Reis und Fleisch derartige Mangelwaren sind, dass sie kaum auf den Tisch kommen?

Das Froschkind

zum Inhaltsverzeichnis

 

Jeden Abend, so etwa um fünf Uhr, machte ich mich auf und ging hinunter zum Fluss um zu baden. Um diese Zeit war das ganze Dorf dort versammelt, denn alle, alle badeten; oft auch mehrmals am Tag. Manche Frauen, vor allem die älteren, gehen oft mit den Kleidern ins Wasser, die meisten aber nur mit einem Höschen.

 

Als ich ins Dorf gekommen war, hatte ich in den ersten Tagen einen Badeanzug getragen und mich darunter verschämt herumgerubbelt. Doch schon am dritten Tag dachte ich mir: „Hol’s doch der Teufel, keiner wird mir mit meinen mehr als sechzig Jahren zu nahe treten“, und zog also ebenfalls ein kleines Höschen an. Oben ohne ist hier, wo Kinder ja öffentlich gestillt werden, keine aufregende Sache.

Die Wenigsten können schwimmen, was einen immer wundert, wo sie doch alle am Fluss aufgewachsen sind. Ich glaube, es ist einfach die eingebläute Angst, die Kleinkinder ausstehen, deren Mütter sagen: „Geh nicht so tief rein, damit dich die Riesenschlange nicht holt.“

 

Zu dieser Tageszeit wird das Ufer am Fluss zum Nachrichtenzentrum. Es gibt hier ja keinen Strom, also weder Radio noch Fernseher oder gar Telefon. Aber die Kommunikation ist trotzdem perfekt. Das geht etwa so:

„Hast du schon gehört, Nachbarin, Claritas Mann hat sie mit Jorge im Bett erwischt!“

„Das war zu erwarten, sie hat es ja oft toll getrieben!“, erwidert da die andere Frau. Die nächste hört auf sich zu baden und schaut empört in die Runde:

„Das ist ja furchtbar! Wie kann sie nur?!“

„Da kommt sie“, tuschelt die Erste warnend und dann reden sie wieder von den Kindern, der Pflanzung und welche Fische ihre Männer gerade gefangen haben. Doch bald stecken sie die Köpfe wieder zusammen und die Dicke flüstert:

„Wisst ihr schon, der Velasohn streicht um Fresia herum. Ich denke, sie sind sich schon einig, aber der Vater muss erst die Zustimmung geben.“

„Na, wenn’s nur nicht zu spät ist, sie kommt mir schon recht rundlich vor“, meint die Serrana darauf hämisch.

Und auch bei den Männern ist das nicht anders.

 

An diesem Tag saß Hilda neben mir und schüttete mit einem Kochtopf Wasser über den Kopf ihres Babys, das keinen Mucks dabei machte. Plötzlich unterbrach sie die Arbeit und stieß mich an. Ein Stück weiter flussabwärts sah ich Carmen in einem Kanu auf uns zu kommen. Sie paddelte jedoch nicht so gemächlich, wie es hier Sitte war, sondern mit ungewohnter Eile. Sie war auf Besuch bei Verwandten in einem Dorf drei Stunden flussabwärts gewesen, hatte aber die Fahrt zurück in etwas mehr als zweieinhalb Stunden geschafft. Schnell zog sie das Kanu ans Ufer und setzte sich außer Atem zu uns. Neugierig kamen auch die anderen näher, Carmens Eile lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sie.

„Wisst ihr schon, in Santa Rosa hat ein Mädchen eine Kröte geboren“, berichtete sie „Ich war gerade dort, als das regionale Fernsehen kam. Heute Abend kommen wir zu dir, Evita (das war ich), du musst den Generator anmachen und das Fernsehen einschalten. Das müssen wir sehen.“

„Eine Kröte hat das Mädchen geschwängert“, hauchte Milagro entsetzt.

Alle stimmten dem zu und allen war klar, dass dies die einzige Ursache sein konnte. Ich protestierte:

„Das ist einfach nicht möglich, eine Kröte kann keine Frau befruchten. Aber ich hab ein solches Kind in einem medizinischen Lehrbuch gesehen, als Missgeburt, aber ich erinnere mich nicht, was die Ursache war, aber sicher war es keine Kröte. Also ist es Unsinn.“

Aber Carmen hatte das Kind selbst gesehen und versicherte, dass es sicher eine Kröte sei und als sie mein skeptisches Gesicht sah, sagte sie störrisch:

„Na, es schaut eben aus wie eine Kröte.“

Alle schauten mich an wie man eben einen Menschen anschaut, der eine schwachsinnige Behauptung aufgestellt hat, über den man aber nachsichtig lächelt. Ich konnte in ihren Augen ja nichts für meine Dummheit.

„Also ist es das Kind einer Kröte“, fuhr Carmen kriegerisch fort und funkelte mich zornig an.

„Weißt du, Gringa (auch so nannte man mich oft im Dorf, denn keiner konnte meinen Familiennamen richtig aussprechen), am Rio Tigre wurde vor vielen Jahren auch eine Frau von einer Kröte geschwängert und vor zwei Jahren kriegte am Ucayali eine Frau ein Kind von einem Delfin, also glaub es ruhig”, sagte Javier.

 

Am Abend traf sich also das ganze Dorf auf meiner Terrasse und ich schaltete den Generator ein und stellte den Fernseher auf.

Tatsächlich wurde im Regionalprogramm das Kind gezeigt, das wirklich eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Frosch hatte.

„Natürlich ist meine Tochter von einer Kröte geschwängert worden“, sagte der Vater des Mädchens. „Es muss in der Nacht passiert sein, als sie schlief.“

Eine amerikanische Ärztin, die auch dort war, erklärte dem Fernsehteam, dass es eine Fehlentwicklung sei, die halt immer wieder einmal vorkommt, ein genetischer Fehler, der zu einer solchen Missgeburt führen kann. Ich erklärte das den Dörflern.

„Aber Evita, hast du nicht gehört, was der Vater gesagt hat?“, kam die Antwort. „Außerdem, was weiß schon eine Ärztin, die eine Gringa ist? Man sieht es ja an dir, du willst es ja auch nicht glauben.“

 

Wir lebten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, täglich flogen einige Jets von Iquitos nach Lima, in Iquitos gab es Kabelfernsehen, Computer und mehr und trotzdem fühlte ich mich sechzig Jahre zurückversetzt, als auch in unseren österreichischen Gebirgsdörfern die Leute an solche Dinge geglaubt hatten. Nicht, weil sie so himmeltraurig dumm waren, sondern weil sie ja ebenso wenig Informationen erhielten wie hier die Amazonasdörfler noch heute.

 

Abends im Bett ging mir das unglückliche Mädchen nicht mehr aus dem Kopf und es fielen mir die Contergankinder ein. Plötzlich fühlte ich eine Kältewelle in mir. Sollte es tatsächlich ...?

 

Man kann in Peru in der Apotheke ohne Rezept jedes Medikament erwerben, Antibiotika, Diuretika, eben alles, alles, das meiste sogar am Wochenmarkt. Niemand kennt die Nebenwirkungen oder macht die Kunden darauf aufmerksam, niemand sagt Schwangeren, dass sie dies oder jenes nicht einnehmen dürfen.

Große Pharmaindustrien schmeißen ihre Medikamente, die den strengen Prüfungen der hochentwickelten Länder nicht standhalten und deshalb dort unverkäuflich sind, oft in Mengen auf den Markt der unterentwickelten Länder, wo die Prüfungen oft weniger streng sind. Die Chance, von diesen armen Menschen einen Prozess an den Hals zu kriegen, ist verschwindend klein. Wer kann sich mit einem Durchschnittseinkommen von einhundert Dollar (achtzig Euro) im Monat, und oft nicht einmal so viel, einen Rechtsanwalt leisten? Der Profit ist groß genug, so dass es sich schon lohnt, dieses kleine Risiko auf sich zu nehmen. Ebenso werden große Mengen fehlerhafter Präservative verkauft, was das Elend der Familien mit zu vielen Kindern nur noch größer macht.

Ja, das Gewissen unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft gegenüber unterentwickelten Ländern ist eben recht dehnbar. Business und Geld sind bei uns leider Obergötzen geworden, Nächstenliebe ist nur noch ein altmodischer Begriff, von dem man ab und zu in der Bibel liest; sie ist passé. Die Verachtung gegenüber diesen Völkern, die unseren Standard nicht haben, ist weit verbreitet, es sind eben die „Primitiven“.

 

Doch, liebe Leser, wenn ihr es auch nicht glaubt, wir waren vor sechzig Jahren genauso, nur hatten wir das unerhörte Glück, gute Schulen und Lehrer zu haben, die uns – zwar oft mit dem Rohrstock, aber eben doch – eine Menge an Wissen und Bildung beibrachten.

Lucy

zum Inhaltsverzeichnis

 

Ich genoss es sehr, keine Hausarbeit machen und keine Wäsche mit der Hand waschen zu müssen und dazu auch noch bekocht zu werden. Ich konnte mich ohne schlechtes Gewissen den Tieren widmen, mit Gundi spazieren gehen, in der Hängematte lesen und eben alles tun, was mir Spaß machte.

Es war Lucy, Manucos Frau, die emsig im Haus schaffte, das Haus sauber hielt und mich daneben noch verwöhnte. Sie und Manuco hatte ich aus Lima mitgebracht. Beide waren ordentlich, sauber und sehr, sehr ehrlich. So dachte ich, und vertraute ihnen vollkommen. Sie führten eine ruhige Ehe soweit ich es mitbekam und hatten zwei Kinder, die in Lima noch zur Schule gingen. Manuco machte einen besonnenen Eindruck und konnte gut verhandeln, was mir bei gewissen Käufen manchmal sehr hilfreich war.

 

Doch einige Wochen nach unserem Einzug hörte ich vom Ende meines Hauses, wo die beiden wohnten, lautstarke Auseinandersetzungen. Ich hütete mich auch diesmal, wie immer, mich in ihre Ehestreitigkeiten einzumischen. Aber der Streit dauerte einige Tage und Lucy rannte mit vom Weinen geschwollenen Augen herum.

Manuco, immer besonders freundlich und höflich mit mir, schoss eines Tages wutentbrannt an mir vorbei und schrie etwas von „verdammte, eifersüchtige Weiber, die einem das Leben sauer machen“. Abends kam er besoffen nachhause und das gefiel mir gar nicht. Also holte ich beide und bat sie, sich doch endlich zu versöhnen. Manuco war sofort bereit, aber Lucy trotzte.

 

Als ich dann mit ihr allein war, wollte ich ihr ins Gewissen reden, aber Lucy winkte ab.

„Ich weiß, Señora, Sie denken, ich bin eine eifersüchtige Pute, aber ich weiß definitiv, dass Manuco mit Guadalupe ein Verhältnis hat. Ja, schauen Sie mich nur nicht so überrascht an, ich weiß, Sie denken, er ist ein Engel, aber ich habe so meine Erfahrungen.“

Ich war nun wirklich perplex. Guadalupe war die Dorfhure, zwar viel jünger als Lucy, aber bei weitem nicht so hübsch, sie war immer ziemlich schmuddelig angezogen, während Lucy stets adrett und sauber war und eine Figur wie eine Siebzehnjährige hatte. Ich konnte es wirklich nicht glauben und sagte es Lucy.

„Wissen Sie, Señora, das hat er mir schon einige Male gemacht. Ich bin nunmehr gefasst auf solche Eskapaden, aber es ist um der Kinder Willen, dass ich immer wieder zu ihm zurückgehe. Das erste Mal war es auch ein junges Mädchen. Er arbeitete in Trujillo und ich blieb mit den Kindern bei seiner alten Mutter in Lima. Eines Tages klopfte es an der Türe und herein kam ein junges, nettes Mädchen mit ihrer Mutter. Sie gingen beide zuerst zu meiner Schwiegermutter und sagten selbstsicher und erfreut, sie sei sicher die Mutter von Manuco. Meine Schwiegermutter, glücklich, von ihrem Sohn zu hören, den wir einige Monate nicht mehr gesehen hatten, lud sie gleich zu einer Tasse Kaffee ein und ließ sich alles über ihren Sohn erzählen. Meine Kinder spielten ruhig in einer Ecke und die beiden Besucherinnen beachteten uns kaum. Sie waren meiner Schwiegermutter gegenüber sehr liebenswürdig, ein bisschen zu viel, dachte ich. Ich hatte das Gefühl, sie wollten etwas von uns. Auch meine Schwiegermutter muss etwas gemerkt haben. Sie fragte die beiden, ob sie denn nur auf Besuch in Lima wären. Die beiden strahlten wie frischpoliertes Silber und sagten, sie wollten nur einmal die Mutter von Manuco kennenlernen. Dann sagte die Mutter der Jungen, dass ihre Tochter mit Manuco verlobt sei und sie in drei Wochen heiraten wollten. Es war, als ob eine Bombe gefallen wäre. Meine Schwiegermutter konnte es nicht fassen und schwieg erschrocken. Sie schaute mich an, die ich ebenfalls wie eine Salzsäule dastand. Da drehte sich das Mädchen nach mir um und so ganz leichthin meinte sie, ich sei ja wohl die Schwester von Manuco, aber er habe kaum von mir gesprochen. Meine Schwiegermutter schwieg noch immer und schaute mich hilflos an. Sie liebte Manuco über alles und wie ich sie kannte, wollte sie ihm alles, nur keinen Ärger machen. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte sie mir sicher die ganze Sache verschwiegen, nur dass ihr liebes Söhnchen keine Schwierigkeiten kriegt. Jedoch die herablassende Art, mit der mich dieses junge Mädchen musterte, das sicher aus einem guten Haus kam, denn beide Frauen waren gut angezogen und hatten so das gewisse Etwas an sich, machte mich schrecklich wütend. Mein Kleid wirkte gegen das der Tochter wie ein Fetzen. Ich hatte mir keine neuen Kleider leisten können, denn Manuco sagte, er verdiene so wenig, aber sicher hatte er das Geld für dieses Mädchen gebraucht. All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf und dann schaute ich meine Kinder an, die ebenfalls so armselig lebten, und mein Zorn stieg ins Unermessliche. Da sagte ich ihnen sehr laut und deutlich, dass ich Manucos Frau bin und dass die beiden Kinder seine Kinder sind, die er so anhimmelt, denen er aber niemals Geld schickt. Die junge Frau schaute mich wütend an, wandte sich an meine Schwiegermutter und fragte, ob dies wahr sei. Meine Schwiegermutter stammelte vor Verlegenheit etwas, dass Manuco es sicher selber richten würde, aber ich pfauchte dazwischen, dass es da aber schon gar nichts zum Richten gäbe, denn ich dächte gar nicht daran, mich mit zwei Kindern scheiden zu lassen. Da kriegte das Mädchen einen Weinkrampf und ihre Mutter griff sich ans Herz und dann musste ausgerechnet ich mich um beide kümmern. Meine Schwiegermutter meinte, ich hätte es ihnen nicht auf so brutale Art sagen dürfen, aber ich pfauchte sie an und sagte …“ Lucy unterbrach sich und schaute mich strafend an.

Mir war das Ganze wie eine Posse von Nestroy vorgekommen und ich hatte zuerst grinsen müssen, lachte nun aber schallend.

„Señora, wie können Sie darüber lachen?“, empörte Lucy sich.

„Es ist einfach so komisch, verzeih mir Lucy, aber wenn ich mir die Gesichter aller Beteiligten vorstelle, es ist wie in einer Novela.“

Lucy schaute mich zweifelnd an, doch dann lächelte auch sie.

„Ja, da haben Sie recht, wenn ich das so bedenke, muss es für einen anderen recht komisch gewesen sein, aber für mich war es das ganz und gar nicht, das können Sie mir glauben.“

„Was hatte Manuco denn vor? Hätte er sie wirklich geheiratet?“

„Ich weiß es nicht, aber es ist schon möglich. In seinem Ausweis steht ja drin, dass er ledig ist und so wie er ist, hat er sicher angenommen, ich werde es nicht erfahren.“

 

Beim abendlichen Bad am Fluss beobachtete ich Manuco. Er tändelte wirklich mit Guadalupe, aber war das ernst oder tat er es nun nur zum Trotz?

Zwei Tage später ließ sich Lucy von mir das restliche Geld für ihre Arbeit geben und flog zurück nach Lima, wo sie von nun an leben wollte. Ich versuchte sie umzustimmen, aber sie blieb hart. Manuco hatte noch nicht so viel Geld zusammen, um seine Schulden bei mir zu begleichen und bat mich, bleiben zu dürfen, was ich ihm selbstverständlich gewährte.

Der Tunchi

zum Inhaltsverzeichnis

 

Ich saß nun da und hatte für zwei Männer zu kochen, für Manuco und Felipe, den Knecht. Ich hatte zu waschen, ein großes, nicht pflegeleichtes Haus zu putzen und daneben noch all meine Tiere zu versorgen. Wo blieb da mein Traum von Hängematte, Ruhe und Frieden?

„Nachbarin … Nachbarin“, rief da eine Frauenstimme vom Nachbarhaus links von meinem.

Es war Odile, die Frau des Dorfvorstandes. Sie hatte neun Kinder: vier von ihrem ersten Mann, zwei von Grusildos erster Frau und drei mit ihm zusammen. Ein weiteres war am Kommen. Die Familie gehörte zu den fleißigsten im Dorf. Odile selber arbeitete auf der Pflanzung wie ein Mann und auch die älteren Kinder wurden viel zur Arbeit angehalten, im Gegensatz zu den anderen Dorfkindern.

„Was gibt es?“, fragte ich.

„Nachbarin, komm rüber, ich habe Masato (fermentierter, leicht alkoholischer Brei aus Yuca) gemacht.“

Schnell schlüpfte ich in meine Schlappen, denn ich ging im Haus viel barfuß, wie alle Dörfler. Dann rannte ich von meiner Terrasse über die kleine Hühnerleiter hinunter und ihre hinauf, gefolgt von Gundi.

Das Haus von Odile stand ebenfalls auf Pfählen und bestand, wie alle Häuser hier, aus Holzpfosten und der Boden aus Ponarohr. Aber im Gegensatz zu vielen, die gar keine Wände hatten, war ihres mit Rohr umgeben und sogar in Schlafzimmer und Wohnraum geteilt. Das Schlafzimmer war für alle Familienmitglieder und hatte überhaupt keine Möbel. Sie schliefen auf dem blanken Boden.

Odile war reich. Sie hatte drei Aluminiumtöpfe zum Kochen, fast alle Kinder hatten Teller und Löffel zum Essen und sogar mehrere Plastikschüsselchen zum Trinken. Auf der Terrasse gab es einen Tisch, zwei Bänke und drei Hängematten.

„Leg dich rein“, bot sie mir an und hielt mir einladend eine Hängematte hin.

Ich tat es und sie reichte mir sofort ein Schüsselchen mit dem milchigen Masato.

„Wir haben gestern alle dran gekaut“, scherzte sie, weil sie wusste, dass ich mich dann ein wenig ekelte.

 

Masato wird aus gekochten, gestampften Yucawurzeln gemacht und tatsächlich wird eine kleine Menge davon im Mund durchgekaut und in die Masse zurückgespuckt, umgerührt und so zum Fermentieren gebracht. Es ist ein milchiges, leicht säuerliches und schwach alkoholisches Getränk.

 

Odile saß auf einer Bank und vor ihr kniete die vierjährige Tochter, deren Kopf zwischen den Knien von Odile steckte, die ihn fleißig nach Läusen absuchte. Wenn sie eine erwischte, nahm sie sie zwischen die Zähne. Ich hatte niemals den Mut sie zu fragen, ob sie die Läuse auch aß oder ihnen nur den Kopf abbiss.

„Heiß ist es heute.“

Ich bestätigte es, denn mir rannen die Schweißperlen über den Bauch und es fühlte sich an, als ob dort ein Insekt herumkriechen würde. Das Thermometer auf meiner Terrasse hatte fünfunddreißig Grad Celsius angezeigt.

„Du warst heute noch gar nicht in der Hängematte“, stellte sie fest.

„Wie sollte ich, wo ich doch ganz alleine bin“, grollte ich.

„Misli, Carmens vierzehnjähriger Sohn, will bei dir arbeiten. Soll ich ihm sagen, er soll zu dir kommen?“

„Natürlich, sag es ihm“, freute ich mich.

 

Plötzlich war die Welt wieder in Ordnung. Ich würde wieder in der Hängematte liegen können und die Tonbandkassette mit der Pastorale hören, die einzige, die von etwa sechzig Tonbandkassetten, die ich mitgebracht hatte, nicht vom Klima beschädigt worden war. Natürlich hätte sich Herbert von Karajan die Ohren zugehalten, denn so ganz rein waren die Töne auch nicht mehr, aber ich war ja nicht so empfindlich.

In Ermangelung anderer Literatur, die hier schwer zu kriegen war, würde ich außerdem das zweite Mal alle Agatha Christies lesen. Man wurde hier so bescheiden, ich hätte sogar mit Wonne Barbara Cartland verschlungen.

Die Aussicht auf Hilfe stimmte mich freundlich und hob meine Stimmung.

 

Da kam José, ein Sohn von Odile, zu uns. Wie immer war er splitternackt und seine schwarzen Haare reichten ihm weit über die Schultern. In einigen Wochen wurde er zwei Jahre alt und da wurden ihm die Haare geschnitten. Wenn man ihm die Haare vorher geschnitten hätte, hätte er niemals normal sprechen gelernt, so hatte es Odile mir erklärt.

José ist ein liebes Kerlchen, eine Miniaturausgabe seines Vaters, auch im Charakter: ruhig, bedächtig, freundlich. Auch er kriegte sein Masato, dann saßen wir in einem friedlichen Schweigen beisammen.

„Hast du heute Nacht den Tunchi gehört?“, fragte mich dann Odile mit leiser Stimme.

„Tunchi? Was ist das?“, fragte ich verwirrt.

„Na, du weißt es doch, Nachbarin. Tunchis sind die unerlösten Seelen, die herumwandern in der Nacht. Du musst ihn doch pfeifen gehört haben“, sagte sie ungeduldig.

„Weißt du, Odile, ich hör sie nicht, ich schlafe ja wie ein Baumstamm und außerdem weiß ich auch gar nicht, wie sie pfeifen.“

„Fiii … fiii … fiii … pfeifen sie; meist drei Mal. Aber ich kann es nicht verstehen, dass du sie nicht hörst“, wunderte sie sich.

„Vielleicht kommt der Tunchi auf der anderen Seite meines Hauses vorbei?“

„Nein, nein, er kommt seit mehreren Nächten und immer auf dem gleichen Weg: Am Haus der Großmutter Eusebia vorbei und jeder weiß, dass sie eine Hexe ist mit magischen Kräften, und dann schwebt er an deinem Haus vorbei und an meinem, dann vorbei an Marios Haus, der ja auch ein halber Schamane ist, bis zum Haus der Avilas. Ich wundere mich nur, warum er zum Haus der Avilas geht, es ist doch zu seltsam.“

Zweifelnd sah ich sie an.

„Bildet ihr euch das nicht nur ein? Vielleicht ist es ein Nachtvogel, der so pfeift?“

„Sei vorsichtig, Evita, eines Tages wirst du einem begegnen“, sagte sie steif.

Sie nannte mich immer Evita, wenn sie ärgerlich auf mich war, sonst nannte sie mich Vecina (Nachbarin) oder Hermana (Schwester) oder eben Amiga (Freundin).

„Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Tunchi gesehen oder auch nur davon gehört. In unserem Land gibt es keine, aber vielleicht mögen sie uns Gringos nicht?“, erwiderte ich.

„Lästere nicht, Evita, mein Mann wird es dir bestätigen, da kommt er eben.“

Vom Hügel herab kam nun Grusildo mit Lider, einem seiner Söhne. Grusildo war der größte Mann im Pueblo. Am Rücken trug er drei große Bananenstrünke, also etwa ein Gewicht von siebzig Kilo. Zweieinhalb Stunden war seine Chacra entfernt und er hatte die Strünke fast ohne abzusetzen bis hierher getragen. Auch Lider, der Fünfzehnjährige, trug zwei. Grusildos Gesicht war bronzefarben, ein schönes Gesicht, und er hätte in Europa in der Rolle des Winnetou sicherlich großen Erfolg.

Er legte seine Last ab und Odile brachte ihm Masato. Dann setzte er sich zu uns. Ich unterdrückte meine Ungeduld, ihn gleich nach den Tunchis zu fragen.

 

Auch das musste ich hier lernen, man überfällt die Leute nicht gleich mit dem, was man auf dem Herzen hat, man drängt niemanden. Zeit ist ein noch immer unbekannter Faktor am Fluss. Der Lehrer und ich waren die einzigen, die eine Uhr hatten. Wozu auch? Es wurde dunkel nach achtzehn Uhr und da es kein Licht gab, gingen die Leute schlafen. Es wurde hell um etwa halb sechs, da wurden die Leute munter und standen auf. Sie waren befremdet, wenn man sagte, man hätte keine Zeit, weil man das oder jenes zu tun hätte.

 

Wir redeten nun über die Bananen, die er eben gebracht hatte, jede einzelne etwa dreißig Zentimeter lang und dick. Es waren die grünen, eine Sorte, die keine Süße hat. Sie wurden gekocht oder gebraten, wie bei uns Kartoffeln. Voll Stolz bot er mir welche an und weitschweifig erzählte er, wie er die Pflanzung in Stand hielt und ich glaubte es ihm.