John August

ARLO FINCH

Im Tal des Feuers

Aus dem amerikanischen Englisch
von Wieland Freund und Andrea Wandel

Mit Illustrationen von
Helge Vogt

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ÜBER DIE SCHRIFT

Dieser Text wurde in Garamond gesetzt, einer Schriftart, die auf den Entwürfen des französischen Typografen Claude Garamond aus dem sechzehnten Jahrhundert basiert. Sie gilt heute als eine der beliebtesten Schriften und wird für so gut wie alle Druckerzeugnisse verwendet: von Romanen über Schulbücher bis hin zu Flurbüchern. Dank ihrer klaren Linien und ihrem ebenmäßigen Schriftbild ist sie perfekt geeignet, um mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen zu werden.

John August, geboren 1970 in Colorado, ist ein US-amerikanischer Drehbuchautor und Journalist. Zu seinen bekanntesten Drehbüchern gehören – teils in Zusammenarbeit mit Tim Burton – die Kinoadaption von »Big Fish«, die Neuverfilmung von »Charlie und die Schokoladenfabrik« sowie »Corpse Bride« und »Frankenweenie«. »Arlo Finch« ist John Augusts Kinderbuchdebüt. Der Autor lebt mit Mann und Tochter in L.A. johnaugust.com

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Arlo Finch in the Valley of Fire« bei Roaring Book Press, zugehörig zu Holtzbrinck Publishing Holdings Ltd. Partnership, New York. © 2018 John August

1. Auflage 2018
© für die deutschsprachige Ausgabe
2018 Arena-Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische
Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Umschlag und Illustrationen: Helge Vogt
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel
ISBN 978-3-401-80776-8

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Weisheit beginnt mit Staunen.
SOKRATES, vermutlich

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PINE MOUNTAIN

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Es sah überhaupt nicht aus wie ein Haus.

Klar, es gab viele Dinge, die man bei einem Haus erwartet – Schindeln, Fenster, Ziegel –, aber sie schienen nicht wie bei einem Haus angeordnet zu sein. Stattdessen sackte das Gebäude gegen den bewaldeten Berghang wie ein Haufen Schutt, der von richtigen Häusern übrig geblieben war.

Links hing eine Tür anderthalb Meter über dem Boden, darunter keine Stufen. Im Obergeschoss wehte eine blaue Plastikplane im Herbstwind und gewährte einen Blick auf das hölzerne Skelett eines verlassenen Raums. Die Haustür lag versteckt im Schatten einer durchhängenden Veranda.

Vom Rücksitz des Wagens seiner Mutter registrierte Arlo Finch im Stillen sämtliche erkennbaren Gefahren.

Seine Schwester Jaycee brachte es auf den Punkt: »Sieht aus wie ein Mörderhaus.«

Ihre Mutter schaltete den Motor aus und löste den Gurt. Arlo wusste, dass sie innerlich bis drei zählte. Mom zählte in diesen Tagen oft bis drei. »Wir sollten dankbar sein, dass es ein Haus ist.«

»Ich bin nicht sicher, ob es eins ist«, antwortete Arlo.

Sie waren sechs Stunden lang gefahren – genau wie die drei Tage zuvor –, jetzt war es wenigstens ein gutes Gefühl, auszusteigen und sich zu strecken. Die helle Sonne und die kühle Brise taten gut. Als würde man in einen Pool springen, nur ohne nass zu werden.

Der Duft, der in der Luft hing, erinnerte Arlo an das Jahr in Philadelphia, als sie sich auf dem leeren Grundstück neben der Tankstelle einen Weihnachtsbaum geholt hatten. Hier, hoch in den Bergen Colorados, gab es, egal, wo er hinblickte, überall Weihnachtsbäume, nur viel, viel größere. Sie schwankten vor dem hellblauen Himmel.

Ihre Mutter machte den Mietanhänger hinter dem Wagen auf.

»Ich muss pinkeln«, verkündete Jaycee.

»Ich auch«, sagte Arlo.

»Na, dann geht rein«, sagte ihre Mutter. »Euer Onkel erwartet uns.«

Arlo folgte seiner Schwester zu der knarrenden Veranda, vorbei an einem rostigen Metallzaun und ein paar Haufen mit Flechten überwachsener Felsen.

Jaycee war fünfzehn und kräftig, gebaut wie eine Kugelstoßerin bei Olympia. In Philadelphia und Chicago hatte sie die meisten Tage damit verbracht, in ihrem Zimmer auf dem Computer Videos zu gucken und ihr Haar in verschiedenen Farben zu färben. Nur zu den Mahlzeiten war sie mit einem theatralischen Seufzen aufgetaucht.

Arlo Finch war gerade zwölf geworden, aber er sah jünger aus. Er war klein und hatte dunkles Haar, das nie richtig lag. Sein linkes Auge war braun, aber sein rechtes war smaragdgrün. Heterochromica iridis lautete der medizinische Fachbegriff, der es wie einen Zauberspruch oder eine Krankheit klingen ließ, aber es war weder das eine noch das andere. Es ist eben, wie es ist, sagte seine Mutter. Manche Leute haben eben grüne und andere braune Augen. Du hast von jedem eins. Einige Lehrer vermuteten, dass seine verschiedenfarbigen Augen der Grund dafür waren, dass Arlo das Lesen so schwerfiel, aber die Ärzte behaupteten, seine Sehkraft wäre normal. Es war nur Arlos Gehirn, das manchmal Probleme mit Wörtern hatte.

Dennoch konnte er das Schild an der Haustür lesen:

ANWÄLTE WERDEN ERSCHOSSEN UND AUSGESTOPFT!

Jaycee klopfte. Die Tür ging langsam auf. Sie war nicht verschlossen gewesen.

»Onkel Wade?«, rief sie mit gedämpfter Stimme.

Keine Antwort. »Hallo?«, sagte Arlo, kein bisschen lauter.

Das Haus hinter der Tür wirkte unordentlich, aber nicht mördermäßig. Von der Veranda aus konnten sie eine Treppe sehen, die ins Obergeschoss führte, jede Stufe war zugemüllt mit Büchern und Kisten und Metallschrott. Im Wohnzimmer links von ihnen befanden sich drei durchgesessene Sofas und ein auf den Kopf gestellter Schaukelstuhl. Der Tisch im Esszimmer rechts von ihnen war vollgepackt mit fünfzehn Tieren. Keine knuffigen Kuscheltiere, die man einem Kind geben würde, sondern solche, die tatsächlich mal gelebt hatten. Ausgestopfte Tiere, wie man sie auf Wandertagen im naturhistorischen Museum sieht. Arlo erkannte Adler und Füchse und Waschbären, alle mitten in der Bewegung eingefroren. Bei genauerem Hinsehen war das Haus doch ein bisschen mördermäßig. Aber Jaycee ging geradewegs hinein.

»Das ist unbefugtes Betreten«, warnte Arlo flüsternd.

»Mom gehört das Haus«, antwortete sie, durchquerte das Esszimmer und drückte sich durch eine Schwingtür.

Arlo vermutete, dass Jaycee eigentlich recht hatte. Laut ihrer Mutter war das Haus nach dem Tod der Großeltern an sie übergegangen. Aber Onkel Wade wohnte hier und hatte immer hier gewohnt. Sein Name stand an der Tür und seine toten Tiere standen auf dem Tisch. Es schien der falsche Zeitpunkt, um über Erbansprüche zu reden.

Außerdem musste Arlo immer noch pinkeln. Er folgte Jaycee durch die Schwingtür.

Die Küche war dunkel und unaufgeräumt, auf der Arbeitsplatte standen fünf geöffnete Cornflakespackungen in einer Reihe. Eine tote Pflanze hing über der Spüle. Das Geschirr stapelte sich in einer zentimeterhohen Brühe.

Zum Badezimmer ging es eine Stufe runter durch einen Flur, der aussah, als hätte er früher außerhalb des Hauses gelegen. Arlo stand an der Badezimmertür, trat von einem Fuß auf den anderen und wartete ungeduldig darauf, dass Jaycee fertig wurde.

Dann hörte er das Knarren.

Schwere Schritte kamen die Holztreppe runter. Als wäre er plötzlich mit einem Röntgenblick ausgestattet, konnte Arlo sich genau vorstellen, wo die Füße aufsetzten. Das Geräusch veränderte sich, als die donnernden Schritte langsam das Esszimmer durchquerten. Und dann schwang, genau wie Arlo es geahnt hatte, die Esszimmertür auf.

Was er dann sah, hätte Arlo allerdings niemals ahnen können.

Der Mann, zu dem die Schritte gehörten, sah nicht wie ein Mensch aus, sondern eher wie ein Bär mit abgenutztem Pelz. Er trug eine dicke Brille, eine Jogginghose und ein riesiges T-Shirt mit einem Fleck, der die Form von Wisconsin hatte. (In Geografie kannte Arlo sich aus.)

Obwohl er ihn nie kennengelernt hatte, war Arlo sich sicher, dass das sein Onkel Wade sein musste. Auf seinem Kopf erkannte er dasselbe verstrubbelte rotblonde Haar, das er von den Fotos aus dem Album seiner Mutter kannte.

So, wie sein Onkel blinzelte, war Arlo sich nicht sicher, ob er ihn überhaupt bemerkt hatte. Aber dann murmelte der Bär-Mensch: »Guten Morgen.«

»Es ist drei Uhr nachmittags.« Arlo wollte zuvorkommend sein, fürchtete jedoch, dass er vorlaut klang.

Onkel Wade zeigte auf die Badezimmertür. »Wer ist dadrin? Celeste?«

Celeste war ihre Mutter. Arlo schüttelte den Kopf. »Jaycee.«

»Du bist Arlo.«

Arlo nickte. Er konnte die Toilettenspülung hören. Wasser lief ins Waschbecken.

»Verstehst du dich mit deiner Schwester?«, wollte sein Onkel wissen.

»Meistens.«

»Da hast du Glück. Meine Schwester treibt mich in den Wahnsinn. Immer schon.«

Onkel Wade hatte nur eine Schwester, er sprach also über Arlos Mom. Das schien kein vielversprechender Anfang zu sein.

Die Badezimmertür ging auf. Wade scheuchte Jaycee hinaus und schloss die Tür hinter sich. Arlo würde noch ein bisschen länger warten müssen, bis er pinkeln konnte.

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Das Haus hatte nur das eine Badezimmer, aber oben gab es dafür eine Menge Schlafzimmer. Jaycee erklärte ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses zu ihrem. Es war dunkel und roch feucht, aber die Tür hatte ein funktionierendes Schloss.

Arlos Zimmer lag im vorderen Teil des Hauses und war einmal Moms Kinderzimmer gewesen. Die Blumen auf der Tapete waren so stark verblasst, dass sie wie staubige Schneeflocken aussahen. Die Bettfedern quietschten, aber die Matratze war viel weicher als die, die Arlo in Chicago oder im Schrankbett in Philadelphia gehabt hatte.

Die Fenster gingen auf die bekieste Auffahrt, die Bäume und die zerklüfteten, schneebedeckten Bergen in der Ferne hinaus. Doch der Ausblick war nicht der Grund, warum Arlo sich für das Zimmer entschieden hatte.

Er nahm an, dass diese Fenster ihm den besten Fluchtweg boten. Wenn das Haus plötzlich zusammenstürzte oder Feuer ausbrach oder ein Puma durch den unheimlichen, halb fertigen Raum am Ende des Flurs hereinkäme, könnte er schnell fliehen. Er würde einfach ein Seil an die Heizung binden und sich zum Boden runtergleiten lassen. Sogar einen Sprung würde er wahrscheinlich mit nicht mehr als einem gebrochenen Knöchel überleben.

Eine Schulpsychologin hatte Arlo einmal gefragt, warum er sich so oft unwahrscheinliche Szenarien ausdachte, zum Beispiel eine Flutwelle auf dem Lake Michigan oder eine plötzliche Umkehrung der Schwerkraft. Fürchtete er ernsthaft, dass so was passieren würde? Nein, sagte Arlo, ich will bloß vorbereitet sein.

Er fürchtete nur, nicht vorbereitet zu sein.

Arlos Vater war genauso, immer auf alle Eventualitäten und Überraschungen vorbereitet. Wenn du keinen Plan B hast, hast du gar keinen Plan. Aber seit sein Dad weggegangen war – eine Hetzjagd zum Flughafen, keine Zeit für einen richtigen Abschied –, war es das Unvorstellbare, das Arlo nachts nicht schlafen ließ, die vage Angst vor schrecklichen Gefahren, die er niemals kommen sehen würde.

Er wollte nicht, dass seine Mutter und seine Schwester sich Sorgen machten, also sorgte er sich an ihrer Stelle. Er nahm seine Aufgabe ernst.

Arlo beschloss, dass er die besten Knoten würde lernen müssen, um aus den Bettlaken ein provisorisches Seil knüpfen zu können und sich, wenn möglich, eine Pfeife oder ein Drucklufthorn zu besorgen, um den Rest der Familie vor dem Felsrutsch zu warnen. (Ging man von der Anzahl der gelben Schilder mit der Aufschrift STEINSCHLAG aus, an denen sie auf der Straße nach Pine Mountain vorbeigekommen waren, schien ihm ein Felsrutsch die größte mögliche Gefahr zu sein.)

Die Sonne ging langsam unter und warf lange Schatten in sein Zimmer. Die Schneeflockenblumen auf der Tapete glitzerten ein bisschen im rosaroten Abendlicht.

Arlo fragte sich, ob er den Bereich direkt unter seinem Fenster ausreichend inspiziert hatte. Was, wenn da unten rostige Nägel oder Glasscherben lagen? Er beugte sich vorsichtig über die Fensterbank und schaute geradewegs nach unten. Er war froh, dass er es getan hatte. Knapp fünf Meter unter dem Fenster wuchs ein dorniger Busch. Es war kein Kaktus wie der, in den er in Carlsbad gefallen war, oder die Yucca in Yuma, aber er sah definitiv aus, als würde er wehtun. Arlo ging runter, um ihn sich näher anzusehen.

Seine Mutter war losgefahren, um den Anhänger zur Autovermietung zurückzubringen. Seine Schwester hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, packte aus und hörte Musik. Sein Onkel Wade war in seine Werkstatt geflüchtet.

Arlo war also allein, als er die stachelige Pflanze unter seinem Fenster begutachtete. Jedenfalls so lange, bis er merkte, dass er es nicht war.

Fünfzehn Meter entfernt, am Rand der bekiesten Auffahrt, beobachtete ihn ein Hund. Arlo nahm an, dass es ein Hund war und kein Kojote oder Wolf, obwohl er weder das eine noch das andere je in echt gesehen hatte. Das Wesen hatte ein Halsband, was zumindest bedeutete, dass es jemandem gehörte.

Arlo wusste, dass man bei fremden Hunden vorsichtig sein musste, aber dieser schien nicht bedrohlich, nur neugierig.

Die Hände gut sichtbar nach unten gestreckt, ging Arlo langsam auf ihn zu. Der Hund neigte den Kopf. Er wedelte mit dem Schwanz. Doch als Arlo eine unsichtbare Linie übertreten hatte, wich der Hund zurück.

»Alles gut«, sagte Arlo. »Du musst keine Angst haben.« Er kniete sich hin und deutete dem Hund an, näher zu kommen.

Plötzlich richtete der Hund seine Aufmerksamkeit in Richtung eines leeren Punkts auf der Straße und ignorierte Arlo komplett. Es schien, als starrte er auf eine unsichtbare Gefahr. Er hockte sich auf sein Hinterteil und zeigte die Zähne.

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Der Hund bellte, gab aber keinen Ton von sich. Es war, als hätte jemand einen Fernseher auf stumm gestellt. Dass er bellte, erkannte Arlo nur am Zittern der Hundebrust und den Bewegungen des Mauls.

Arlos wusste, dass es ägyptische Hunderassen gab, die nicht bellten, hatte sich die aber immer ganz anders vorgestellt.

Plötzlich rannte der Hund auf die unsichtbare Gefahr zu und Arlo kniete allein im Kies.

Arlo entdeckte seinen Onkel, der gerade dabei war, die Werkstatt abzuschließen, und fragte ihn nach dem Namen des Hundes.

»Was für ein Hund?«, fragte Onkel Wade verwirrt zurück.

Arlo beschrieb den Hund, das stumme Bellen und wie er in den Wald gelaufen war.

»Oh, das ist Cooper. Du hast ihn gesehen? Er war lange nicht hier.«

»Wem gehört er?«, wollte Arlo wissen.

»Er gehörte uns, aber das ist Jahre her.«

»Ist er weggelaufen?«

»Nee, er ist gestorben«, sagte Onkel Wade. »Er war ziemlich alt und Hunde, na ja, die leben nicht so lang.«

Arlo überlegte eine Weile, um sicherzugehen, dass er richtig gehört hatte. Er musterte das Gesicht seines Onkels, suchte nach der Spur eines Lächelns, irgendeinem Hinweis, dass er einen Scherz machte.

»Wenn er tot ist, wie kann es dann sein, dass ich ihn gesehen habe?«

Onkel Wade befestigte den Schlüsselbund wieder an seinem Gürtel. »Deine Mom hat dir nichts davon erzählt?«

Arlo schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht. In den Bergen laufen die Dinge anders. Nicht schlecht, nicht gut, bloß anders. Wirst eine Weile brauchen, dich daran zu gewöhnen, nehme ich an. Aber du kriegst das schon hin.«

Als sie Reifen im Kies hörten, drehten sich Arlo und sein Onkel um und sahen den Kombi zurückkehren, diesmal ohne den Anhänger. Das Licht der Scheinwerfer glitt über sie hinweg.

Onkel Wade fuhr fort. »Ist wahrscheinlich am besten, wenn du dich erst mal vom Wald fernhältst. Nur für den Fall.«

Arlos Mom stieg aus. »Hilfst du mir, die Einkäufe reinzutragen?«, rief sie.

Arlo fragte seinen Onkel, was im Wald war.

»Noch mal, es ist nicht schlecht, es ist nicht gut. Und gefährlich ist es nur, wenn du noch nicht so weit bist.«

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LOGISCHE FRAGEN

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Das Essen an diesem Abend bestand aus Spaghetti mit Fertigsoße aus dem Glas, Arlos Lieblingssorte.

Obwohl er eine Plastikgabel benutzen musste, weil Onkel Wade nur drei richtige Gabeln besaß, und obwohl die Milch aus einer dicken Glasflasche statt aus einer Packung kam, war Arlo dankbar, dass wenigstens das Essen vertraut schmeckte.

Sie aßen am Esszimmertisch, während Onkel Wades taxidermische Tiere sie vom Boden aus beobachteten.

Taxidermisch war ein Wort, das Arlo an jenem Abend lernte. Es bedeutete, ein totes Tier lebendig aussehen zu lassen, indem man Sägemehl hineinstopfte und es wieder zusammennähte. Es war das, womit Onkel Wade sein Geld verdiente, bedeutete für ihn gleichzeitig aber auch eine große Leidenschaft und Kunst – und es war der Grund, warum Arlo und Jaycee niemals in seine Werkstatt gehen durften. Dadrinnen befänden sich gefährliche Chemikalien, erklärte Onkel Wade, und scharfe Messer und Elektrowerkzeuge. Jaycee und Arlo versprachen beide, nicht hineinzugehen.

Jaycee fragte nach dem Passwort für das WLAN. Onkel Wade sagte, dass es im Haus kein Internet gäbe. Sie seien zu weit weg von der Stadt, als dass Kabel gelegt worden wären, und er hätte dieses Internetding ohnehin nie richtig kapiert.

Arlo hatte einmal einen Film mit einem Monster namens Medusa gesehen, das einen Mensch allein durch seinen Blick in Stein verwandeln konnte. Mit einem solchen Blick starrte Jaycee Onkel Wade an, als er sagte, dass es kein Internet gäbe. Anders als im Film verwandelte sich Onkel Wade jedoch nicht. Er nahm sich einfach noch mehr Spaghetti und ignorierte Jaycees versteinernden Blick.

Frustriert wandte Jaycee sich an ihre Mutter.

»Es tut mir leid, Jaycee«, sagte die. »So ist es eben. Vielleicht kannst du dein Handy benutzen.«

»Aber Handys gehen auch nicht! Es gibt keinen Empfang. Das sind diese dämlichen Berge.«

Onkel Wade deutete auf ein altmodisches Telefon an der Küchenwand, so eins, bei dem ein geringeltes Kabel am Hörer hängt.

»Da haben wir ein Telefon, das hervorragend funktioniert. Sieh nur zu, dass du unter fünf Minuten bleibst, für den Fall dass jemand wegen einer Bestellung anruft.«

Jaycee sah aus, als würde sie gleich heulen oder explodieren oder beides.

Mom versuchte, sie zu beruhigen. »In der Stadt hast du Empfang. Ich habe es eben im Lebensmittelgeschäft versucht und hatte drei Striche. Außerdem bin ich mir sicher, dass es in der Schule Internet gibt.«

»Wir haben auch Lexika«, sagte Onkel Wade. »Die guten mit Goldschnitt. Das mit M hat zwei Bände, aber einer fehlt – ich glaube, der zweite. Wenn du also ein Referat über Montana halten musst, hast du Pech gehabt. Aber bei Mississippi oder Missouri oder Michigan hast du Glück.«

Während Onkel Wade redete, hob Arlo die Hand. Er hatte eine wichtige Frage und wollte nicht, dass sie unbeantwortet blieb. Seine Mutter nickte ihm zu.

»Wie sollen wir ohne Internet mit Dad reden?«, fragte er.

Arlos und Jaycees Vater hielt sich in China auf. Er war seit drei Jahren dort, seit dem Tag, als das FBI in sein Büro in Philadelphia gekommen war, um ihn festzunehmen. Sie hatten keinen Erfolg gehabt, weil er da schon in einem Flugzeug saß. Die Regierung behauptete, ihr Vater habe das Gesetz gebrochen, weil er mithilfe von Computern Geheimzahlen geknackt hatte. Viele Leute sagten, dass das, was Arlos Vater getan hatte, kein Verbrechen sei, aber er konnte nicht riskieren, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren und verhaftet zu werden.

Also war er auf unbestimmte Zeit in China, eine Formulierung, die die Leute, das hatte Arlo gelernt, dann verwendeten, wenn sie »mehr oder weniger für immer« meinten.

Und so fühlte es sich auch an: sowohl endlos als auch nicht von Dauer.

Arlos Familie war oft umgezogen, doch seit sein Vater weg war, häuften sich die Umzüge noch mehr. Zuerst Philadelphia, dann Chicago – eine Reihe winziger Apartments und Häuser, die man sich mit Fremden teilen musste. An seiner dritten Schule hatte er aufgegeben, neue Freundschaften zu schließen. Er wusste, es war nicht wahrscheinlich, dass er lange genug bleiben würde, als dass es sich lohnen würde.

Bei alldem waren die Telefonate mit Dad die einzige Konstante. Jeden Sonntagmorgen unterhielten sie sich per Videochat am Computer mit ihrem Vater. Er trug seinen Laptop ans Fenster seines winzigen Apartments in Guangzhou, um ihnen die Lichter der Stadt zu zeigen – dort war Nacht –, erzählte Arlo von den seltsamen Dingen, die er gegessen hatte, und erkundigte sich, wie es in der Schule lief. Sein Dad brachte ihm chinesische Ausdrücke bei, darunter angeblich auch Schimpfwörter.

Wie konnten sie ohne Internet ihre wöchentlichen Anrufe bei Dad machen?

»Wir lassen uns was einfallen«, sagte seine Mom.

Genau in diesem Moment flackerten die Lichter, bevor sie schließlich ganz ausgingen. Abgesehen vom schwachen Mondlicht, das durch die gläserne Schiebetür schien, war es dunkel im Zimmer.

»Das ist nur der Wind«, sagte Onkel Wade. »Gleich haben wir wieder Strom.«

Arlo begann, leise zu zählen. Er konnte hören, wie die Gabel seines Onkels Spaghetti auf dem Teller drehte. Er konnte Jaycee atmen und den Stuhl seiner Mutter quietschen hören. Und über alldem hörte er den Wind an den Fenstern rütteln.

Arlo kam bis fünfzig, bevor er aufhörte. Die Lichter waren nicht wieder angegangen.

»Wartet einen Moment«, sagte Onkel Wade und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ich hole Taschenlampen.«

Jaycee und Arlo erledigten den Abwasch beim Licht einer batteriebetriebenen Laterne.

»Mom zerreißt es gleich«, sagte Jaycee, während sie die Seifenblasen abspülte.

»Nein, tut es nicht«, sagte Arlo. Ihre Mutter konnte gar nicht zerreißen, weil Jaycee schon in Chicago gesagt hatte, dass es sie zerreißt, und das war vor acht Tagen gewesen. Wenn es einen einmal zerrissen hat, kann man nicht noch mal zerreißen.

Arlo wusste nicht mal genau, was mit dem »es« gemeint war, aber es hatte damit zu tun, dass ihre Mom einen Stuhl durch ein Fenster geworfen hatte. Oder gegen ein Fenster. Er wusste, dass ein Stuhl eine Rolle gespielt hatte und die Sache so schlimm war, dass seine Mutter ihren Job bei der Versicherung aufgeben musste. Innerhalb von ein paar Tagen hatten sie übers Internet ihre Möbel verkauft und den Anhänger gemietet, um das, was noch übrig war, nach Colorado zu schaffen.

»Hör mal, Arlo«, sagte Jaycee mit gesenkter Stimme, was bedeutete, dass es wichtig war. »Wir werden jetzt viel mehr helfen müssen. Mom hat großen Stress und wir dürfen ihn nicht noch größer machen. Wenn also was passiert, müssen wir allein damit klarkommen und sie damit in Ruhe lassen.«

Arlo war schockiert, seine Schwester so reden zu hören, vor allem nach ihrem Ausbruch wegen des Internets vorhin. Das war doch noch dasselbe Mädchen, das Mom zweimal die Woche angeschrien hatte, hauptsächlich wegen irgendwelcher Regeln und Pflichten. Warum gab ausgerechnet sie Arlo plötzlich Lehrstunden in Hilfsbereitschaft?

»Mom möchte ganz offensichtlich nicht hier sein«, sagte Jaycee. »Wir wären schon vor Jahren hergekommen, wenn dieser Ort nicht der absolut letzte Ausweg gewesen wäre. Entweder hier oder obdachlos.«

»So schlimm ist es gar nicht«, sagte Arlo. »Dad schickt so viel Geld, wie er kann.«

»Es reicht nicht. Deshalb werde ich mir für nach der Schule einen Job suchen.«

»Und was für einen?«

»Ich weiß nicht. In einem Laden oder so.«

»Aber du hasst Menschen.«

Jaycee war nicht beleidigt. »Wir müssen alle über uns hinauswachsen. Du kannst Mom nicht mit jedem Pups kommen. Wenn die Kinder in der Schule gemein sind, dann ertrag es einfach. Wenn du wieder Stimmen hörst, dann achte einfach nicht auf sie.«

»Ich habe schon lange keine Stimmen mehr gehört.«

»Gut«, sagte Jaycee. »Weil Mom nämlich nicht noch mehr erträgt.«

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Arlo war zu groß, als dass man ihn noch ins Bett bringen musste, aber er widersprach nicht, als seine Mutter mit ihm nach oben ging, um zu sehen, wie er ausgepackt hatte.

Im Licht der Taschenlampe zeigte er ihr, wie er seine Kleidung von Kopf bis Fuß sortiert hatte, die Shirts und Mützen in der obersten Schublade, Hosen in der mittleren und Socken und Unterwäsche in der ganz unten. Der Logik nach gehörte die Unterwäsche in die mittlere Schublade, aber in der Sockenschublade war mehr Platz. Abgesehen davon zog er seine Socken und Unterwäsche oft gleichzeitig an, sodass er sich auf diesem Weg das Öffnen einer weiteren Schublade sparte.

Seine Mom gab zu, dass das Sinn ergab.

»Ich habe nachgedacht, Arlo«, sagte sie. »Das Restaurant in der Stadt hat richtig gute Pfannkuchen und ich wette, dass sie da auch WLAN haben. Vielleicht könnten wir an den Sonntagen mit dem Computer hingehen, um deinen Dad anzurufen. Es wäre so, als würde er mit uns frühstücken.«

Arlo hielt das für eine tolle Idee. Außerdem klang die Verbindung von Vergnügen (Pfannkuchen) mit etwas, das wichtig war (Dad anrufen), nach der Sorte Vorschlag, die seine Mutter früher gemacht hatte.

Warum auch immer etwas seine Mutter »zerrissen« hatte, vielleicht setzte sie sich ja langsam wieder zusammen.

Er wollte ihr von dem Hund erzählen, den er gesehen hatte – den, von dem Onkel Wade gesagt hatte, dass er tot sei –, aber gleichzeitig wollte er nichts erwähnen, was sie vielleicht beunruhigen könnte. Als er also in das beinahe-zu-weiche Bett stieg, beschloss er, stattdessen eine Frage zu stellen: »Hattest du eigentlich mal einen Hund?«

Seine Mutter saß auf der Bettkante. Nur im Mondschein, der durchs Fenster fiel, konnte Arlo sie erkennen. »Als ich im College war, hatten meine Mitbewohnerinnen und ich einen Hund. Sie hieß Rosie und war eine Streunerin, die wir gefunden hatten. Sie wurde so was wie unser Maskottchen. Wenn wir eine Party gefeiert haben, war sie nachher auf jedem Bild. Ich habe Examen gemacht und bin weggezogen, aber sie ist bei den neuen Bewohnern im Haus geblieben. Dort gehörte sie hin.«

»Und als du ein Kind warst? Hattet ihr hier draußen einen Hund?«, fragte Arlo.

»Mehr oder weniger. Er lebte draußen und kam nur bei Schneesturm rein. Und selbst dann hat er sich noch versteckt.«

»Wie hieß er?«

»Cooper«, antwortete sie.

Arlos Herz machte einen Satz. Sein Onkel hatte die Wahrheit gesagt. Es gab wirklich einen Hund namens Cooper. Das war der Hund, den er gesehen hatte.

»Warum fragst du?«

Arlo wusste nicht, was er sagen sollte, ohne zu viel zu verraten. Zum Glück redete seine Mutter schon weiter. »Meinst du, wir sollten uns einen Hund anschaffen? Das ginge schon, denke ich. Wir haben viel Platz. Aber erst mal sollten wir uns hier einrichten, was meinst du? Vielleicht zuerst ein paar Gabeln kaufen und unsere Sachen waschen?«

Arlo stimmte ihr zu.

Seine Mutter strich ihm durchs Haar. »Ich weiß, es ist unheimlich in einer neuen Stadt. Neue Schule. Neue Freunde. Aber wir sind darin ja so was wie Experten, nicht wahr?« Arlo lächelte. »Und ich habe das Gefühl, dass das hier gut wird. Ich weiß, dieses Haus sieht ziemlich wackelig aus, aber es ist solide. Es ist sicher. Es wird uns hier gut gehen.«

Sie bot ihm eine Taschenlampe an und er war glücklich darüber. Danach zu fragen, wäre ihm zu peinlich gewesen. Sie küsste ihn auf die Stirn und ging zur Tür. Arlo leuchtete ihr den Weg. Kurz bevor sie die Tür schloss, fragte er noch: »Ist der Wald sicher?«

Sie hielt einen Moment inne. »Natürlich ist er das«, antwortete sie. »Bleib einfach immer in Sichtweite vom Haus. Ich will nicht, dass du dich verirrst.«

Sie warf ihm einen Kuss zu und schloss leise die Tür.

Ein paar Sekunden später kletterte Arlo aus dem Bett und öffnete das Fenster.

Es war beinahe Vollmond. Doch so hell der Mond leuchtete, das Licht erstarb am Rand des Waldes wie an einer dunklen Wand, an die nur der Wind rührte.

In diesem Rauschen hörte Arlo seltsame Vögel singen und auf einer fernen Straße Motorengeräusche.

Der Schein der Taschenlampe beleuchtete den Bereich direkt unter dem Fenster, reichte aber nicht bis dorthin, wo er den Hund gesehen hatte. Plötzlich stellte Arlo sich vor, wie es wohl von der anderen Seite aussah, was ein Wesen aus dem Wald sehen würde: ein helles Licht im Obergeschoss, das sich langsam hin und her bewegte.

Es könnte nach einer Einladung aussehen.

Arlo machte die Taschenlampe aus, schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Er stieg wieder ins Bett und schlief traumlos die ganze Nacht hindurch.

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SCHULE

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Die Ortschaft von Pine Mountain war so klein, dass man sich ganz dicht über die Karte beugen musste, um sie überhaupt zu finden. Hatte man es einmal geschafft, sah man lediglich einen winzigen Punkt in einem riesigen Wald, erreichbar über eine zweispurige Bergstraße, deren kurvenreicher Verlauf an die Linien einer verrückten Kreidekritzelei erinnerte.

Pine Mountain lag nicht mal an der richtigen Stelle. Ursprünglich ein Lager, das um 1850 Minen belieferte, wurde die Stadt von einer Sturzflut zerstört und später ein Stück weiter den Canyon hinauf, außerhalb der Reichweite des Big Steven River, neu aufgebaut. Der Souvenirladen, der gleichzeitig Postamt und Eissalon war, stellte das einzig echte historische Gebäude der Stadt dar. Der Rest bestand aus einer bunt zusammengewürfelten Ansammlung winziger Läden, Blechhütten und Nurdachhäuser.

In Pine Mountain gab es eine Bushaltestelle, eine Ampel und eine Schule – alles an derselben Kreuzung.

Die Schule befand sich in einem niedrigem Backsteingebäude mit einem riesigen Anker draußen vor dem Eingang. Arlo fand es seltsam, dass eine Schule, die so hoch in den Bergen lag, einen Anker als Symbol hatte. Seine Mom sagte, den habe man zu Ehren eines berühmten Admirals aufgestellt, der in der Stadt aufgewachsen war und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Arlos Mutter war als junges Mädchen auf die Pine Mountain gegangen und hatte den Admiral tatsächlich bei der feierlichen Einweihung des Ankers kennengelernt.

Arlo versuchte, sich seine Mutter als Kind vorzustellen, aber es gelang ihm einfach nicht. Der Anker hatte Rost angesetzt. Und seine Mutter war sogar noch älter als dieser rostige Anker.

Die Schule reichte vom Kindergarten bis zur achten Klasse. Neuntklässler wie Jaycee mussten mit dem Bus ins fünfzehn Meilen entfernte Havlick fahren. Arlo war zwar froh, auf eine andere Schule zu gehen als seine Schwester, aber dennoch enttäuscht, immer noch auf die Grundschule zu müssen. In Chicago gehörte die sechste Klasse zur Mittelstufe und war in einem eigenen Gebäude untergebracht gewesen.

Während seine Mutter den Papierkram erledigte, wartete Arlo im Sekretariat. Seine Füße taten weh. Seine guten Schuhe waren ein bisschen zu klein, aber er wollte sich nicht beschweren.

Links von sich konnte er ins Krankenzimmer schauen. Dort sah er zum ersten Mal Henry Wu, der über und über mit einem leuchtend lila Glibber bedeckt war.

Arlo sollte bald herausfinden, dass Henry Wu nur deshalb Wu genannt wurde, weil es noch drei weitere Henrys in seiner Jahrgangsstufe gab. Außerdem konnte man sich Wu leicht merken.

Der Glibber klebte in Wus Haaren und Augen und Ohren und an seinem Mund. Wenn er ausatmete, sprudelte er aus seiner Nase.

Noch seltsamer als die klebrige lila Flüssigkeit war aber das Geräusch. Jedes Mal, wenn Wu sich bewegte, löste er ein anhaltendes Glockenläuten aus. Der Ton erinnerte Arlo an Weihnachten und Windspiele und Flipperautomaten. Nur dass er von Wu kam oder genauer gesagt von dem Glibber, der ihn bedeckte.

Arlo überlegte, welche anderen Flüssigkeiten es gab, die solch ein Geräusch machten. Das Meer war laut, wenn die Wellen gegen die Felsen schlugen. Öl zischte in der Pfanne, wenn es heiß wurde.

Aber nichts klingelte wie Glocken – außer Glocken. Und dieser Glibber.

Die Krankenschwester der Schule, eine ältere Frau mit baumelnden türkisfarbenen Ohrringen, fing an, Wu mithilfe einer Spritzflasche einzusprühen, und versuchte, den lila Schleim mit einem rauen braunen Papiertuch abzurubbeln.

Arlo wusste, dass es unhöflich war zu starren, aber er konnte einfach nicht damit aufhören. Es war viel zu faszinierend.

»Mach die Augen fest zu, Herzchen«, sagte die Schwester, bevor sie Wu mitten ins Gesicht sprühte. Aus was auch immer der Glibber bestand, sie musste heftig schrubben, um ihn abzukriegen. Und bei jeder Handbewegung läuteten mehr Glocken.

Einmal öffnete Wu die Augen und entdeckte Arlo, der seine Entglibberung konzentriert beobachtete. Die Schwester folgte seinem Blick, seufzte und schloss dann die Tür zum Sekretariat, damit sie ungestört waren.

Arlo hob den Blick, als seine Mom samt einem Mann mit Bart und Hosenträgern zurückkehrte: der Direktor. »Also dann, Arlo. Lass uns in deine Klasse gehen.«

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Die Lehrerin der sechsten Klasse war Mrs Mayes. Sie trug eine Halskette aus dicken Holzperlen und ein Kleid, das aussah, als bestünde seine Vorderseite aus mindestens hundert Knöpfen.

Arlo war erleichtert, dass er sich nicht wie an manchen seiner vorherigen Schulen selbst vorstellen musste. Stattdessen sagte ihm Mrs Mayes einfach, dass er sich einen leeren Platz suchen solle, und fuhr mit der Mathestunde fort. Es ging ums Multiplizieren von Brüchen, was Arlo schon konnte.

Etwa zehn Minuten später öffnete sich die Tür zum Klassenraum und Henry Wu kam herein. Der größte Teil des lila Glibbers war verschwunden, aber an seinen Ohren sah man immer noch Spuren davon. Die Kinder johlten und lachten.

Aber niemand schien schockiert, wie Arlo feststellte. Die Kinder fanden es eher lustig als merkwürdig, was irgendwie seltsam war.

An jeder anderen Schule, auf der Arlo bisher war, hätte ein Kind mit lila Farbe im Gesicht sicher für Erstaunen gesorgt. Aber in Pine Mountains schienen alle Schüler genau zu wissen, was passiert war. Und viele von ihnen fanden das offensichtlich saukomisch.

Mrs Mayes bedachte die Klasse mit einem finsteren Blick. »Das reicht. Setz dich auf deinen Platz, Henry.« Aber das Gemurmel hörte nicht auf.

Wus Tisch lag auf der anderen Seite des Raums. Beim Gehen verursachte er schwache klingelnde Geräusche wie von einem Katzenhalsband, an dem ein Glöckchen angebracht ist. Die Kinder versuchten, ihr Lachen zu unterdrücken, aber das machte alles nur noch lustiger.

Als er schließlich an seinem Tisch angekommen war, setzte sich Wu, so leise er konnte.

Arlo saß eine Reihe hinter ihm, nahe genug, um mitzuhören, als sich ein dunkelhaariges Mädchen zu Wu hinüberbeugte und flüsterte: »Hast du das Flurbuch wirklich nicht gelesen?«

»Ich hab es gelesen«, flüsterte Wu zurück. »Ich wollte ja auch nur einen im Glas haben.«

»Man soll sie Beobachten, nicht Sammeln.« So, wie sie die Worte aussprach, da war Arlo sich ziemlich sicher, wurden sie großgeschrieben. »Nächstes Mal machst du einfach eine Zeichnung.«

»Indra«, ertönte die verärgerte Stimme der Lehrerin.

»Entschuldigung, Mrs Mayes«, bat Indra und es klang, als täte sie das öfters.

Während die Klasse sich wieder den Brüchen zuwandte, rasten die Gedanken nur so durch Arlos Kopf. Was hatte Wu in ein Glas zu stecken versucht? Was war das für ein lila Glibber? Und wann war endlich Pause?

Die Antwort auf die letzte Frage erhielt er zuerst. Als die Klasse zur Morgenpause hinausströmte, stellte Arlo sich an den Rand und beobachtete, wie einige der Jungs sich im Vorbeigehen über Wu lustig machten, ihn Klingelschlumpf oder Träubchen nannten. Es wirkte nicht besonders gemein – mehr, als wollten sie ihn necken – und Wu schien es gelassen hinzunehmen.

Einmal schüttelte Wu den Kopf wie ein Hund, um zu demonstrieren, wie viel Geklingel noch in ihm steckte.

Arlo war erleichtert, dass jemand anders im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Als neuer Schüler richteten sich normalerweise alle Blicke auf ihn. Aber wegen des geheimnisvollen lila Vorfalls schien niemand auf ihn zu …

»Warum bist du hergezogen?«, fragte Indra, die plötzlich neben ihm stand. »Kein Mensch zieht nach Pine Mountain. Meine Familie war die letzte, und das war vor drei Jahren und auch nur, weil die Stadt einen neuen Arzt brauchte, nachdem der alte gestorben war.«

»Wie ist er gestorben?«, fragte Arlo.

»Er hat Pilze gesammelt – du musst dich in Acht nehmen, denn die giftigen sehen genauso aus wie die guten – und wurde von einem Puma angegriffen. Er lief weg, fiel dann von einem Felsvorsprung und landete in einem eiskalten Fluss. Außerdem war er 85. Eine Kombination verschiedener Dinge also.« Während sie redete, band sie ihr dickes schwarzes Haar mit einem Gummi zusammen. »Warum also bist du hergezogen?«

»Meine Mom ist hier aufgewachsen«, antwortete Arlo. »Wir haben ein Haus an der Green Pass Road.«

»Du solltest aufpassen«, schaltete Merilee Myers sich ein, ein großes Mädchen mit langen Locken. Sie sprach in einem seltsamen Singsang, so, als ob alles, was sie sagte, Poesie wäre. »In der Green Pass Road lebt ein Verrückter. Er stopft tote Tiere aus und verkauft sie.«

Sie sprach zweifellos von Onkel Wade. »Okay« war alles, was Arlo erwiderte.

Als Wu sich zu ihnen gesellte, deutete Indra auf Arlo. »Wir haben ihn vor den Pilzen gewarnt.«

»Und vor dem Verrückten in der Green Pass Road«, ergänzte Merilee.

»Er hat seine Werkstatt hinterm Haus«, sagte Wu. »Russell Stokes ist mal hingeschlichen, um reinzugucken, und hat gesehen, wie er einen goldenen Wolpertinger ausgestopft hat.«

»Was ist ein Wolpertinger?«, fragte Arlo.

Indra, Wu und Merilee sahen ihn an, als hätte er gerade gefragt »Was ist ein Briefkasten?« oder »Wie funktioniert eine Zahnbürste?«. Arlo schämte sich. Hatte er bei seinen vielen Schulwechseln etwas Wichtiges verpasst? Wussten alle Kinder außer Arlo Finch, was ein Wolpertinger war?

»Ein Kaninchen mit Geweih«, erlöste ihn Wu.

Arlo konnte sich so ein Tier ungefähr vorstellen. Schwerer fiel ihm hingegen die Vorstellung, wie solch ein Wesen mit Geweih herumhüpfen sollte. Wie sollte es in seinen Bau passen, wenn es einen Bau hatte? Hatten Kaninchen überhaupt einen Bau? Arlo stellte fest, dass er nicht viel über normale Kaninchen wusste, geschweige denn über Kaninchen mit einem Geweih.

»Es bringt großes Pech, einen goldenen Wolpertinger zu töten«, erklärte Wu. »Ungefähr so viel, wie wenn man tausend Spiegel zerbricht.«

»Oder unter hundert Leitern durchgeht«, sagte Indra.

»Oder mit Streichhölzern spielt«, ergänzte Merilee.

Arlo fragte sich, ob das Letzte nicht eher eine schlechte Idee war, als dass es Unglück brachte. Unabhängig davon … »Er tötet sie nicht«, entfuhr es ihm. »Er tötet überhaupt keine Tiere. Er findet nur welche, die schon tot sind, und lässt sie dann wieder lebendig aussehen.«

Indras Augen wurden schmal. »Woher weißt du das?«

»Ich habe ein Buch darüber gelesen«, sagte Arlo. (Das war eine Lüge.) »Man nennt es Taxidermie.« (Das war die Wahrheit.) Arlos Antwort schien sie zufriedenzustellen, dennoch hielt er es für klüger, das Thema zu wechseln. Er deutete auf den verbliebenen lila Glibber unter Wus Ohr. »Kommt das wieder in Ordnung bei dir?«

»Wenn ich zu Hause bin, gehe ich gleich unter die Dusche«, sagte Wu.

»Normale Seife hilft nicht«, sagte Indra. »Du wirst Regenwasser verwenden müssen oder besser noch Hirschurin. Auf Seite sechsundneunzig im Flurbuch steht ein ganzer Absatz über Feenkäfer.«

Arlo verkniff sich die Frage, was Feenkäfer waren. Aber Wu drehte sich zu ihm um. »Haben sie welche dort, wo du herkommst?«

»Natürlich haben sie welche«, antwortete Indra, bevor Arlo es tun konnte. »Feenkäfer kommen aus den Long Woods und die Long Woods reichen überallhin.«

»Nicht ins All«, sagte Wu.

»Selbstverständlich nicht ins All. Aber sonst überallhin.«

Auf jede Antwort, die er erhielt, stellten sich Arlo Finch drei weitere Fragen. Was war das Flurbuch? Was waren die Long Woods? Woher bekam man Hirschurin?

Aber da klingelte es und die Pause war vorbei. Er würde bis zum Mittagessen warten müssen.

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An diesem Morgen hatte Arlo ein Truthahnsandwich, einen Apfel und ein Trinkpäckchen eingepackt – das gleiche Mittagessen, das er auch jeden Tag in Chicago dabeigehabt hatte. Doch als er sich an den langen Tisch in der Cafeteria setzte, fühlte er sich dennoch, als würde er verhungern. Er war mit seinem Sandwich fertig, bevor er auch nur den Strohhalm in sein Getränk gestochen hatte.

Ein Blick nach links und rechts verriet ihm, wie viel mehr seine Klassenkameraden zu essen mithatten. Ihr Mittagessen umfasste locker das Doppelte von seinem. Viele Kinder hatten zwei Sandwiches. Vor anderen stand eine riesige Plastikschüssel mit Nudeln oder Reis. Merilee hatte sogar einen ganzen Salatkopf und eine Flasche mit Salatdressing zum Drübergießen.

Es wurde wenig gesprochen oder herumgealbert. Alles, was er hörte, waren Auspack- und Kaugeräusche.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Wu und biss herzhaft in ein ganzes Grillhähnchen aus dem Supermarkt.

»Doch«, gab Arlo zu. »Warum bin ich so hungrig?«

»Es ist die Höhe«, verriet ihm Indra und verteilte eine gelbe Paste auf einem dunkelbraunen Brot mit Körnern. »Wir sind zwei Meilen über dem Meeresspiegel, also verbraucht dein Körper mehr Kalorien. Es ist, als wärest du ein Lagerfeuer. Man muss immer Holz nachlegen, damit es weiterbrennt.«

Sie bot ihm einen Bissen von ihrem seltsamen Brot an, aber Arlo lehnte ab.