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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

Worum geht es im Buch?

Franz Taut

Brigade der Verdammten

Die Weiten Polens und Russlands, die Städte und Dörfer dieser Gebiete waren 1939 gezeichnet von brennenden Häusern, Blut und Tränen. Diese Spuren hinterließ die als »Mordbrigade« bekannte Einheit des SS-Oberführers Dirlewanger. Himmler und sein »Hauptamt SS« schufen diese Truppe, die die Ehre des Frontsoldaten tausendfach mit Füßen trat.

Klar und realistisch behandelt Franz Taut dieses Thema über die Mordbrigade des SS-Oberführers Dirlewanger. Er zeigt den Wahnsinn einer absoluten Diktatur, in der Menschenrechte und Menschenwürde zum Spielball der Macht wurden und für die das Leben des Menschen keinen Wert besaß.

Inhalt

Worum geht es im Buch?

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

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1

Der Kurier im Lubliner Bezirk der Armia Krajowa, die seit der Zerschlagung Polens im Untergrund kämpfte, war bis zum Ausbruch des Krieges Studentin gewesen. Sie hieß Valeska Dombrowska, war 23 Jahre alt, dunkeläugig, braunhaarig und hatte bei den Kommilitonen in der Hauptstadt als begehrenswerte Schönheit gegolten, bevor der Krieg ein abgehetztes Geschöpf aus ihr machte, das schäbige, abgetragene Kleidung trug, um beim Feind nicht aufzufallen. Seit mehr als drei Jahren war ihr Haar, das einst in seidigen Wellen das zarte, immer ein wenig blasse Gesicht umschmeichelt hatte, nicht mehr von der Hand eines Friseurs berührt worden. Es hatte seinen Glanz verloren und sah aus, als sei es mit einer stumpfen Schere abgerupft worden. Aber zumeist verbarg sie es ohnehin unter einem Kopftuch, wie es die Frauen und Mädchen niederer Stände zu tun pflegten.

Einst hatte sie in der Hauptstadt Musik studiert. Nun war ihre Musik das Knallen von Schüssen und das Rattern von MGs, wenn die kleinen, verstreuten Gruppen der Armia Krajowa, der Heimatarmee, den Feind nach Partisanenart aus dem Hinterhalt überfielen.

Im September 1939 war der Feind in das Land eingezogen, zuerst von Westen, von der deutschen Grenze her, aber bald auch von Osten aus der Sowjetunion. Die Grenze zwischen der deutschen und der sowjetischen Interessensphäre, die nicht allzuweit ostwärts von Lublin am Bug verlief, hatte das Land, wie schon wiederholt in der leidvollen Geschichte Polens, geteilt, aber am 22. Juni 1941 hatten die Deutschen die in ihrem Freundschaftspakt mit Sowjetrussland festgelegte Grenze überschritten, hatten die Rote Armee aus dem polnischen Staatsgebiet vertrieben und waren ihr tief nach Russland hinein gefolgt. Seither herrschten die Deutschen in ganz Polen. In dem ehemaligen von den Russen besetzten Gebiet hatte der Terror der Deutschen den Terror der Bolschewisten abgelöst.

Valeska Dombrowska, obgleich sie nicht jüdischer Abkunft war, verbarg sich, wenn sie nicht unterwegs war auf Wagen, auf denen sie jedesmal ihr Leben aufs Spiel setzte, seit dem 8. Dezember 1941, dem Tag von Mariä Empfängnis, im Ghetto von Lublin. Das Ghetto war von einer Mauer umgeben. An den Eingängen wachten deutsche und polnische Polizei. Innerhalb der Mauer hatten die Juden einen eigenen Ordnungsdienst aufgestellt. Viele der jüdischen Ordner standen heimlich mit der Armia Krajowa in Verbindung und halfen verfolgten Christen, die im Ghetto Zuflucht suchten. Auch Valeska Dombrowska war in jener eisigen Winternacht, nachdem sie mit knapper Not einer Razzia von SS-Truppen entkommen war, als Flüchtling im Ghetto erschienen, und die gepeinigten Juden hatten sie wie eine Schwester aufgenommen. Durch einen unterirdischen Gang, den die Deutschen nicht kannten, ging sie seither ein und aus.

An diesem Morgen, dem Morgen des 27. März 1942, war ein Jude, der ihr schon öfters Nachrichten übermittelt hatte, in ihrem Schlupfwinkel erschienen. Erregt hatte er ihr berichtet, die Deutschen planten einen Angriff auf das Waldgebiet, in dem die Partisanengruppe des Kapitäns Lipski ihr festes Lager hatte. Die Weitergabe von Meldungen durch Funk war schon seit Langem untersagt. Denn die Peilgruppe der Deutschen hatte zahlreiche Funkstellen ausgehoben. Durch Folterungen waren schwerwiegende Geständnisse erpresst worden.

In einer abgewetzten, an den Nähten geplatzten Jacke aus Schafleder, einem fadenscheinigen, am Saum ausgefransten Rock und derben, hohen Stiefeln hatte Valeska Dombrowska durch den stinkenden Schlund der Kanalisation das Ghetto verlassen. In dem von der Besatzungsbehörde lizenzierten Lastwagen des Händlers Ladislaw Gron, der befugt war, bei den Bauern Lebensmittel für den Markt von Lublin einzukaufen, war sie nach Südosten gefahren. Zweimal hatten sie auf der Fahrt rastende deutsche Truppen überholt. An den Kragenspiegeln der Soldaten hatte Valeskas geschultes Auge das mit einer Handgranate gekreuzte Gewehr entdeckt, das gefürchtete Abzeichen der »Bluthund-Brigade«, wie die polnischen Patrioten die SS-Sondereinheit unter dem Kommando des SS-Sturmbannführers Dirlewanger nannten. Im düsteren Waldgebiet südostwärts Glusk war Valeska seitlich der Straße verschwunden.

Die fast zweijährige Tätigkeit als Kurier der Partisanen hatte in der einstigen Musikstudentin aus Warschau Instinkte geweckt, wie sie tief im Unterbewusstsein wohl jedes zivilisierten Menschen schlummern. Wie ein Tier in seinen heimischen Wäldern spürte sie im dichtesten Unterbusch Wildwechsel auf, bewegte sich schnell und trotzdem vollständig lautlos und brauchte längst keinen Kompass mehr, um sich zu orientieren.

Diesmal jedoch ließ sie die sonst geübte Vorsicht außer Acht und rannte durch den Wald, in dem die ersten nach einem mörderisch harten Winter zurückgekehrten Singvögel ihre Stimmen ertönen ließen. Ihre Schritte verlangsamten sich erst, als sie sich den Minensperren näherte, die Kapitän Lipski um das Lager hatte anlegen lassen.

Ein Schimmer von frisch aufgebrochenem Grün hellte die Düsterkeit des Waldes auf. Aber zwischen Baumwurzeln, in Erdrissen und moosigen Schluchten hielten sich noch Reste von körnigem Schnee.

Valeska durchquerte behutsam auf der ihr bekannten freigehaltenen Gasse die tief gestaffelte, mit Stolperdrähten durchzogene Minensperre.

Ein Posten, der unsichtbar in einer Baumkrone saß, rief sie an.

Sie gab die Parole: »Bialystok!«

»Sie sind es, Valeska«, rief der Posten, der sie erkannt hatte, leise von seinem Hochsitz herab. »Was bringen Sie? Sicher nichts Gutes.«

»Das Schlechteste«, antwortete sie und hastete weiter.

Kapitän Lipski sieht Dombrowska aus dem Unterholz auftauchen und geht ihr entgegen. Als Einziger trägt er die vollständige Uniform der zerschlagenen polnischen Armee, das eckig geformte Offizierskäppi, den lehmfarbenen Waffenrock, in dem Tausende seiner gefangenen Kameraden im Jahre 1939 von der Roten Armee nach Russland verschleppt worden sind in die grauenvolle Nacht von Katyn, von der im Frühjahr 1942 noch niemand etwas weiß.

Das befestigte Lager der Partisanengruppe besteht aus metertief in die Walderde versenkten Bunkern. Gegen Fliegersicht sind die aus Baumstämmen zusammengefügten Behausungen meisterhaft mit ineinander verwachsenem Buschwerk und jungen Eichenbäumen getarnt. Aus den Schießscharten der Bunker starren Karabiner und Maschinengewehrläufe. Die Waffen sind deutscher, sowjetischer und zum geringsten Teil polnischer Herkunft, ebenso die Uniformstücke, die Stiefel und die gesamte sonstige Ausrüstung der Mannschaft. Man hat sie nach nächtlichen Überfällen den getöteten Feinden abgenommen.

Die Partisanen, achtzig Mann hoch, bärtige Krieger und Jünglinge mit abgezehrten Gesichtern, lungern untätig zwischen den Bunkern herum. Teilnahmslos starren die meisten vor sich hin. Nur Einzelne folgen mit ihrem Blick dem Kapitän, wie er mit federndem Schritt in seinen engen, blanken Stiefeln dem Mädchen entgegengeht, das in unregelmäßigen Zeitabständen im Lager erscheint und Befehle des Oberkommandos überbringt, von dem niemand weiß, wo es sich aufhält, nicht einmal der Kurier Valeska Dombrowska.

Kapitän Lipski streckt Valeska seine kräftige schmale Hand entgegen. Früher, im anderen, besseren Leben ist er ein bekannter, erfolgreicher Turnierreiter gewesen, von den Frauen verwöhnt und zeitweilig bis über den Hals verschuldet. Von allem ist nur seine männliche gepflegte Erscheinung geblieben, die schlanke sehnige Reitergestalt, der kecke Schnurrbart und der scharfe Blick seiner grauen Augen.

Als sie die Hand des Kapitäns ergreift, sieht Valeska in ihm nicht den einstigen Helden zahlreicher Abenteuer. Für sie ist er nichts anderes als ein Kommandeur, dem sie eine wichtige Meldung zu überbringen hat. Für Valeska Dombrowska gibt es nichts anderes mehr als den Einsatz für die vom Feind gequälte Heimat.

Mit todernster Miene berichtet sie dem Kapitän, während sie an seiner Seite zum Lager geht.

»Der Stützpunkt muss verraten worden sein, Kapitän. Der Feind ist in Bataillonsstärke im Anmarsch. Ein Zweifel ist nicht möglich. Ich selbst habe auf der Fahrt rastende Kolonnen gesehen. Sie gehören der Sondereinheit an, die von SS-Offizieren geführt wird. Sie werden den Wald umstellen. Zum Ausweichen ist es zu spät, Kapitän. Wir müssen kämpfen.«

»Wir?«, wirft Lipski fragend ein. »Wieso wir? Sie meinen wohl, für mich gibt es keine andere Wahl, Valeska Dombrowska?«

»Ich bleibe bei Ihnen, Kapitän«, entgegnet sie gleichmütig, ohne die Stimme zu erheben.

Seine Hand fährt mit schneidender Bewegung durch die Luft.

»Nein«, sagt er hart. »Ich befehle Ihnen, sich in Sicherheit zu bringen. Ein lebender Kurier ist wichtiger als eine tote Partisanin. Oder befürchten Sie, dass wir ohne Sie nicht sterben können?«

Es sollte spöttisch klingen, wirkt aber resigniert.

Valeska gibt keine Antwort. Sie weiß, was sich hier in wenigen Stunden abspielen wird. Der Feind wird in den Wald vorrücken. Er wird das Lager einschließen, wird es mit seiner Übermacht unter Feuer nehmen. Keiner wird entkommen. Und man kann nur zu Gott beten, dass niemand der »Bluthund-Brigade« lebend in die Hände fällt.

Kapitän Lipskis Blick geht suchend über die zerlumpten Gestalten seiner Partisanen. Der eine trägt einen mit Flicken besetzten Bauernrock, der andere eine feldgraue Bluse, die noch dunkle Blutflecken aufweist, der dritte den erdfarbenen Kittel eines Rotarmisten. Auch die Kopfbedeckungen sind uneinheitlich. Pelzmützen, polnische, deutsche und russische Soldatenmützen.

Auf einem schmalen, blassen Gesicht, auf dem dünner Bartflaum sprießt, bleibt sein Blick haften.

»Matuschka!«

Der Aufgerufene, ein magerer junger Mensch, dessen rechte Hand, dick verbunden, in einer schmutzigen Schlinge hängt, steht auf und tritt vor. Seine rissigen Lippen öffnen sich.

»Zu Befehl, Kapitän.«

Lipski wendet sich an Valeska: »Er geht mit Ihnen.«

Sie begreift. Kapitän Lipski will, dass der Verwundete dem Massaker entkommt. Er ist eine Belastung für sie, aber schweigend fügt sie sich. Gegen ihren Willen füllen ihre Augen sich mit Tränen. Sie sieht die von Entbehrungen gezeichneten Gesichter der Partisanen. Sie spüren wohl, dass Ungewöhnliches bevorsteht. Vielleicht sagt ihnen schon eine düstere Vorahnung, was sie erwartet. Keiner wird den Tag überleben, selbst wenn er in dem bevorstehenden Gefecht nicht getötet werden sollte. Diese Tiere, die am Kragenspiel das mit einer Handgranate gekreuzte Gewehr tragen, werden mit erlesener Grausamkeit die Verwundeten zu Tode schinden, wenn sie das versteckte Waldlager eingenommen haben.

Kapitän Lipski vermeidet es, der Dombrowska nochmals die Hand zu geben. Er sieht, dass sie mit Mühe die Tränen zurückhält.

»Gehen Sie!«, befiehlt er mit harter Stimme.

Sie verlässt das Lager auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen ist. Boris Matuschka folgt ihr. Anstelle eines Karabiners, den er im Bedarfsfall doch nicht gebrauchen könnte, trägt er am Koppel eine deutsche Pistole 08. Auch Valeska besitzt eine Pistole. Ihre Waffe liegt griffbereit in der Innentasche ihrer Lederjacke. Außerdem hat sie für den äußersten Fall eine Giftkapsel bei sich. Sie weiß nicht alles, aber sie weiß so viel, dass sie sich einer Folterung nicht aussetzen darf.

Mit vorsichtigen Schritten tasten sie sich durch die minenfreie Gasse im Wald.

Auf einmal bleibt Valeska betroffen stehen, Boris verhält hinter ihr und dreht wie sie den Kopf. Im Lager, von dem sie kaum mehr als zweihundert Schritte entfernt sind, hat jemand das Freiheitslied angestimmt: Jeszce Polka nie zgineta (Noch ist Polen nicht verloren).

Andere Stimmen fallen ein. Mächtig erhebt sich der Gesang der Männer, die wissen, dass sie sterben müssen.

Boris hat die zottige Fellmütze abgenommen. Valeska faltet andächtig die Hände vor der Brust. Die Schleusen ihrer Selbstbeherrschung brechen. Tränen strömen über ihre Wangen.

Doch nur sekundenlang überlässt sie sich dem Schmerz.

»Weiter!«, befiehlt sie mit rauer Stimme.

Sie setzen ihren Weg durch den Wald fort. Hinter ihnen verebbt der Gesang und bricht ab.

Dann werden, noch weit voraus, andere Geräusche laut: das Brechen von Zweigen, der Schall scharfer Kommandos. Die Deutschen kommen!

Valeska lauscht. Wenn sie allein wäre, könnte sie auf einen Baum steigen und hoch droben in der Krone versteckt abwarten, bis der Feind vorbeigezogen ist. Aber sie hat Boris bei sich, der nur eine Hand gebrauchen kann. Doch sie kennt den Wald und weiß, wo man sich verbergen kann. Sie führt Boris zu einer von Brombeerranken umwucherten Schlucht. Die Schneeinseln umgeben sie. Boris verschwindet lautlos in der Schlucht. Wenn die Deutschen keine Suchhunde mitführen, werden sie ihn nicht finden.

Valeska geht dem näherrückenden Feind eine Strecke weit entgegen. Vor einer mächtigen Kiefer mit buschigen Zweigen bleibt sie stehen. Wie eine Katze klimmt sie an dem Baum hoch. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hat sie es vorgezogen, nicht bei Boris in der Schlucht zu bleiben.

Die Geräusche werden zusehends lauter. In lockerer Schützenlinie durchkämmen die Soldaten den Wald. Dann kommen die ersten in Sicht. Graue Stahlhelme. Graue Feldblusen. Die Karabiner schussbereit, pirschen sie sich durchs Unterholz. MG-Schützen folgen, von Munitionsträgern begleitet. Ein SS-Offizier, die Pistole in der Rechten, brüllt mit heiserer Stimme:

»Auf Baumschützen achten! Keiner darf auskommen, ihr Höllenhunde! Durchsucht jedes Gestrüpp! Vorwärts! Vorwärts!«

Valeskas Gesicht ist bleich vor ohnmächtigem Zorn. Mörder, denkt sie, Mörder! Sie presst die Lippen zusammen. Auf einmal weiß sie, dass die dort unten den Jungen auch ohne Suchhunde aufspüren werden. Es sind keine stumpf vorantrottenden Soldaten. Sie müssen im Waldkampf geschult sein. Ihnen entgeht nichts. Sie weiß es. Ihr Herz krampft sich zusammen. Warum musste Kapitän Lipski Boris Matuschka befehlen, mit ihr zu gehen? Aber wäre denn der Junge gerettet gewesen, wenn er im Lager geblieben wäre?

Einmal ist ihr, als treffe sie ein nach oben gerichteter Blick. Sie tastet nach der Pistole. Doch nichts geschieht. Der Soldat verschwindet. Dann folgen andere SS-Männer. An ihren Ärmelstreifen erkennt Valeska die Buchstaben SD in der Raute, das gefürchtete Emblem des Sicherheitsdienstes der SS. Warum gehen die mit ihren Maschinenpistolen hinter denen her, die am Kragenspiegel das Gewehr mit der Handgranate führen? Ist es wahr, dass die »Bluthund-Brigade« eine Strafeinheit ist?

Das Peitschen von Schüssen reißt Valeska aus ihren Gedanken. Eine Handgranate explodiert mit dumpfem Krachen. Ein langgezogener, grässlicher Schrei hallt durch den Wald. Der Junge! Sie haben ihn entdeckt. Maria im Himmel, gib ihm einen gnädigen Tod!

Valeska wagt es nicht, ihr Versteck hoch über der Erde zu verlassen. Zu sehen ist nichts mehr. Die Angreifer sind vorbeigezogen. Aber niemand kann sagen, ob nicht Sicherungen zurückgeblieben sind.

Nach einer Weile hört Valeska die dicht aufeinander folgenden Detonationen hochgehender Minen. Dann bricht Gewehrfeuer los. Maschinengewehre spucken schnarrend ihre Salven aus. Gebrüll hebt an. Immer verworrener und wilder tobt der Gefechtslärm. Valeska presst die Fäuste gegen die Ohren. Der Todeskampf der Partisanengruppe des Kapitäns Lipski hat begonnen.

In weitem Umkreis haben sich die Kompanien der »Bluthund-Brigade« an das Waldlager herangeschoben. Ein gefangener Partisan hat zwei Tage zuvor die Lage des Stützpunktes verraten. Unter der Folter hat er dem teuflisch grinsenden Vernehmungsoffizier alle Einzelheiten gestanden. Auch von der Minensperre hat er berichtet, bevor er mit ausgerenkten Gliedern, zerquetscht, zerschunden und geblendet, vom Tod erlöst wurde.

Das Wissen um die Minensperre hat weder den Kommandeur der Brigade noch die Offiziere des Stabes oder die Kompanieführer beeindruckt. Ihre Untergebenen sind für sie nicht mehr als die Partisanen, die man in ihrem Schlupfwinkel ausheben und vernichten wird. Die »Bluthund-Brigade« braucht keine Pioniere zur Beseitigung der Minen. Was bedeutet es, wenn zwanzig, dreißig Mann oder mehr beim Durchbrechen der Sperre draufgehen? Es gibt genügend Gesindel, mit dem man die Lücken füllen wird. Der Reichsführer wird zufrieden sein, wenn die unnützen Fresser, die in den Gefängnissen, den Zuchthäusern und den KZ-Lagern das Brot des deutschen Volkes kauen, einer dem Endsieg dienlichen Aufgabe zugeführt werden.

Rücksichtslos haben die Offiziere und Unterführer, die wie diese den SS-Totenkopf-Standarten entstammen, und die Sperrkommandos des SD die Männer gegen die Minensperren vorgetrieben. Über die blutüberströmten zerrissenen Körper der Gefallenen hinweg sind die anderen, die im Rücken die schussbereiten Waffen der Antreiber wissen, weiter vorgedrungen. Das Feuer einzelner Baumschützen wird rasch mit gutgezielten Schüssen zum Schweigen gebracht. Als sie aber zwischen den Bäumen die getarnten Bunker erblicken, schlägt ihnen wütendes Feuer entgegen.

Kapitän Lipski bedient ein sowjetisches Maschinengewehr mit aufgesetztem Patronenteller. 1939, in der Tucheier Heide, hat er im Sattel gekämpft, mit gezogenem Degen, an der Spitze seiner Schwadron – zu Pferd gegen deutsche Panzer. Aber die Zeit ist weitergegangen. Es ist Frühjahr 1942. Er schwenkt den Lauf eines russischen Maschinengewehrs. Rhythmisch und hart stößt der Kolben gegen seine Schulter. Während seine Hände mechanisch einen neuen Teller aufsetzen, beobachtet er fasziniert durch die Scharte, wie die Deutschen ins Feuer rennen. Ihre Gesichter sind verkniffen. An ihren Karabinern, die sie blindlings im Laufen abschießen, blitzen die aufgepflanzten Bajonette. Wie Insekten, die ins Licht taumeln und verbrennen, springen sie in die hageldicht prasselnden Geschossgarben, lassen sich niedermähen, als suchten sie den Tod. Andere stürmen über die verkrümmten, zuckenden Körper hinweg, fallen und werden von neuen Wellen abgelöst.

Kapitän Lipski und seine Partisanen schöpfen auf einmal Hoffnung. Wie lange wird es dauern, bis die Angreifer verblutet sind?

Doch auf einmal ändert sich ihre Taktik. Sie nähern sich kriechend, suchen hinter den Gefallenen Deckung, auch hinter schreienden Verwundeten.

Lipski feuert weiter. Plötzlich versagt das russische Maschinengewehr. 1941, nach dem Angriff der Deutschen am Bug, hat es ein polnischer Partisan einem toten Rotarmisten abgenommen.

Eine Handgranate detoniert vor der Bunkerscharte. Als der Qualm sich verzogen hat, sind die Angreifer näher gekommen. Sie schieben die Körper ihrer eigenen Gefallenen als Kugelfang vor sich her. 1939 haben sie nicht mit derart barbarischen Methoden gekämpft.

Im Vorfeld explodieren krachend Werfergranaten. Trichter bildet sich neben Trichter. Die Einschläge rücken näher. Etliche liegen schon vor, auf oder neben den Bunkern. Es ist, als bäume die Erde sich auf. Deutsche Maschinengewehre mit rasend schneller Schussfolge hämmern gegen die Scharten.

Im Pulverqualm sinkt eine Gestalt neben Kapitän Lipski zu Boden. Er reißt das MG, dessen Ladehemmung sich nicht beseitigen lässt, aus der Scharte, greift zum Karabiner des tierisch brüllenden Verwundeten, der neben ihm auf der festgestampften Erde mit den Armen um sich schlägt. Lipski legt an, zielt. Als das Geschoss den Lauf verlässt, trifft ihn ein Schlag gegen die Stirn. Rote Nebel kreisen vor seinen Augen, mit letzter Kraft krümmt er den Finger durch. Der Rückschlag droht ihn umzuwerfen. Wieder prallt etwas wie eine Riesenfaust in sein Gesicht. Die Waffe entgleitet ihm, er reißt beide Arme hoch, stürzt schwer hintenüber. Das Letzte, was er spürt, ist, wie grobe Hände ihn zur Seite zerren.

Das Abwehrfeuer der Partisanen stockt, flackert wieder auf. Handgranaten fliegen in die Scharten, zerbersten donnernd und alles zerschmetternd im Innern der Bunker. Die Granatwerfer haben ihr Feuer eingestellt. Die Abwehr erlischt, der Gefechtslärm ebbt ab und verstummt.

Die Angreifer dringen in die Bunker ein. Wer noch lebt, wird von Bajonetten durchbohrt. »Keine Gefangenen!«, lautet der Befehl.

Bebend, die Zähne zusammengebissen, um nicht zu schreien, hat Valeska den Kampf aus der Ferne verfolgt. Sie weiß, was die Stille bedeutet, die jetzt eingetreten ist. Es ist zu Ende. Ihre Warnung hat einen Aufschub gebracht, nur einen kurzen Aufschub. Aber sie weiß auch, dass die Hinauszögerung des Unausbleiblichen die Deutschen viel Blut gekostet hat.

Stimmen werden laut, unbekümmerte Stimmen, und das Rascheln von Schritten. Valeska erblickt eine Gruppe von Offizieren. Ein Mann mit geflochtenen Majorsschulterstücken geht einen Schritt voraus. Wie die anderen trägt auch er den Adler mit den ausgebreiteten Schwingen und dem Hakenkreuz am linken Ärmel. Der Mützenschirm beschattet ein Gesicht, das erschreckend an die Physiognomie eines Totenschädels erinnert. Die Augen unter buschigen dunklen Brauen sind tief eingesunken. Faltige Tränensäcke haben sich darunter gebildet. Die Nase ist klobig wie bei einem Boxer. Über dem breiten, schmallippigen Mund sitzt ein dichter, dunkler Schnurrbart.

Valeska beobachtet scharf, prägt sich die Züge des Mannes ein, den sie zum erstenmal leibhaftig erblickt. Sie weiß, dass sie sich nicht täuscht. Es ist SS-Sturmbannführer Dirlewanger, die Geißel Polens, tausendfach verflucht und verwünscht. Allen Anschlägen ist er entkommen, als wäre er mit dem Teufel im Bund.

Unwillkürlich tastet sie nach der Pistole. Ihre Hand ist schweißig und zittert. Sie könnte die Waffe nicht ruhig halten, um einen sicheren Schuss anzubringen. Im Übrigen darf sie nicht schießen. Sie ist Kurier mit wichtigen Aufgaben, unersetzlich für die Patrioten Polens, die heimlich weiterkämpfen, von der Hoffnung getragen, dass einmal die Stunde der Befreiung kommt.

Hasserfüllt blickt sie den Offizieren nach. Das Gefecht ist beendet. Der Kommandeur ist mit seinem Stab unterwegs, um das Gefechtsfeld zu besichtigen.

Geduldig wartet sie im Wipfel der hohen Kiefer. Ihre Hände sind klebrig vom Harz. Sie wartet, bis die Deutschen endlich aus dem Wald abgezogen sind. Draußen auf der Straße werden die Geräusche von Fahrzeugmotoren laut. Aber sie wartet noch eine Stunde, bis sie es wagt, ihren luftigen Sitz in den Zweigen zu verlassen. In einer Anwandlung von Schwäche lehnt sie sich gegen den rauen Stamm des Baumes, der ihr Zuflucht gewährt hat.

Es beginnt zu dunkeln. Schaudernd denkt sie an die Toten in dem zerstörten Waldlager, an den jungen Freiheitskämpfer Boris Matuschka, der als Erster im körnigen Schnee der Waldschlucht gestorben ist.

Zum ersten Mal ist sie unmittelbar mit dem geheimnisumwitterten berüchtigten Truppenverband in Berührung gekommen, den man in Polen »Bluthund-Brigade« nennt. Sie wird ihrem Vorgesetzten darüber berichten. Noch mehr Augen als bisher werden den feindlichen Verband überwachen müssen, der für die heimlich agierende Freiheitsbewegung zu einer tödlichen Gefahr werden kann.

Es wird Nacht. Im Schutz der Wälder tritt Valeska Dombrowska den Rückweg an. Erst am Morgen erreicht sie todmüde ihr Versteck im verschachtelten Häuserwinkel des Ghettos von Lublin.

In dem Quartier, in dem sie Unterschlupf gefunden hat, trifft sie verstörte, laut klagende Menschen an.

»Gut, dass du nicht hier warst, Valeska«, sagt die kleine, schwammige Frau, die wie eine Mutter für sie sorgt. »Wenn sie dich gefunden hätten, hätten sie dich auch mitgenommen.«

»Wie gefunden, wie mitgenommen?«, fragt Valeska. »Was ist geschehen, Mami?«

Die kleine Jüdin schüttelt den Kopf, auf dem das strähnige graue Haar in Lockenwicklern aufgedreht ist.

»Ich kann es nicht sagen«, jammert die Frau mit gepresster, erstickender Stimme.

Über ihr verquollenes, von Krankheit und Qualen verwüstetes Gesicht rinnen Tränen.

Valeska legt die Arme um die Frau, deren Körper wie von einem Krampf geschüttelt wird. Ihr Blick sucht die Gesichter der Umstehenden.

»In der vergangenen Nacht hat die SS Mädchen aus dem Ghetto geholt«, berichtet eine Frau mit einer scharfen, krummen Nase. »Auch die kleine Mirjam haben sie verschleppt. Sie kennen doch Sid, den Sohn vom Jakob Mandel. Er wollte zur polnischen Polizei laufen. Ein SS-Mann hat ihn erschossen.«

Valeska lässt Mami Zaber los. Sie wendet sich der hageren Frau mit der krummen Nase zu.

»Warum hat die SS das getan?«

Die kleine schwarzlockige Mirjam, die Nichte von Mami Zaber, ist dreizehn Jahre alt. Die gütige, dicke Mami hat Mirjam bei sich aufgenommen, als deren Eltern bei einer Razzia weggeführt wurden und nicht wiederkehrten.

Das knochige Gesicht der hageren Frau verzieht sich zu einem verzerrten Lachen.

»Warum?«, kreischt sie. »Das fragen Sie noch, Valeska? Gott soll diese Teufel strafen! Sie haben die Mädchen aus dem Schlaf gerissen und wie Vieh auf ein Lastauto getrieben. Für die ist der jüdische Mensch weniger als ein Tier. Aber dazu sind ihnen unsere armen Kinder gut genug.«

Valeska fühlt, wie ihr Herz sich vor Abscheu und Schmerz zusammenkrampft. Sie geleitet Mami Zaber zu einem durchgesessenen Korbstuhl. Die kleine Frau lässt sich in den Stuhl fallen. Ihr Gesicht verbirgt sie hinter den Händen.

Die anderen verlassen das baufällige Haus, in dem früher, bevor die jüdische Bevölkerung von Lublin im Ghetto zusammengepfercht wurde, ein stadtbekannter Trinker und Dieb gewohnt hat.

Auch Valeska verlässt das Haus, nachdem sie einen Schluck Wasser und ein paar Bissen Brot zu sich genommen hat. Sie weiß, wie gefährlich es für sie ist, am hellen Tag in der Stadt zu erscheinen. Aber sie kann nicht anders. Sie muss es wagen.

Der Tag ist klar und sonnig. Mit Macht will es Frühling werden. Doch im Labyrinth der unterirdischen Gänge ist es dunkel und kalt. Valeska tastet sich an der glitschigen Wand entlang, bei jedem Schritt darauf bedacht, nicht in den schlammigen, ekelerregenden Bach zu geraten, der den Unrat der Stadt mit sich führt.

Als sie in einem mit Gerümpel angefüllten Hinterhof ans Licht kommt, durch den verborgenen Ausstieg, den nur wenige kennen, schließt sie geblendet die Augen. Unauffällig blickt sie um sich und huscht durch ein halbverfallenes Tor auf die sonnenbeschienene Straße hinaus. Dort mischt sie sich unter die zumeist ärmlich gekleideten Passanten. Außer ihren polnischen Landsleuten, die alle scheu und verängstigt wirken, bevölkern zahlreiche Deutsche die Szene. Sie treten mit einer Selbstverständlichkeit auf, als wären sie in Lublin zu Hause und die Polen lästige Zuwanderer. Es sind Soldaten, Offiziere und prächtig uniformierte Beamte des Generalgouvernements, das vom Wawel in Krakau aus regiert wird.

Valeska geht über die Brücke von Bystrzycar. Sie biegt in eine Seitenstraße ab und verschwindet in einem schmalen, hohen Haus. An einer Wohnungstür im Dachgeschoss drückt sie auf den Klingelknopf. Ein dunkel gekleideter Mann mit einem ausgezehrten bleichen Gesicht und argwöhnisch blickenden schwarzen Augen öffnet ihr.

»Sie, Valeska«, sagt er sichtlich beunruhigt mit heiserer Stimme und lässt sie ein ins Halbdunkel eines schmalen Flurs. Er führt Valeska in ein Zimmer mit schräger Außenwand, in die ein kleines Dachfenster eingelassen ist. Das Zimmer ist dürftig und ärmlich eingerichtet. Jan Pawelski, der Verbindungsmann der Armia Krajowa in Lublin, legt keinerlei Wert auf äußeren Besitz und irgendwelche Annehmlichkeiten.

Er reicht Valeska eine Schachtel mit Zigaretten, die aus einem deutschen Versorgungslager stammen. Sie nimmt die Zigarette, lässt sich von Jan Pawelski Feuer geben und setzt sich, seiner stummen Aufforderung folgend, auf den einzigen Stuhl. Eine Anwandlung von Schwäche überkommt sie. Auf einmal ist es, als sei ihr Körper seiner Spannkraft beraubt.

»Was bringen Sie?«, fragt Pawelski, der breitbeinig vor ihr steht und den Rauch seiner Zigarette tief in die Lungen zieht.

»Die Gruppe Lipski ist ausgelöscht«, sagt sie mit tonloser Stimme, die ihr wie die einer Fremden vorkommt. »Aber das ist keine Neuigkeit. Sie haben es erwartet, Jan. Es war die »Bluthund-Brigade«. Die Übermacht war erdrückend. Trotzdem war es ein langer Kampf. Was mich zu Ihnen führt, Jan, ist etwas ganz anderes. In der vergangenen Nacht sind junge Mädchen aus dem Ghetto verschleppt worden. Man muss nachforschen, was mit den Mädchen geschehen ist. Wohin die SS sie gebracht hat.«

Jan Pawelski schließt sekundenlang die Augen. Die Falten auf seiner hohen Stirn, von der eine dichte dunkle Haarmähne zurückfällt, vertiefen sich.

»Die SS«, murmelt er. »Ich bin beinahe sicher, dass auch hinter dieser Aktion die »Bluthund-Brigade« steckt. Von ihr gehen immer die größten Schandtaten aus. Seitdem sie im Lubliner Bezirk wütet, hat sich der Terror verzehnfacht. Ich weiß, dass es sogar unter den Deutschen Stimmen gibt, die gegen dieses Schreckensregiment Einspruch erheben. Aber was hilft es? Himmler selbst schützt den Satan, der diese Truppe kommandiert.«

»Ich habe ihn gesehen«, wirft Valeska ein. »Dieses Gesicht werde ich nie vergessen. Er muss liquidiert werden, Jan.«

Pawelski zuckt die Schultern. »Er ist zu gut bewacht. Und die Vergeltung, bedenken Sie die Vergeltung, Valeska!«

Sein Blick streift das Gesicht des Mädchens, das grau und eingefallen ist vor Erschöpfung.

»Sie bleiben hier, Valeska. Sie müssen ein paar Stunden ruhen. Heute Abend verlassen Sie Lublin. Ich werde Ihnen genaue Weisungen geben, wie Sie zum Oberkommando kommen. Sie werden dort einen ausführlichen Bericht geben und sich die neuen Befehle für die Woiwodschaft Lublin aushändigen lassen. Der Verlust der Gruppe Lipski ist sehr schmerzlich für uns. Der Bericht vom Aufmarsch der Deutschen ist zu spät eingetroffen. Unser Nachrichtennetz muss verdichtet werden. Wir können trotz aller Fehlschläge nicht auf Funkgeräte verzichten, zumal jetzt zu erwarten ist, dass die Deutschen für ihre neuen Offensiven in Russland Truppen aus Polen abziehen. Aber das alles werden wir heute Abend, bevor Sie gehen, noch ausführlich durchsprechen. Kommen Sie jetzt, Valeska!«

Er geht zur Tür. Sie folgt ihm, vor Schwäche taumelnd. Er führt sie in eine Kammer, eher einen muffigen Verschlag, und deutet auf ein durchgesessenes Sofa.

»Schlafen Sie, Mädchen, und versuchen Sie zu vergessen!«

Um neun Uhr ist endlich die Verbindung zum SS-Hauptamt zustande gekommen. Die Brigade Dirlewanger z. b. V., mit Vollmachten des Reichsführers SS Heinrich Himmler ausgestattet, wie sie kein regulärer Verband der SS und keine Polizeieinheit besitzt, verfügt über diesen direkten Draht, der zuweilen wertvoller ist als eine Leitung zum Führerhauptquartier. Denn keine Institution der Partei, der Wehrmacht oder der Polizei hat soviel Machtbefugnis wie das von Obergruppenführer Berger geleitete SS-Hauptamt.

Der Kommandeur, noch übernächtigt von der ausgedehnten, in einer wüsten Orgie endenden Siegesfeier, nimmt den Hauptapparat des Feldtelefons, den ihm Obersturmführer Schnabel, der NO (Nachrichtenoffizier), reicht.

»Obergruppenführer, sind Sie’s?«, fragt er in einem Gemisch von mainfränkischem und schwäbischem Dialekt in die Sprechmuschel.

»Ja, Dirlewanger, was gibt’s?«, antwortet Obergruppenführer Berger, der im fernen Berlin an einem Schreibtisch von riesigen Ausmaßen sitzt.

»Wir haben gestern eine Bandenvernichtungsaktion durchgeführt«, berichtet Sturmbannführer Dirlewanger. »Natürlich mit Erfolg. Aber wo gehobelt wird, fallen Späne. Es hat allerhand Späne gegeben. Ich brauche Ersatz, Obergruppenführer. Können Sie allerschnellstens die ›Aktion Wilddieb‹ nochmals ankurbeln?«

»Können wir«, gibt Berger am anderen Ende der Leitung zurück. »Wir können alles, Dirlewanger, das wissen Sie ja. Aber das Ergebnis wird nicht sehr lukrativ sein. Die Gefängnisse sind so ziemlich ausgekämmt. Was halten Sie davon, wenn wir auf die KZ-Lager zurückgreifen? In Frage kämen in erster Linie Kriminelle. Auf welche Kategorien legen Sie da besonderen Wert?«

»Augenblick, Obergruppenführer«, sagt Dirlewanger, ohne lange zu überlegen, »an der Spitze meiner Wunschliste stehen natürlich Gewaltverbrecher Totschläger, Räuber, meinetwegen auch Einbrecher. Dann Zuhälter und Sittlichkeitsverbrecher – mit Ausnahme von Homosexuellen. Die kann ich in der Truppe nicht brauchen. Bis wann könnte ich mit dem Ersatz rechnen, Obergruppenführer?«

»So bald wie möglich«, entgegnet Berger. »Wir werden uns die größte Mühe geben. Sie sind ja ein toller Hecht, Dirlewanger. Man hört allerlei von Ihnen. Wissen Sie eigentlich, dass Sie einigen zartbesaiteten Mimosen auf die Nerven gehen?«

»Kann ich mir denken«, versetzt der Kommandeur der »Bluthund-Brigade«. »Verbindlichsten Dank für alles, Obergruppenführer.«

»Keine Ursache«, endet Obergruppenführer Berger und hängt ein.

Es ist ein ausgesprochenes Kuckucksei, das er der vielschichtigen Besatzung in Polen da ins Nest gelegt hat, und in jeder Hinsicht sein Geschöpf, sein Golem, um sich wieder einmal eines jüdischen Wortes zu bedienen. Seine Idee ist es gewesen, den ehemaligen Oberleutnant und mit zwei Jahren Zuchthaus bestraften Sittlichkeitsverbrecher Dr. Oskar Dirlewanger zur Bewährung nach Spanien zu schicken, ihn dann zu rehabilitieren und der Inspektion der SS-Totenkopfstandarten einzuverleiben. Er ist ein verdammt brauchbarer Schurke, dieser Dirlewanger. Die Polen zittern vor ihm. Recht so! Eine Besatzungstruppe muss Furcht und Schrecken verbreiten, wenn sie sich durchsetzen soll.

Der Obergruppenführer erhebt sich aus seinem mit Schweinsleder bezogenen Stuhl. Er wird sofort den Apparat ankurbeln, damit diesem Dirlewanger das Verbrechersortiment aus den Lagern zugestellt werden kann, bevor der Frühjahrs- und Sommerrummel draußen in Russland beginnt.

2

Scharführer Melzer war der verantwortliche Leiter der Lagerkartei, die in einer freistehenden Baracke in der Nähe des Lagereingangs untergebracht war, aufgereiht in langen, bis zur Decke reichenden Regalen. Doch Scharführer Melzer hatte eine Anzahl anderer Interessen, die ihn so sehr in Anspruch nahmen, dass er nur gelegentlich und in der letzten Zeit immer seltener dazukam, die Karteibaracke aufzusuchen. Melzer war früher Angestellter in der Friedhofsverwaltung einer hessischen Kleinstadt gewesen und hatte die Neigungen, die ihn nunmehr beherrschten, erst in sich entdeckt, nachdem er, dem Zug der Zeit folgend, der SS-Verfügungstruppe beigetreten war. Neben den hochprozentigen Getränken, von denen stets ein ausreichender Vorrat in seinem Quartier zu finden war, zog ihn das Lagerbordell geradezu magisch an, seitdem mit dem letzten Nachschub aus dem Frauen-KZ Ravensbrück eine attraktive Berliner Blondine eingetroffen war, mit der ihn eine seltsame heimliche Liebe verband.

Aber trotz der häufigen Abwesenheit des Scharführers wurde die Kartei, in der Hunderte von Menschenschicksalen in alphabetischer Reihenfolge registriert waren, mustergültig in Ordnung gehalten. Für Scharführer Melzer jedoch war nur das Ergebnis von Bedeutung, der Umstand dagegen, dass er sich vollständig in der Hand seines Schreibers, des Häftlings Nummer 3483, befand, beeindruckte ihn nicht übermäßig.

Jene Nummer 3483 war der Sippenhäftling Rolf von Lehr. Lehr wäre berechtigt gewesen, zivile Kleidung zu tragen – im Gegensatz zu den Juden, politischen Gefangenen und Kriminellen im Lager. Doch bei seiner Verhaftung im Gefechtsstand seines Regiments unweit der Aisne hatte er nichts anders als seine Offiziersuniform mit den Rangabzeichen eines Oberleutnants bei sich gehabt, und das Recht, sich in Uniform zu zeigen, hatte im Lager nur die SS. Die Folge war, dass auch Lehr, kahlgeschoren wie alle übrigen Häftlinge und wie diese mit einer auf den linken Oberarm tätowierten Nummer markiert, seinen Schreiberdienst in der Karteibaracke in einem unförmigen graugrünen Drillichanzug versah.

Am Morgen des 12. April 1942 erschien Scharführer Melzer unerwartet und nur mäßig betrunken in der Baracke. Lehr schrieb den Besuch einem Vorfall zu, der sich tags zuvor ereignet hatte. Der zur Aufsässigkeit neigende Kriminelle Grauert, der von Melzer zur Säuberung seines Quartiers eingeteilt worden war, hatte den Scharführer zur Weißglut gereizt. Melzer, der bereits am Vormittag mit der blonden Berlinerin eine Flasche Hennessy leergetrunken hatte, war mit dem Gummiknüppel auf Grauert losgegangen und hatte ohne eigentliche Absicht so heftig zugeschlagen, dass der Häftling Ernst Grauert, ein zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilter Sittlichkeitsverbrecher, an Gehirnblutung starb. Nach Einbruch der Dunkelheit war die Leiche von Melzer und zwei anderen SS-Männern beseitigt und unauffällig verscharrt worden. Von Grauert war nur noch das Karteiblatt vorhanden, und Lehr hatte noch keine Anweisung seines Vorgesetzten, wie er mit dem Blatt verfahren sollte.

Als Melzer die Baracke betrat, erwartete Lehr, der Scharführer komme wegen des überzähligen Karteiblattes, das die Ordnung der ganzen Kartei durcheinanderbrachte. Doch Melzer erwähnte Grauert nicht.

»Es gibt Arbeit für uns«, erklärte er. Das SS-Hauptamt fordert Kriminelle an, die sich freiwillig für den Fronteinsatz im Osten melden.«

Rolf von Lehr erkannte sofort die Gelegenheit, die sich ihm bot, den elektrisch geladenen Stacheldraht des Lagers hinter sich zu bringen.