Buchcover

Frída Á. Sigurdardóttir

Ninas Geschichte

SAGA Egmont




Eine Salzsäule.

Und zwischen Kristallen

Bilder,

schlängeln sich vorwärts

durch die engen Gänge des Salzes,

Fasergänge,

bahnen sich einen Weg über Berge und Geröll,

alte Geschichten,

schmelzen Salzkristalle,

im Schein grünlichen Lichts.

Erste Nacht

Auf dem Nachttisch stehen die Freesien. Die ich wegwerfen wollte. Aufdringlich und fremd füllt ihr Duft das Zimmer. Sie passen nicht hierher.

»Freyslilien«, sagte Eirikur. »Die Lieblingsblumen deiner Mutter.« Und verbeugte sich ein wenig, schlug die Hacken zusammen. »Ich würde mich freuen, wenn du sie ihr bringen könntest.«

Er tauchte wie ein Schatten zwischen den Bäumen auf, als ich mich auf den Weg machte, und rief mir hinterher, ein gealterter Pan in einer braunen Hausjacke mit wattiertem Revers, einen bunten Seidenschal sorgfältig um den Hals geschlungen, die Hose mit Bügelfalten; ein Lord beim Abendspaziergang durch sein Reich, Pan. Nur die Blumen störten das Bild. Die Lieblingsblumen meiner Mutter. Das hatte ich noch nie gehört. Wußte nicht einmal, daß sie Lieblingsblumen hatte. Ich wußte nicht einmal, daß sich die beiden kannten.

»Ich habe deine Mutter gelegentlich besucht«, sagte Eirikur, als ahne er meinen Gedanken und meine Skepsis, ein Flackern in den Augenwinkeln, ein Lächeln.

Ich versuchte, mir die beiden im Wohnzimmer bei uns daheim vorzustellen: Eirikur, den Aristokraten von der ersten Etage, der mit Königen und Dichtern verkehrte, wie er dort auf dem alten, dunkelgrünen Sofa sitzt, bei meiner Mutter, der Putzfrau; einer Bauersfrau von den Westfjorden, verwurzelt in den mageren Grasbuckeln des Daseins. Es ging einfach nicht. Beim besten Willen nicht.

»Eine bemerkenswerte Frau, die Thordis, und begabt, ungewöhnlich begabt«, fuhr er fort, als spreche er mit sich selbst, und überraschte mich noch mehr, denn Eirikur ist niemand, der die Leute mit Lob überschüttet, ganz im Gegenteil; und schon gar nicht die einfachen Leute, denen er immer mißtraut hat. Die Kleine-Leute-Mentalität, wie er es nennt, war diesem alten Diplomaten von jeher ein Dorn im Auge.

»Kultur«, sagt er, »hat bei den kleinen Leuten noch nie gedeihen können. Nur Unkultur.«

Er lädt manchmal zu einem Glas Sherry und einem Schwätzchen ein, wenn er dazu aufgelegt ist. Und ich nehme die Einladung meistens an, weil er mich amüsiert, weil ich seine Boshaftigkeit und Wortgewandtheit mag, ganz abgesehen davon, daß er klug, gebildet und weitgereist ist. Dann sitzen wir in dem kleineren Wohnzimmer mit den hellen Brokatmöbeln und dem chinesischen Porzellan, das er sammelt, und ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt, aus der Gegenwart zurück in längst vergangene Jahre, die ich nur aus dem Kino und aus Büchern kenne; jene Jahre, als die Zeit noch langsam verstrich und alles in festen Bahnen verlief, nach zivilisierten Regeln vor sich ging, selbst Korruption und Kriege. Und während er redet, läßt er uns von seinem Freund Larus bedienen, schickt ihn nach Kissen, Zigarren und Pralinen, läßt ihn Fenster öffnen und schließen, kleine Kuchen und Zigaretten holen. Und Larus springt, wie er es in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren getan hat, leichtfüßig und immer gleich adrett, ein alter, freundlich blickender Mann, dem die Dienstfertigkeit der Freundschaft aufgebürdet ist, und die der Armut; vielleicht sogar die der Liebe. So wird zumindest getuschelt. Und es könnte wahr sein. Das Muster stimmt auf alle Fälle.

Als junger Mann machte Eirikur mit den kleinen Leuten Erfahrungen, die er nie vergaß. Er verdingte sich einen Sommer zum Straßenbau, als er Geld brauchte; sein Vater war gerade gestorben, und er wollte hinaus in die Welt, begierig nach Bildung, Ruhm und Ehre. »Als Dichter«, sagte er, »Dichter in spe«, fügte er hinzu, und ein leises ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich fühlte, wie sich dieses Lächeln in meinem Gesicht widerspiegelte, denn beide haben wir ungedruckte Jugendträume im Gepäck; einer von seinen wurde tatsächlich gedruckt, aber keiner von uns verliert je ein Wort darüber. »Als Dichter in spe litt ich unter der irrigen Vorstellung, in der mich meine gute Mutter bestärkte, ich müsse das Volk aus eigener Erfahrung kennenlernen, in den Alltag eintkuchen, um so mit der Volksseele in Berührung zu kommen. Daher entschloß ich mich, in diesem Sommer ins Westland zu gehen.« Er schwieg, schloß die Augen und faltete die Hände, als wolle er beten. »Nicht einmal bei Dante«, fuhr er fort, »nein, nicht einmal dort habe ich etwas gefunden, das mit den elf Tagen vergleichbar wäre, die ich durchzustehen hatte. Der Gestank, Gott stehe mir bei, war so penetrant, daß mir Tag und Nacht übel war. Strümpfe wurden nie gewaschen. Oder die Unterwäsche gewechselt. Schon gar nicht die Zelte gelüftet. Die Mahlzeiten waren ein unbeschreiblicher Alptraum. Keiner dieser Männer schien je etwas von Tischsitten gehört zu haben. Sie schleckten die Messer ab, schmatzten und schlürften und gaben Naturlaute von sich, an die ich mich nur ungern erinnere. An die Nächte darf ich noch heute nicht denken. Oder die Gespräche! Das waren Tiere. Kreaturen, die nie an etwas Höheres dachten, als an Bäuche und Geschl …« und er bekam einen Hustenanfall, als diese alten Peiniger ihn wieder mit ihren Krallen packten und zu sich in den Dreck ziehen wollten.

Diese Erfahrungen mit den kleinen Leuten vergaß er nie und vergab er nie, sein ganzes Leben war Opposition gegen das, wofür sie standen.

»Pöbel und Kultur«, sagte er, »waren schon immer zwei entgegengesetzte Pole.«

Und als ich versuchte, dagegen zu protestieren, denn ich fühlte trotz allem eine gewisse Blutsverwandtschaft, da bat er mich, ihn um Gottes willen mit Proletarierromantik zu verschonen, »diesen sentimentalen Ammenmärchen des geistigen Abschaums, die gefährlicher sind für die Menschheit als alle Kernwaffen.« Und fing dann an, über die Dekadenz in der französischen Lyrik Baudelaires und Rimbauds zu sprechen.

Und das verschmitzte Lächeln, das sich auf Larus’ Gesicht gezeigt hatte, verschwand.

Ich merkte mir Eirikurs Worte und erzählte meiner Mutter Thordis diese Leidensgeschichte vom Straßenbau. Sie lachte, gab mir zu verstehen, was sie von Eirikur und »seinesgleichen« hielt und sagte, sie wolle daran denken, das Messer abzulecken, falls ihr irgendwann einmal die Ehre zuteil würde, mit einer so vornehmen Person zu Tisch zu sitzen.

Zwar war sie nicht sicher, ob sie auch die Naturlaute zustande bringen würde. »Aber ein oder zwei Rülpser müßte ich jederzeit aus mir herauspressen können.« Brach unversehens in Lachen aus und hatte die Geschichte bereits einmal gehört. Ihr Bruder Nikulas war einer von Eirikurs Zeltgenossen in jenen Leidenstagen vor beinahe sechzig Jahren. »Und du weißt ja, wie Lasi war, bevor er bekehrt wurde, nichts als Hänseln und Necken. Und sie quälten und peinigten ihn auf jede erdenkliche Weise, den armen Jungen. Und nannten ihn immer nur ›das Mädchen‹. Und schenkten ihm eine Decke zum Aussticken, als er abreiste.« Und sie setzte eine empörte Miene auf, die keine von uns beiden täuschte. Ich kannte den Humor meiner Mutter, und ihr Temperament.

Es war mir nicht möglich zu sehen, was die beiden gemeinsam haben konnten, er und meine Mutter, die ständig irgendwelche Leute eben der Art um sich versammelte, die Eirikur kulturlose Kleinbauern nennt. Und ich konnte mich gut daran erinnern, wie laut meine Mutter über die Straßenbaugeschichte gelacht hatte.

Wir standen da, zu beiden Seiten des Gartentors. Der Abendwind bewegte das Laub der Bäume, das gelb zu werden begann, und die Luft war schon herbstlich frisch. Zwischen den Häusern sah man den beleuchteten Springbrunnen im Stadtteich mit seinem Regenbogenschleier unter dem dunklen Himmel. Spätsommerabend.

Er hielt mir wieder den großen Freesienstrauß entgegen, der in der Dämmerung leuchtete. Starkfarbige Blumen, die dufteten, und die Blätter feucht, wie mit Tau benetzt. Nicht die Blumen meiner Mutter. Auf keinen Fall ihre Blumen.

»Rucharas«, sagte ich. »Wo bekomme ich Ruchgras?«

»Ruchgras«, wiederholte er verwundert. »Was willst du damit?«

Das eine Mal, als ich durch die öden Buchten reiste, aus denen ich stamme, bat mich meine Mutter, Ruchgras mitzubringen. Sagte, es wachse unten am Hang westlich des Hauses. Sie wollte es in den Schrank und in die Kommodenschubladen legen, »wie man es zu Hause getan hat.« Aber die Natur überwältigte mich. Diese von steilen Felsen umschlossenen, stummen Buchten jagten mir Angst ein, schienen so fern allem Menschenleben, meinem Leben, daß ich an nichts anderes denken konnte, als von dort wegzukommen. Außerdem war das Haus längst in sich zusammengefallen, und wenngleich der Hang auch noch an seinem Platze war, kannte ich doch kein Ruchgras, keiner von uns kannte Ruchgras.

Eirikur räusperte sich, hielt mir wieder diese Blumen hin und sagte:

»Du stellst sie ihr auf den Nachttisch. Mit Grüßen. Freundlichen Grüßen.«

Ich wollte sie annehmen, natürlich, aber mit einem Mal kam etwas über mich, gegen das ich nichts tun konnte, das ich nicht verstand, von dem ich wußte, daß es absurd war, und dem ich dennoch ausgeliefert war.

»Sie ist bewußtlos«, sagte ich und steckte meine Hände tief in die Manteltaschen. »Sie weiß nicht, was um sie herum vor sich geht.«

Wir standen dort wie in einem gerissenen Film, Eirikur mit dem erhobenen Blumenstrauß und ich mit den geballten Fäusten tief in den Taschen.

»Bewußtlos«, sagte er schließlich, und eine tiefe Röte überzog sein Gesicht.

Ich schwieg.

Am Fenster des kleineren Wohnzimmers sah man undeutlich die Konturen eines Menschen hinter einer hellen Tüllgardine, und eine weiße, magere Hand brachte Unruhe in die blaßblauen Veloursvorhänge. Ein in Leder gekleidetes Wesen mit rosa und grünen Haarspitzen kam aus dem Haus gegenüber und schaute neugierig zu uns herüber. Schlenderte dann die Straße hinunter, im Takt mit einer heiseren Stimme, die in die Abendstille brüllte: I don’ t wanna be a hero, I don’ t wanna be a –

Eirikur blickte mich scharf an. Dunkle, fast schwarze, schrägstehende Augen, die in der Dämmerung schimmerten.

»Weiß nicht, was um sie herum geschieht«, wiederholte er.

Ich schwieg.

Und dann plötzlich richtete er sich auf, schaute über meinen Kopf hinweg, als sähe er dort etwas, das anderen verborgen war.

»Der Wind weht, wo er will«, sagte er und warf mir einen raschen Blick zu, und die Hörner auf seiner Stirn glühten. »Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt oder wohin er geht.«

Und er schien zu wachsen, die kraftvollen Worte schienen diesem arroganten alten Mann eine Würde zu geben, die ich nicht kannte. Er verwirrte mich, machte mich unruhig, fast ängstlich, obgleich ich wußte, daß es dumm von mir war. Eirikur hat immer Zitate parat.

»Nimm die Blumen, Nina«, fuhr er fort. »Nimm die Blumen und bestell den Gruß. Wer weiß, wo sie jetzt ist. Oder was sie hört.« Das sagte er, und ich glaubte ein Grinsen über sein Gesicht huschen zu sehen, als wisse er, wie ich mich fühlte. Was er natürlich tat.

Der alte Fuchs!

Und jetzt sitze ich hier, und die Freesien duften. Die Freyslilien. Die ich wegwerfen wollte. Und es doch nicht über mich brachte. Aus irgendwelchen Gründen.

Vielleicht aus denselben, aus denen ich jetzt hier sitze. Ganz gegen meinen Willen. Ein Blick von meiner Schwester Marta und vom Arzt, als das Schweigen zu lang wurde, erstickte meinen Widerspruch im Keim. Und was hätte ich sagen sollen? Daß ich keinen Sinn darin sah. Daß es Fachkräfte dafür gab. Daß dies ein längst veralteter Brauch war. Unzeitgemäß. Oder daß ich keine Zeit habe. Ich wußte, welche Antwort ich bekommen würde. Habe sie schon früher bekommen. Die spitzzüngige Marta pflegt nicht locker zu lassen, wenn es ihr darauf ankommt.

»Meinst du etwa, daß du nicht am Bett deiner sterbenden Mutter wachen willst?« hätte sie mit großem Nachdruck gesagt und mich in den Treibsand hinausgezogen.

»Du bist die einzige, die sich ihre Zeit frei einteilen kann«, sagte sie, meine Schwester Marta, und meinte damit, daß es nichts Besonderes sei, was ich mache, bei ihr sei das etwas ganz anderes, Hausfrau mit einer großen Familie und berufstätig. Ihre Geringschätzung ärgert mich heute noch genauso wie als Kind.

»Du hattest es Mutter versprochen«, sagt sie.

Und triumphiert.

Denn mein Wort muß ich einlösen. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, es je gegeben zu haben. Weiß, daß es ihre Erfindung ist. Ihre Erfindung sein muß. Ich habe das niemals versprochen. Das habe ich nicht getan. Das ist undenkbar. Aber in den Augen Martas gibt es keine Gnade. Nur unbeugsame, alte Wut. Die ich kenne. Dich will sie, sagen ihre Augen, dich. Die immer im Stich gelassen hat. Alles im Stich gelassen hat. Und ich weiß, daß ich hier in diesem Zimmer sitzen werde, das mich in jeder Hinsicht beengt, bis es vorüber ist.

In meiner Tasche wartet Arbeit, die ich heute nacht erledigen wollte. Der Entwurf einer Broschüre für ein Hotel hier in der Stadt und die Planung einer Werbekampagne für eine ungenießbare Limonade. Vielleicht nichts Besonderes, aber bei dieser Arbeit springt doch erheblich mehr heraus als bei Martas Hausarbeit. Und ihrem Gewerkschaftsgetue.

Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Alles ist so still. Ich bin diese Stille nicht gewohnt. Hinter ihr ein Geräusch, das ich zu kennen glaube, doch ich komme nicht darauf, was es ist. Die Meeresbrandung? Das Rauschen eines Flusses?

Ich hätte ein Buch mitnehmen sollen, oder Zeitungen, etwas, um die Zeit totzuschlagen.

Ich strecke meine Hand nach der Mappe in meiner Tasche aus, berühre mit den Fingern etwas Weiches. Das Schultertuch. Ich hatte es vergessen. Dieses alte Schultertuch, das ich aus irgendeiner Sentimentalität heraus einsteckte, als ich ging. Ein Geschenk von Mutter. Ich hole es heraus, wickle es aus dem alten, bräunlichen Papier. Die Farben schon ausgeblichen, die Fransen verschlissen, einen Geruch verströmend, den ich nicht kenne, frisch aber herb. Das Tuch fühlt sich steif an, obwohl es weich ist. Ich hebe es unbewußt an meine Schultern. Halte aber mitten in der Bewegung inne. Lege es zusammen. Stecke es wieder in die Tasche.

Vor mir das Bett.

Alles so still.

Hüllt mich ein, diese Stille. Vermischt mit einer Unruhe. Die immer näher kommt. Macht mich nervös. Ich schaue auf die Uhr. Zwölf. Die Zeit steht still. Rührt sich nicht vom Fleck.

Etwas, um die Zeit totzuschlagen – ein seltsamer Ausdruck, den wir da verwenden – die Zeit totschlagen – seinen Feind – totschlagen –

Ich habe den Gruß nicht ausgerichtet.

Werde es auch nicht tun.

Die Wirklichkeit ist kompliziert genug, auch wenn man sie nicht in allerhand Aberglauben und Mystik verwickelt.

Stille in der Zeit – stehengebliebene Zeit.

Vor mir das Bett.

Wer weiß, wo sie jetzt ist –

Und die Bucht taucht auf, die drohenden Bergriesen, darüber aufragend, das flüsternde Wuchergras, Marias Stimme, leises Reden in der endlosen Stille, die Geschichten von Sunneva, von Katrin, all diese Geschichten – und wir drei, Nina, Arnar und Helgi auf einer Tour durch diese Berge, auf einer Wanderung durch die Öde –

In der Ferne hört man einsames Vogelgeschrei – –

Das ist die Stunde des Vogels. Und des Felsens. Die Stunde der Betriebsamkeit und des Abenteuers in einer stillen Bucht im hohen Norden.

An regnerischen Tagen steht man früh auf und schüttelt sich den Schlaf unsanft aus den Gliedern. Dann geht man los. Man geht schräg über die grasigen Bergterrassen hinauf, höher und höher, um zum Felsen zu gelangen. Eine Gruppe von Menschen mit Kiepen auf dem Rücken und voller Spannung, denn niemand weiß, was der Tag bringt.

Ganz oben auf dem Felsen wartet das Seil, aufgerollt wie ein Lindwurm aus alten Erzählungen. Das ist der Wurm, der Gold gibt. Wenn Gott will. Alles geht nach Gottes unergründlichem Willen.

Die Leute trocknen sich die triefenden Nasen. Der Morgen ist kühl und man geht zügig voran. Die Rücken krümmen sich beim letzten Stück, und die Muskeln spannen sich. Wieder will man alles wagen und den Felsen besiegen.

Kalt starrt der Felsen seine Besucher an. Er sieht keinen Unterschied zwischen Mensch und Vogel. Die schwarzen Felswände wimmeln von Leben, alles wimmelt hier von Leben, bis ganz hinunter in den Abgrund, wo die weiße Gischt der Brandung harmlos gegen die tangbewachsenen Steine spült. Lautes, geschäftiges Leben. Aber auch Tod. Ein Stein fliegt mit lautem Sausen vorüber, und die Bewohner eines Felsenabsatzes sind ausgelöscht, verschwunden; übrig nur noch ein paar Fetzen, die dem fallenden Gestein folgen, blutgetränkte Fetzen. Ein paar Federn schweben leicht in den Frühlingsmorgen hinaus. Hinab in diese seltsame, kreischende Welt soll es jetzt gehen, diese gefahrvolle Welt der Fruchtbarkeit und der Vernichtung, wo die Pranke des Todes lauert, um jeden wegzureißen, der es wagt, dem Felsen die Stirn zu bieten.

Die Stunde des Felsens. Die Stunde der Lebensgefahr. Aber auch die Zeit, zu der fremde Schiffe am Horizont auftauchen. Mit weißen Segeln suchen sie diese Buchten im Norden auf und werfen Anker. Spiegeln sich erhaben in der blanken Oberfläche der Bucht, während die Segel eingeholt werden. Diese geheimnisvollen Märchenschiffe, die den unbekannten Duft ferner Länder mit sich führen, der ganz anders ist als der schwere, herbe Geruch des Felsens. Und in der Morgensonne legt ein Boot vom Schiff ab und nähert sich dem Ufer.

Im Haus singt die alte Sina mit ihrer rauhen Greisinnenstimme beim Stricken vor sich hin:

Es gehen die Mädchen

nach Süden am Strand,

mit ihren langen Schürzen

und blauer Leinewand.

Soll es so sein,

eine davon will ich frei’n.

Dann verstummt sie und untersucht die graue Socke, denn da ist etwas nicht so, wie es sein soll, und schau her, hatte sie es doch geahnt, hier hat sie eine Masche fallen lassen und müht sich ab, die verflixte Masche wieder auf die Nadel zu holen, ohne aufziehen zu müssen, was ihr schließlich auch gelingt, auch wenn es zuerst Schwierigkeiten macht; und wieder singt sie den Vers von den Mädchen am Strand.

»Eine davon will ich frei’n«, singt sie mit neuer Kraft, verstummt dann und schaut still vor sich hin, wobei sie ein wenig hin und her schaukelt. »Ach ja, lange ist es her«, murmelt sie, und kratzt sich mit einer Stricknadel im schütteren Haar unter dem Kopftuch. Blickt mit ihren halbblinden Augen auf den Sonnenstrahl, der voller Lebenskraft den Weg durch das Rauchloch gefunden hat, verfolgt ihn dorthin, wo er auf dem Stubenboden zerbricht, ein heller Streifen auf dem dunklen Boden. Der Frühling ist auf dem Hof eingekehrt. Und mit ihm kommen die Eier, die gesegneten Eier. Der alten Sina läuft das Wasser im Munde zusammen und sie fährt fort, alte Weisen und Verse vor sich hinzusingen, die zum Tage passen.

Auf dem Hofplatz steht die Bäuerin und hält, die Hand über den Augen, Ausschau. Ihr Gesicht verrät nicht, was sie denkt.

Niemand weiß, wo Stefan, der Bauer, seine junge Braut hergeholt hat. Manche sagen, aus dem Norden oder Osten, oder gar aus dem Süden, andere flüstern von fernen Ländern oder der Welt der Elfen. Aber wie dem auch sei, so erschien dieser gut fünfzigjährige Witwer eines schönen Tages hier mit einem blutjungen Mädchen an seiner Seite, der zukünftigen Bäuerin. Ein schweigsames Mädchen mit blondem Haar und wundersam unergründlichen Augen, die allen nahegingen, die zu lange in sie schauten. Und die ganze Gegend war entrüstet und schlug sich auf die Schenkel und harrte mit erwartungsvollem Schaudern der Ereignisse. Aber nichts geschah. Es wurde nicht einmal ein Kind geboren. – Sunneva, ein heidnischer, fremdartiger Name. Die Leute in dieser Gegend kannten ihn nicht. – Aber tüchtig war sie, das mußte man ihr lassen, machte jede erdenkliche Arbeit, eine Frau, der man ihre Leichtigkeit und Beweglichkeit ansah, nie war auch nur ein Staubkörnchen an ihr zu sehen. Es hieß, sie sei so reinlich, daß man es kaum mehr natürlich nennen konnte. Sunneva. Die Leute sagten, sie verstünde sich auf so einiges. Was genau, wußte man nicht, nicht direkt, aber sie war anders, das war nicht zu übersehen. Manchmal hörte man sie eigenartige Lieder singen, und es hieß, wer ihr zuhöre, sei danach nicht mehr derselbe. Und sie lachte, wo andere keinen Grund zum Lachen sahen. Verschwand auch manchmal zu abendlicher Stunde, wenn alle gewöhnlichen Christenmenschen schlafen gegangen waren. Sprach wenig über das, was sie tat. Es hieß, sie sammle Kräuter. Und man sagte, sie verstehe sich auf sie. Und manchmal konnte man in der Dämmerung diesen geheimnisvollen Gesang hören, hohe Töne, die direkt in den Himmel zu fliegen schienen, und jeden mit sich zu ziehen, der zuhörte. Deshalb war es besser, vorsichtig zu sein. Oft steckt ein Wolf im Schafspelz. Das wußten die Menschen in dieser Gegend. Und obwohl alles genau mitverfolgt wurde, schien doch nichts darauf hinzudeuten, daß sie ihrem Mann nicht genau die Frau war, die er haben wollte. So seltsam das auch sein mochte.

Und der Tag vergeht.

Der Abend bricht an, hüllt das Meer, die Erde und den Himmel in ein unwirkliches Licht. Und an der Grenze zwischen Tag und Nacht tauchen die Leute vom Felsen mit ihrer Bürde auf, treten mit ihren Kiepen und Bündeln wie fremde Wesen oder Fabeltiere aus dem Abend heraus. Der Tag war ergiebig. Der Kampf mit dem Felsen ist überstanden, der Sieg errungen. Für diesen Tag.

Am Rand der Anhöhe bleiben sie stehen und verschnaufen. Die Bucht liegt vor ihnen im Abendlicht, eng und karg von hier aus gesehen, ein Fleck, der sich aus der Umklammerung des Bergriesen dem Meer zuwendet.

Aber was liegt dort und schaukelt am Strand?

»Ein Boot?« sagt Thorkell, Stefans Sohn, mit Verwunderung und Sorge in der Stimme.

Und sicher, es sieht aus wie ein Boot. Aber nicht wie eines, das sie kennen. Die Leute schauen einander an, und ein böser Verdacht macht sich breit. Der Bauer Stefan zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber wenig und beschleunigt seinen Schritt den Berghang hinunter. Ihm folgt sein Neffe, der Vogelfänger Jakob, der dreiste Kerl, von dem gesagt wird, er fordere den Felsen und das Schicksal mit gottlosen Sprüchen heraus, während er sechzig Klafter tief an der Felswand hängt. »Es ist nur Gottes besonderer Milde und Barmherzigkeit zu verdanken, daß er die bösen Geister und Ungeheuer der Klippen noch nicht auf sich gezogen hat«, sagt die alte Sina. Und Jakob lacht. Die bösen Geister des Felsens fürchtet er nicht, nur die eigene Angst. Die ist unmännlich und wird niemals zugegeben. Und es wäre ja auch zwecklos. Denn Nahrung muß man besorgen. Deshalb lacht er. Aber als er jetzt bergabwärts rennt, lacht er nicht, er hat Stefan weit überholt, besinnt sich aber schließlich und bleibt mit verbissenem Gesicht stehen. Man sagt auch, daß er zuweilen recht lang in die klaren Augen der jungen Hausfrau geschaut habe. Hinterdrein kommen Thorkell und Einar, der Knecht, zuletzt Gudridur und Fridmey. Alle wissen, daß man sich nur wenig auf die Ehre jener ausländischen Ritter verlassen kann, die über die Meere segeln, man kann nie wissen, was man von ihnen zu erwarten hat, selbst wenn ihre Waren gut sind. Sunneva hat sich allerdings als geschickt im Umgang mit ihnen erwiesen. Tanzte ihren sonderbaren Tanz mit diesen dunkelhaarigen Männern, einen Tanz, den sie offensichtlich zu schätzen wußten; schwirrte von einem zum anderen, eine Hand strich über blonde Zöpfe, streckte sich nach der schmalen Taille, Finger näherten sich Brüsten, die in einem dunklen Mieder steckten, aber dann war alles verschwunden, ein Trugbild nur, das sich in Luft auflöste, während ausgelassenes Lachen erschallte. Am Abend hatte sie die Waren ergattert, die sie haben wollte; mit vergnügtem Gesicht und Glanz in den Augen blickte sie den ablegenden Booten nach. Stand eine Zeitlang regungslos. Verschwand dann im Haus. Hörte nicht auf die Warnungen der Frauen, die erfahrener waren als sie. Brachte sie nur mit ihrem Blick zum Schweigen. Und Stefan sagte nichts. Er sagte nie etwas.

»Der Tag der Abrechnung ist gekommen«, murmelt Gudridur vor sich hin, aber so leise, daß es niemand hört, nicht einmal Fridmey. Das ist auch gut so, denn sie darf kein schlechtes Wort über ihre junge zukünftige Schwiegermutter hören.

Ein Boot liegt am Strand. Ein unbekanntes Boot von einem weißen Schoner, der nicht weit vom Land ankert. Und es wird schon dunkel. Die Leute gehen, so schnell sie können, hinter Jakob und dem Bauern Stefan her.

Plötzlich steht Sunneva zwischen ihnen, als wäre sie aus dem Boden geschossen, ruhig wie immer, die Augen vielleicht ein klein wenig dunkler als gewöhnlich, und mit einer Falte um den Mundwinkel, die Stefan dort noch nie gesehen zu haben glaubt. Sie reicht ihm einen großen, schön gearbeiteten, schmiedeeisernen Schlüssel.

»Der Speicherschlüssel«, sagt der Bauer Stefan verwundert. »Was ist los?«

»Nicht gerade viel«, antwortet Sunneva, und die Falte wird tiefer. »Aber ihr schaut vielleicht einmal dort hinein, wenn ihr vorbeigeht«, fügt sie hinzu, dreht sich um und ist verschwunden.

Die Männer blicken einander an. Es ist eine Erleichterung zu sehen, daß Sunneva wohlauf ist, das ist klar, aber genauso klar ist, daß hier etwas nicht stimmt. Sunneva hat nicht die Angewohnheit, ihnen entgegenzugehen, wenn sie vom Felsen kommen, und noch weniger würde sie eine so seltsame Bitte aussprechen, ginge alles mit rechten Dingen zu. Spannung und böse Vorahnungen erfassen sie, und Fridmey erblaßt; Gudridur aber bekreuzigt sich und bittet den Schöpfer um Schutz und Beistand.

An der Hauswand legen sie ihre Bürden ab und eilen zum Speicher hinüber, dem stattlichsten Gebäude des Hofes, aus dem der süße Geruch von Trockenfisch dringt, obwohl der Speicher geschlossen und halb leer ist. Dort stehen in guten Jahren Fässer und Bottiche voll mit köstlichem Essen und Getränken, wenngleich man nun nach einem langen Winter wenig davon sieht; auf dem Dachboden gut verschlossene Truhen und daneben ein ansehnlicher Haufen Dorschköpfe, an den Sparren da und dort einige Heilbuttflossen und anderer Trockenfisch, nicht zu vergessen die Streifen vom Haifisch, das Angelzeug und allerlei Tauwerk, sowie andere Gerätschaften. Aber nun ist da offenbar noch mehr als das, was den Magen füllt.

Die Männer stellen sich vor der Speichertür auf. Fäuste ballen sich und Augen funkeln.

Der Abend ist ruhig, kaum, daß eine Welle gegen die Steine am Strand spült. In der Stille hört man ein fernes Krächzen, drohend und unheilverkündend, und die Frauen schauen einander mit weit aufgerissenen Augen an.

Stefan geht zur Tür und macht sich an ihr zu schaffen.

Alle warten gespannt.

Die Stille wird länger.

Wieder hört man ein Krächzen in der Ferne.

Schließlich reißt Stefan die Tür mit einem Ruck auf, und die Männer heben ihre Fäuste.

Aber nichts geschieht. Aus dem dunklen Innern des Speichers hört man keinen Ton.

Die Männer gehen vorsichtig hinein, Stefan als erster, Jakob dicht hinter ihm, dann Thorkell und Einar. Die Frauen folgen mit einigem Abstand.

Im Dunkeln zeichnen sich drei unförmige Haufen weiter hinten auf dem Fußboden ab.

»Großer Gott«, schluchzt Gudridur und klammert sich an Fridmey. »Sie hat sie umgebracht!«

»Haben das Fäßchen geleert«, murmelt Stefan da, und mit einem Mal erhebt sich einer der Haufen blitzschnell vom Boden, wie eine Schlange, die zubeißen will, und Gudridur erschrickt so sehr, daß sie vor Entsetzen fast ohnmächtig wird. Es ist ein hochgewachsener Mann von finsterem Aussehen und zu allem fähig; ein dunkeläugiger Mann mit schwarzen Augenbrauen und einer Adlernase, das Haar ungekämmt und lockig. Seine weißen Zähne blitzen, als er die Leute vom Hof ansieht.

»Eve«, ruft er plötzlich, wahrscheinlich, um sie zu verfluchen, und Gudridur bekreuzigt sich.

»Eve«, ruft er abermals und lacht, und seine Stimme klingt triumphierend, als er einen Satz auf Gudridur zu macht, die eilends durch die Tür zurückweicht und Fridmey in die Arme sinkt. Der Mann bleibt stehen und schaut abwechselnd die beiden Frauen an, als ob er etwas durcheinander sei, und blickt dann auf den Bauern Stefan und seine Männer.

Jakob zittert. Jeder Nerv seines Körpers ist angespannt. Es ist etwas in den Augen dieses Mannes, etwas in seinem Gesichtsausdruck, das in Jakob den heftigen Wunsch weckt, die Fäuste sprechen zu lassen. Er muß seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig stehen zu bleiben.

Der Mann sagt etwas Unverständliches und wendet sich dann seinen Kameraden zu, tritt sie kräftig mit den Füßen. Die murmeln etwas und drehen sich weg. Erst nach zwei weiteren unsanften Tritten kommen sie zu sich, blicken sich entsetzt um und springen dann mit erhobenen Fäusten auf. Der Mann aber winkt sie zurück und plappert wieder etwas, aus dem niemand schlau wird, nicht einmal Stefan, der sich im allgemeinen leidlich verständigen kann mit diesen von weit her gekommenen Leuten. Nur dieses eine Wort, das sie immer wieder hören, erkennen sie: Eve. – Eve. Und jedes Mal, wenn er dieses Wort ausspricht, leuchtet ein Lächeln in seinen Augenwinkeln auf, ein Lächeln, das Jakob noch unangenehmer berührt als alles andere. Ein Lächeln, das nicht zu ertragen ist.

»Jakob«, sagt der Bauer Stefan scharf. Und Jakob hält inne. Kehrt widerwillig an seinen Platz zurück.

»Hinaus!« sagt Stefan plötzlich streng. »Hinaus von hier!« Und es liegt Zorn in der Stimme, eine Wucht, eine ungewöhnliche Wucht, die überrascht, die genauso unangemessen ist wie Jakobs Heftigkeit, die noch in der Luft vibriert. Denn schließlich ist hier nichts weiter geschehen, als daß ein Fäßchen Branntwein daran glauben mußte. Das ist natürlich ärgerlich genug, aber was ist es schon gegen die Greuel, die hätten geschehen können?

Die Menschen sind einiges gewohnt hier im Norden, sie müssen meist selbst sehen, wo sie bleiben, meinen aber auch, daß es so am besten sei, und verlassen sich nur selten auf die Anordnungen einer nicht immer sehr weisen Obrigkeit. Man hat also durchaus Anlaß, sich zu freuen. Trotz allem. Und die höheren Mächte für ihre feste und barmherzige Führung zu preisen. Denn es ist ganz klar, wer hier den kürzeren gezogen hat, und das gegenüber einem einzigen Frauenzimmer. Sicher wird man einen so jämmerlichen Aufenthalt wie das Eingesperrtsein im Speicher am hellichten Frühlingstag nicht so bald vergessen. Eigentlich müßten diese ausländischen Tölpel ihr Gesicht verstecken vor Scham darüber, daß sie sich auf so schmähliche Weise zum Narren halten ließen. Aber dieser Mann da scheint solche Gefühle nicht zu kennen.

Dennoch zeigt der Nachdruck in Stefans Stimme Wirkung, denn der Mann gibt seinen Leuten ein Zeichen. Aber da hat Jakob schon das Hohnlächeln bemerkt, das in dem Augenblick, in dem er sie ansah, über das dunkle Gesicht huschte, ein Ausdruck der Verachtung in dunklen Augen. Und jetzt kann ihn nichts mehr halten. Koste, was es wolle, der Mann mit dem höhnischen Grinsen und dem eingebildeten Blick soll Blut schmecken. Soll bekommen, was er verdient hat.

Aber Stefan steht im Weg. Schwer und unerschütterlich steht er da, während die zwei Männer ihre Holzschuhe vom Boden aufheben und hinauseilen, um schnell über den Kies zum Strand hinunterzulaufen, zu ihrem Boot. Der große Mann läßt sich Zeit. Sie sehen, wie er sich am Strand umdreht und zum Haus hinaufschaut; er hebt die Hand, als wolle er jemandem zuwinken, dann steigt er ins Boot und verschwindet hinaus in die Dämmerung.

Eine Unterhaltung über das, was da eben geschehen ist, will nicht zustande kommen, während die Eierausbeute verteilt wird, ganz gleich, womit begonnen wird. Vielleicht ist es Jakobs Blick, der über allem wacht, scharf und stechend. Die Leute verstummen mitten im Satz, ihr Lächeln verfliegt. Und Stefan kommt nicht darauf zu sprechen. Auch nicht Sunneva. Sie spricht nur über die alltäglichsten Dinge. Und lächelt. Als sei nichts Bewegendes geschehen. Und Stefan stellt keine Fragen.

Gudridur schnauft laut und macht den Mund auf. Aber den Augen Jakobs entgeht nichts, und die Worte ersterben ihr auf den Lippen. Völlig überrascht starrt sie Jakob an, dann wendet sie sich ab. Nie hätte sie geglaubt, daß er, daß Jakob, der Junge, den sie aufgezogen hat, seit Stefan ihn hierher brachte, nachdem sein Vater im Meer ertrunken war und der Haushalt aufgelöst wurde, daß er, der als Kind in ihren Armen schlief, dem sie Geschichten erzählte und einen guten Bissen zusteckte, sooft sie konnte, daß er sie einmal mit solchen Augen anschauen würde! Das ist Hexerei! Und sie weiß auch, wessen Schuld das ist.

Das Schweigen folgt den Menschen ins Haus hinein. Man spricht nicht einmal richtig über die Wetteraussichten für den nächsten Tag, sagt nur ein paar vereinzelte Sätze. Bloß die alte Sina murmelt ununterbrochen etwas vor sich hin, während sie zu Bett geht. Gudridur meint, alte Gebete zu hören, oder sogar Beschwörungen. Gegen böse Mächte. Was sicher nicht schadet, denn hier scheint einiges in der Luft zu liegen, und zwar nichts Gutes.

Allmählich wird es still in der Stube, das Räuspern und Schnupfen verstummt und das Schnarchen beginnt, die feuchte, schwere Luft zu teilen. Zusammen mit Sinas Gemurmel. Ab und zu verstummt sie eine Weile, dann hört man sie schimpfen und fluchen, sogar ausspucken, schließlich beginnt das Gemurmel von neuem. Gudridur sagt alle Gebete auf, die sie kann, leiert sie immer wieder Wort für Wort herunter, aber nichts hilft. Es will ihr einfach nicht gelingen einzuschlafen, trotz der vielen Gebete. Sie ist voller Unruhe, immer verfolgen sie Jakobs Augen. Und sie stöhnt und wirft sich hin und her. So scheint es aber auch noch anderen zu gehen, denn die Leute schlafen ungewöhnlich unruhig in dieser Frühlingsnacht, die nie ein Ende nehmen will.

Aber sie endet doch. Wie andere Nächte. Und am Morgen erhebt man sich und macht sich wieder auf den Weg zum Felsen.

Es ist kurz vor sechs Uhr abends, als ein Mädchen hoch oben am Berg auftaucht. Wie ein herabstürzender Vogel wirft sie sich die Hänge hinunter, fliegt über Steine und Geröll, Moospolster und Moorsenken, fällt in einen Bach, der nach dem Tauwetter stark angeschwollen ist, rappelt sich aber gleich wieder auf und stürmt weiter; ein dunkler Vogel, der direkt auf den Hof zu hält.


»Alles in Ordnung hier?«

Ein Gesicht in der Tür, ein Lächeln. Nicht Margret, die mit mir in dieses Zimmer kam, in dem die Freesien duften, leise, aber festen Schritts, die Beine voller Krampfadern unter den dicken Gummistrümpfen. Ein Mädchengesicht, jung.

Hastig verdecke ich das Blatt mit meinen Händen, schaue sie an, gebe keine Antwort.

»Alles in Ordnung hier?«

Eine unverständliche Frage, zu absurd, als daß man darauf antworten könnte.

»Möchtest du vielleicht eine Tasse Kaffee?« fragt sie weiter, die Stimme etwas leiser, verlegener, das Lächeln verschwunden.