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Fußnoten


1 Unverschämtes Benehmen

2 Deutscher Kretin = Deutscher Dummkopf, Ignorant

3 Vizekönig

4 Karl Winter, Die Streckenführungen der nordamerikanischen Eisenbahnen, u.a. in: Illustrierte Monatshefte für Unterhaltung und Belehrung, Leipzig, 1869, a.a.O.; Privatdruck, Dresden 1870

5 vgl. Old Shatterhand – Neue Abenteuer, Band 4, In den Fängen des Ku-Klux-Klan

6 vgl. dazu Old Shatterhand – Neue Abenteuer, Bände 4-6

7 vgl. Old Shatterhand – Neue Abenteuer, Band 2 ff

8 vgl. dazu Old Shatterhand – Neue Abenteuer, Bände 5 und 6

9 Chott el Djerid, der große Salzsee in Tunesien, vgl. Karl May, Durch die Wüste

10 Märchenerzähler, Dichter, aber auch Schauspieler

11 vgl. dazu Karl Mays Erzählung „Eine Ghasuah“

12 vgl. dazu Old Shatterhand – Neue Abenteuer, Bände 4 bis 6

13 Uschebtis oder auch Schawabti sind Grabbeigaben, oft in Form einer Mumie.


Kara Ben Nemsi
DIE SHEJITANA




In dieser Reihe bisher erschienen

1801 Die Rückkehr des Schut

1802 Die Rache des Schut

1803 Der Fluch des Schut

1804 In der Gewalt des Schut

1805 Das Geheimnis des Schut

1806 Der Krieg des Schut

1807 Die Schatzräuber und die Felsenstadt

1808 Das Königsgrab in der Felsenstadt

1809 Das Vermächtnis aus der Felsenstadt

1810 Die Shejitana

1811 Im Reich der Shejitana

1812 Königin Shejitana



Kara Ben Nemsi


Die Shejitana


Eine Reiseerzählung nach den Charakteren
von Karl May


Aufgeschrieben von Thomas Ostwald




Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung 
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Thomas Ostwald
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-120-5

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



1.


Endlich konnte ich die Abteiltür öffnen. Es war während der gesamten Strecke sehr warm im Zug geworden, und weil eine ältere Dame sich strikt weigerte, meinem Wunsch nach dem Öffnen eines Fensters zuzustimmen, musste ich ausharren. Mit strengem Blick betrachtete mich diese Dame, als ich es schließlich mit einer leichten Verbeugung zu ihr wagte, mein Jackett abzulegen und an einen der praktischen Haken zu hängen. Sie tuschelte aufgeregt mit ihrer Begleiterin und ich schnappte dabei ein paar Wortfetzen auf. „Scandaleux acte ...“1 war der eine Teil, den ich deutlich verstand, „crétin allemand“2 ein anderer.

Ich tat zunächst so, als hätte ich nicht verstanden, was die Dame zu ihrer Begleiterin gesagt hatte. Offenbar war die jüngere der beiden ihre Gesellschafterin und musste sich geradezu aufopfernd um die in ein kostbares Reisekleid aus schwarzer Seide gekleidete Dame kümmern. Madame trug einen etwas verwegenen Hut mit angedeutetem, kurzen Schleier, der für ihr Alter unpassend war. Offenbar wollte sie mit ihrem schneeweißen Gesicht, das während der Zugfahrt immer wieder überpudert werden musste, dem dezenten Dekolleté, einem kleinen Schönheitsfleck auf der Wange und ihrem gezierten Benehmen ein wenig ihr wahres Alter verschleiern.

Ihre Begleitung war ein eher farbloses junges Wesen, ebenfalls ganz in schwarz gekleidet, ebenso blass wie ­Madame, aber mit einem Hut, der ihr überhaupt nicht stand und sie eher wie eine Vogelscheuche wirken ließ. Ständig musste sie Madame ein Kissen im Nacken und ein weiteres im Rücken zurecht schieben, dann ihr ein Buch reichen, wenig später die Puderdose, dann die Tageszeitung, gleich darauf ein feines Batisttaschentuch, an dem Madame ein paar Stiche an einer kleinen Blume ausführte, um gleich darauf seufzend ihre Brille wieder abzusetzen und gelangweilt aus dem Fenster zu blicken.

Doch dabei nickte sie kurz ein, ihr Kopf kippte auf die Seite, und nach wenigen Minuten schlief auch ihre Gesellschafterin. Unbemerkt rutschte das kleine Buch, das zwischen den beiden Frauen gelegen hatte, herunter und fiel mir direkt vor die Füße.

Ich bückte mich und warf einen raschen Blick auf den Titel.

„Carl Humann, Erste archäologische Funde in ­Bergama“, las ich mit Erstaunen. Das Werk dieses deutschen Ingenieurs und Archäologen war mir gut vertraut. Ich hatte es vor meinem Reiseantritt noch einmal gelesen, weil es im aktuellen Bezug zu meiner Reise stand. Also verstand Madame durchaus meine Sprache und sprach vermutlich extra Französisch, um mich abzustrafen. Ich sah von dem Buch in meiner Hand auf und begegnete einem Zornesblitz aus den Augen der offenbar gerade erwachten Mitreisenden.

Faites excuse, ma chère dame“, entschuldigte ich mich sofort und fuhr dann in französischer Sprache fort: „Das Buch war heruntergefallen, übrigens ein sehr ­interessanter Bericht von den neuesten Ausgrabungen in Pergamon.“ Ich benutzte bewusst den Namen der antiken Stadt, um festzustellen, ob mein Gegenüber bewandert war oder nur aus Langeweile in dem zufällig gegriffenen Titel blätterte.

„Ich bin nicht Ihre liebe Dame“, fauchte sie mich aber stattdessen auf Deutsch an, „und ich verbitte mir jede weitere Ansprache, mein Herr!“

Damit zog sie ein so fürchterlich abweisendes Gesicht, dass ich unwillkürlich lächeln musste. Aber das war Madame offenbar entgangen, denn von nun an starrte sie angestrengt aus dem Abteilfenster, bis der Zug in Wien den Bahnhof erreicht hatte.

„Bon voyages, mes dames!“, verabschiedete ich mich freundlich. Mein Jackett hatte ich längst wieder übergezogen, jetzt ergriff ich meine kleine Reisetasche und trat tief aufatmend auf den Bahnsteig hinaus.

Erst jetzt bemühte sich die junge Gesellschafterin, aus dem Abteil einem der Dienstmänner ein Zeichen zu geben, damit er die Koffer aus dem Gepäcknetz hob. Na, das konnte mir nun egal sein – wenn Madame es ablehnte, mit einem Kretin zu sprechen, musste ich auch nicht beim Aussteigen besonders höflich sein. Ich drückte meinen Hut etwas nach vorn, sah mich rasch um und ging dem Ausgang zu, als mich ein lauter Ausruf festhielt.

„Kara Ben Nemsi Effendi! Was für eine Freude! Es ist sehr lange her, dass wir uns gesehen haben, Inschallah!“ Der Mann, der mich auf so freundliche Weise und in einer Lautstärke begrüßte, die sofort die Aufmerksamkeit der Reisenden auf uns lenkte, war ein stattlicher Riese von fast zwei Metern Körpergröße und mächtig breiten Schultern, einem schwarz behaarten Gesicht, sehr buschigen Augenbrauen und einem Lachen dazu, das ehrlich und offen war.

„Hassan ben Khaifani, mein Freund! Welche eine Überraschung!“, antwortete ich, aber schon wurde ich von zwei mächtigen Armen umschlossen und an die Brust des Riesen gedrückt, sodass mir kurz der Atem wegblieb. Dabei drehte sich der Mann noch einmal um seine Achse und wirbelte mich um sich herum wie ein kleines Kind.

„Hassan, lass es gut sein, man wird schon auf uns aufmerksam!“, rief ich lachend aus, denn der Riese hätte wohl noch ein paar Runden, mich herumschleudernd, über den Bahnsteig getanzt. Auch er lachte so herzlich, dass ihm die Freudentränen die Wangen hinunter liefen.

„Ach Kara Ben Nemsi Effendi – was für ein Tag! Was für ein Wiedersehen!“

Ich warf einen raschen Blick auf die um uns herum eilende Menge und traf dabei auf so manchen fröhlichen Gesichtsausdruck, der sich aber rasch verlegen abwandte.

Während wir nun nebeneinander zum Ausgang gingen, sagte ich zu meinem Begleiter: „Dann verdanke ich also meine Einladung wirklich ihm?“

Erschrocken blieb Hassan stehen und schenkte mir aus seinen großen, braunen Augen einen so erschrockenen Blick, dass ich unwillkürlich erneut auflachen musste.

„Aber Effendi – wo denkst du hin? Nein, natürlich nicht! Der Khedive3 ist natürlich zum Kongress geladen, aber als Staatsmann und wichtiger Partner der Europäer bei dem neuen Projekt. Nein, Kara, du bist hier, weil man dich ehrt und deinen Rat möchte. Man hat dich aufgrund deines Wissens und deiner Tätigkeit eingeladen. Man will dich, Kara Ben Nemsi Effendi, ehren, und deine Rolle bei der Entdeckung der Nekropole herausstreichen. Ohne dich wäre niemals ...“

„Bitte!“, fiel ich meinem Freund ins Wort. „Kein Wort weiter hier an diesem Ort, Hassan, wo uns alle hören können. Was damals geschehen ist, wissen nur drei Menschen – der Khedive, du und ich. Und das ist auch genug. Wenn es Kreise ziehen sollte, habe ich Angst vor den Folgen, denn sollte das Wissen um die Weisen Räte in falsche Hände geraten ...“ Ich ließ meine Antwort ausklingen, weil ich das Gefühl hatte, dass uns zwei Männer folgten, die in den letzten Minuten dichter zu uns aufgeschlossen hatten. Ein rascher Blick zu Hassan, und er verstand meine Befürchtungen. Wir unterhielten uns in der arabischen Sprache und duzten uns natürlich.

„Habe sie bemerkt, Effendi. Es handelt sich um zwei Agenten des Österreichischen Geheimdienstes. Sind nicht sonderlich begabt, diese Burschen vom Institut der k. u. k. Polizeiagenten in Wien, wie sie sich seit einiger Zeit nennen. Wenn du erlaubst, werde ich mich ein wenig um sie kümmern.“

Bei diesen Worten schlug Hassan die geballte rechte Faust in die linke Handfläche.

„Ich glaube, das wird nicht nötig sein, Hassan. Lass mich das bitte regeln.“

Mit diesen Worten drehte ich mich mitten im Gehen auf dem Absatz herum und wäre um ein Haar mit den beiden Männern zusammengeprallt, die sich dicht hinter uns gehalten hatten.

„Meine Herren“, sprach ich sie an, wobei der erste von ihnen einen Schritt zurücktrat und so tat, als wolle er an mir vorübereilen. „Meine Herren, lassen Sie doch bitte das alberne Spiel. Mein Name ist Karl Winter, ich komme aus Dresden und wurde von der Österreichischen Geographischen Gesellschaft als Gastredner eingeladen. Mein Begleiter ist Hassan ben Khaifani, Offizier des ägyptischen Vizekönigs und zugleich Chef der Leibgarde. Wenn Sie meinen, dass wir uns auf dem Bahnhof verdächtig gemacht haben, so schreiben Sie Ihren Bericht, grüßen Sie Ihren Vorgesetzten und überlegen Sie Ihr weiteres Vorgehen. Es könnte zu schweren diplomatischen Konflikten zwischen Österreich und Ägypten führen. Und ich kenne Ismail Pascha, den Khedive, sehr gut und weiß, dass er äußerst empfindlich reagieren kann. Guten Tag!“

Damit ließ ich die beiden verblüfften Agenten einfach stehen, griff Hassan am Unterarm und führte ihn behutsam in eine andere Richtung. Schließlich vernahm ich ein befreiendes Lachen an meiner Seite und atmete selbst durch.

„Köstlich, Kara Ben Nemsi, ganz köstlich! Wie in alten Zeiten in Kairo. Ach, was freue ich mich, dass wir in den nächsten Tagen genügend Gelegenheit finden werden, unsere alte Freundschaft zu erneuern! Aber zunächst möchte ich dafür sorgen, dass du in dein Hotel kommst, ohne weitere Belästigungen zu ertragen. Dort drüben steht unser Fahrzeug!“

Er deutete in die Richtung der wartenden Kutschen, und ich hatte eine normale Droschke erwartet. Aber ­Hassan schien übermütig geworden zu sein, denn offensichtlich wartete einer der zahlreichen Fiaker auf uns, mit einem Kutscher, den ich niemals im Leben ausgesucht hätte, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Die nummerierten Kutschen, von denen es inzwischen mehr als 1000 in Wien gab, waren zweispännige, offene Lohnkutschen, die insbesondere von den zahlreichen Reiselustigen gern gemietet wurden.

Schon im Jahre 1693 wurde in Wien die erste Lizenz für einen Fiaker erteilt. Das Wort stammte vom französischen Fiacre und wurde rasch zu einem festen Begriff, nicht zuletzt durch Baedekers Reiseführer. Die berühmten roten Bände wurden seit 1832 von Karl Baedeker im gleichnamigen Verlag herausgegeben. Mit der sechsten Auflage des erfolgreichen Reiseführers hatte man endlich Deutschland und Österreich getrennt, denn der Umfang eines solchen Bandes war mit über 600 Seiten bereits sehr unhandlich geworden. Ich selbst hatte mir die sechzehnte Auflage besorgt, die sich mit Österreich und Ungarn beschäftigte und 316 Seiten mit umfangreichen Informationen, Karten und Plänen aufwies. Das war ein Reiseführer ganz nach meinem Geschmack, mit zahlreichen Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten, die ich wohl kaum auf meiner Reise aufsuchen würde – aber einem ausgezeichneten Stadtplan von Wien.

Wir fuhren direkt zur K. u. K. Österreichischen Geographischen Gesellschaft von 1867 in ein Gebäude, das man eigens für diese Tagung angemietet hatte. Im Mittelpunkt der Ausstellung, die unsere Tagung begleiten sollte, stand der Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius aus dem Jahre 1571, aber jeder Teilnehmer wusste, dass die Ausstellung dieser Kostbarkeit nur vom eigentlichen Thema ablenken sollte.

Schließlich war der Ehrengast dieser Veranstaltung der Vizekönig von Ägypten, und dass dieser Mann nur ein recht mäßiges Interesse an dem Atlas aus Antwerpen hatte, galt als offenes Geheimnis.

Aber alle sollten sich in dieser Hinsicht sehr getäuscht haben.