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Über dieses Buch:

Manche Männer haben Probleme, andere einen Job – und bei Markus Waldo gehört beides untrennbar zusammen: Seine steile Karriere als Privatdetektiv hat sich in Luft aufgelöst, bevor sie jemals beginnen konnte. Geblieben ist ihm nur sein uralter Fiesta, der dringend in die Werkstatt muss, sowie die unerschütterliche Hoffnung, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Und tatsächlich: Plötzlich taucht eine Klientin auf! Jasmin Bärfelde ist fest überzeugt, dass ihr Gatte Opfer eines heimtückischen Mordanschlags wurde. Aber wer sollte ein Interesse daran haben, den braven Mitarbeiter einer Schweinezuchtanlage aus dem Weg zu räumen? Waldo beginnt zu ermitteln – und merkt schnell, dass nicht nur Schweineställe zum Himmel stinken …

»Godazgar spielt mit der Sprache, nimmt sich selbst nicht so wichtig und hat eine angenehme Art, seine Anleihen bei Chandler oder Hammet unauffällig, aber wirksam einfließen zu lassen. Ein echtes Lesevergnügen.« RBB Antenne Brandenburg

Über den Autor:

Peter Godazgar, geboren 1967, wuchs im nordrhein-westfälischen Hückelhoven auf. Er studierte Germanistik und Geschichte, bevor er die Henri-Nannen-Journalistenschule besuchte und später als Redakteur der Mitteldeutschen Zeitung in Halle an der Saale arbeitete. Heute ist Peter Godazgar stellvertretender Pressesprecher von Halle an der Saale. Für seine Kriminalromane und Kurzgeschichten war er unter anderem für den renommierten Friedrich-Glauser-Preis nominiert und erhielt ein Stipendium der Kunststiftung von Sachsen-Anhalt.

Der Autor im Internet: www.peter-godazgar.de

Bei dotbooks veröffentlichte Peter Godazgar seine Kriminalromane um den Privatdetektiv Markus Waldo: Nur ein Schwein stirbt allein, Tote Fische schwimmen oben und Ein Kaninchen killt man nicht.

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eBook-Neuausgabe April 2018

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel Unter Schweinen bei GRAFIT Verlag GmbH.

Copyright © der Originalausgabe © 2005 by GRAFIT Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Hilden Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/ krumanop und shutterstock/MaxyM

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-214-6

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Peter Godazgar

Nur ein Schwein stirbt allein

Kriminalroman

dotbooks.

Nachts

Plätschern.

Plätschern? Tatsächlich, es plätschert. Gleichmäßig.

Ein Bach.

Ein Bach? Ein kleiner Fluss?

Ein Bach.

Er ist überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass hier ein Bach fließt. Wo fließt hier ein Bach? Der Fluss, klar, ein paar hundert Meter weiter fließt der Fluss. Aber plätschert der so? Vielleicht ein Rinnsal, das irgendwann in den großen Fluss mündet?

Ist er so weit von der Straße abgekommen? Wie ist er nur hierher gelangt?

Dann versteht er. Es ist kein Fluss und auch kein Bach.

Er ist fast erleichtert, als er erkennt, was es ist. Es ist der Regen. Es regnet. Tapptapptappappappatapp. Das Fenster muss offen stehen, er kann die Tropfen ganz deutlich vernehmen.

Er dreht den Kopf. Er stöhnt. Noch einmal, mehr um seine Stimme zu hören. Etwas läuft an seinem Kinn hinab, den Hals hinunter, unter den Hemdkragen. Ein Schaudern streicht über seinen Rücken. Der Regen? Es schüttelt ihn.

Warum aber regnet es? Hatte es geregnet, als er losfuhr? Er kann sich nicht erinnern. Und das Merkwürdigste: Der Regen fällt verkehrt. Er fällt von unten nach oben. Ein erstaunliches Bild. Er will den Kopf wenden, um zu sehen, was da passiert. Wie kann das sein?

Dann hört er einen neuen Ton. Ein leises Knacken. Oder ist es gar kein neuer Ton? Doch, es knackt. Wie Metall, das sich abkühlt.

Er versucht erneut, sich zu bewegen. Dann spürt er den Schmerz. Schmeckt Blut. Es ist kein Regenwasser, das ihm da in das Gesicht läuft. Etwas Dickflüssiges fließt in sein rechtes Auge, er schließt es, zuckt kurz zusammen. Der Schmerz packt wieder zu. Er stöhnt auf. Irgendetwas in ihm fühlt sich komisch an, falsch. Er will seinen Arm heben, um seine Brust, seinen Bauch zu berühren – um herauszufinden, was sich falsch anfühlt. Aber er schafft es nicht.

Er sieht nicht mehr, dass es hinter ihm hell wird.

Er hört auch nicht das Motorengeräusch.

Er merkt auch nicht, dass jemand ruft, an der Wagentür rüttelt.

Dienstag

Waldo saß an seinem Schreibtisch und hatte schlechte Laune. Nicht dass gleich am Anfang ein falscher Eindruck entsteht: Waldo war eigentlich ein Mensch, der eher selten schlechte Laune hatte. Schlechte Laune hatte er aber zum Beispiel immer dann, wenn die Woche mit einer außerplanmäßigen Ausgabe begann. Gut, es war schon Dienstag und so ganz außerplanmäßig war diese Ausgabe auch nicht. Seit Wochen hatte sich angedeutet, dass es der Auspuff seines Autos nicht mehr lange machen würde.

Er pulte zwei rote Gummibärchen aus der Tüte, steckte sie sich in den Mund und starrte wieder missmutig auf das DIN-A4-Blatt. Auf der Rechnung stand als Summe: 160 €.

Auch hier könnte gleich ein falscher Eindruck entstehen. Hundertsechzig Euro, das war ein Betrag, den Waldo problemlos begleichen konnte; er gehörte nicht zu denen, bei denen eine kaputte Waschmaschine zum finanziellen Ruin führt. Aber er gehörte auch nicht zu denen, denen Geld völlig egal ist, und das lag wohl an seiner Erziehung zur Sparsamkeit, auch wenn er selbst es wohl nie so sehen würde. Waldo kaufte gern Sonderangebote.

Er griff erneut in die Tüte und nahm zwei weitere Gummibärchen heraus, ein orangefarbenes und ein gelbes; er senkte den Kopf, bis er in die Tüte blicken konnte, fingerte ein weiteres gelbes Gummibärchen heraus und steckte es mit dem ersten gelben Bärchen in den Mund. Das orangefarbene warf er in die Tüte zurück.

Was ihm an diesem Morgen den Rest gegeben hatte, das war der Typ in der Werkstatt gewesen – ein unerträglich gut gelaunter Schnösel, der ihn mit einem munter gesungenen »Tagchen« begrüßt und mit einem noch munteren »Tschaui« verabschiedet hatte. Tschaui.

»Tag«, hatte Waldo geantwortet. »Ich wollte mein Auto abholen.« Und als beim Verkäufer nicht gleich der Groschen fiel, ergänzte er: »Den roten Ford Ferrari.«

»Richtig.« Der Verkäufer wirbelte herum, ging an einen Schreibtisch, suchte das Klemmbrett mit dem Reparaturbericht und kam zurück zur Theke.

»Und?«, fragte Waldo, um ein bisschen Konversation zu betreiben. »Auspuff wieder dran?«

Der Mann lächelte freundlich: »Na klar. Wir mussten den Topf natürlich austauschen, da konnte nix mehr geschweißt werden, da war ein dickes Loch drin, war ja auch nicht zu überhören. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

»Das ist schön.«

»Wie man’s nimmt.« Der Verkäufer blickte auf den Zettel, der an dem Klemmbrett steckte. »Der Kollege hat einen Bremsentest gemacht. Machen wir immer, gehört zum Service. Jedenfalls: Vorne sind die Beläge ziemlich runter. Schon unter der Mindestmarke. Die müssten Sie schnellstens wechseln.«

Waldo zog eine Grimasse.

»Schon in Ihrem eigenen Interesse«, legte der Mann nach. »Das kann echt gefährlich werden.«

Waldo gab ein unbestimmtes Brummen von sich.

»Bremsen sind wichtig«, sagte der Mann. »Man könnte fast sagen: Bremsen sind das Wichtigste.«

»Ich lass den Wagen meistens ausrollen«, sagte Waldo.

Der Verkäufer guckte komisch.

»Und was würde der Spaß kosten?«

»Kann ich Ihnen sagen.« Der Mann zog ein dickes Buch unter der Theke hervor und fing an, darin zu blättern. »Also ...«, murmelte er, »Fiesta, Baujahr, äh ...«, er blickte auf die Autopapiere, »zweiundneunzig ...« Er tippte ein bisschen auf einem Taschenrechner herum und sagte schließlich, ohne rot zu werden, aber immerhin mit einem kritischen Kopfwiegen: »Hm ... knapp dreihundert.«

»Dreihundert

»Knapp dreihundert. Zweifünfundachtzig, um genau zu sein.«

»Sehr knapp ... Toll ... Und was kostet’s für mich

Der Mann schaute Waldo kurz an, dann tippte" er erneut auf der Tastatur herum. »Mmh«, sagte er. Und dann: »Na ..., sagen wir mal ... zweifünfzig.«

Waldo stöhnte. »Ja ... Mist ... Muss ich gucken, kann ich aber jetzt nicht gleich hier lassen, die Karre. Ich brauche sie morgen und übermorgen.«

»Kein Problem. Wollen wir einen Termin machen?«

Waldo atmete geräuschvoll durch den Mund aus und ließ dabei kurz seine Lippen flattern. »Nee«, antwortete er dann gedehnt. »Ich ruf nochmal an.«

»Kein Problem. Aber lassen Sie’s bald machen«, sagte der Mann. »Ist in Ihrem eigenen Interesse.«

»Hm«, machte Waldo, »schönen Dank, dann zahl ich erst mal den Auspuff.«

»Was hatten wir gesagt? Hundertsechzig, was?«, sagte der Mann, steckte einen Bogen Papier in einen Drucker, wartete, bis das Gerät ihn wieder ausspuckte, und legte ihn mit großer Geste auf die Theke. Waldo zückte sein Portmonee und zog vier Fünfziger heraus.

»Zweihundert«, sang der Mann, ging zur Kasse, tippte, nahm vier Zehner raus und gab sie Waldo. »Vier Scheine für mich, vier Scheine für Sie. Na, wenn das kein Geschäft ist«, sagte er und grinste breit.

Waldo hatte gar nicht erst versucht zurückzugrinsen. Leute, die ihm Geld abnahmen und auch noch glaubten, Witze darüber machen zu müssen, konnte er gleich gar nicht ausstehen. Sie verschafften ihm, jawohl: schlechte Laune. Er schnappte sich Schlüssel und Papiere, sagte Tschüss und verließ den Laden. Tschaui, dachte er auf dem Weg nach draußen, Tschaui ist auch ein Scheißwort.

Als er im Freien stand, hatte er das Gefühl, als wäre die Temperatur in den wenigen Minuten, die er in dem Verkaufsraum der Werkstatt verbracht hatte, um das Doppelte angestiegen. Die Sonne klebte an einem wolkenlosen Himmel, die Luft stand still.

Waldo sah sich um, aber er musste nicht lange suchen. Da parkte er, sein gammeliger, geliebter Fiesta, sein erstes eigenes Auto (soll heißen, das erste Auto, das ihm nicht seine Eltern vor die Tür gestellt hatten), fehlte bloß, dass es bei Waldos Anblick gehupt hätte. »Na, du«, murmelte er, als er sich dem Wagen näherte. Er ging in die Hocke, um einen Blick auf den neuen, glänzenden Auspufftopf zu werfen.

Du kannst mir viel erzählen, dachte er, während er einstieg. Ist in meinem eigenen Interesse, nochmal zweihundertfünfzig Glocken rauszuschmeißen. Er kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite herunter, dann beugte er sich zur Beifahrerseite und kurbelte auch dort das Fenster herab; ein sanfter Wind streichelte kurz über Waldos Gesicht.

Glücklicherweise stand der Wagen im Schatten. Waldo öffnete das Handschuhfach, griff in eine Tüte, warf sich zwei saure Gummiheringe in den Mund, legte zwei weitere auf den Sitz neben sich und klappte das Fach wieder zu; er nahm sich vor, nachher daran zu denken, die Gummitiere aus dem Handschuhfach zu nehmen – sonst würden sie am nächsten Morgen zu einem einzigen Klumpen zusammengeschmolzen sein; schon jetzt waren die Dinger ziemlich weich. Er startete den Motor und nahm mit Wohlwollen das leise Schnurren zur Kenntnis. Als er den Fiesta abgegeben hatte, hatte der Wagen Geräusche von sich gegeben wie der Chopper von Dennis Hopper. »Jetzt will ich aber keine Klagen mehr hören die nächsten zehn Jahre«, sagte Waldo und tätschelte das Lenkrad.

Er fuhr los, heizte auf die erste rote Ampel zu, die sich ihm bot, und bremste scharf ab. Dafür, dass die Bremsen völlig hinüber sein sollten, bremste das Auto noch ganz gut, fand Waldo. Er tastete auf dem Beifahrersitz nach den beiden sauren Heringen und steckte sie sich zwischen die Zähne. Vielleicht hätte ich neben dem Mechaniker stehen bleiben und Interesse heucheln sollen, dachte er. Er malte sich aus, wie die Leute von der Werkstatt sein Auto in die Halle gefahren, die Garagentür runtergelassen, das Loch in dem Auspuff mit Tesafilm zugeklebt, das ganze Teil mit Silberfarbe besprüht und sich dann neben das Auto gesetzt und eine Stunde Skat gespielt hatten. Die Ampel schaltete auf Grün.

Sollte er den Fiesta vor seiner Wohnung abstellen und mit dem Fahrrad ins Büro fahren? Waldo entschied sich dagegen – aber er bereute den Entschluss, während er eine geschlagene Viertelstunde in konzentrischen Kreisen durch die Straßen rund um sein Büro kurvte auf der Suche nach einem Parkplatz. Schließlich fand er einen zwei Seitenstraßen weiter. Seine Laune war endgültig unter den Nullpunkt gerutscht.

Waldo blickte auf seine Armbanduhr. Die Frau, die ihn gestern angerufen hatte, war seit einer Viertelstunde überfällig, und er begann, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie ihn versetzen würde. Das wäre die passende Fortsetzung dieses Tages. Wenn er es richtig bedachte, war er sich allerdings gar nicht sicher, ob sie mit ihm den Termin überhaupt fest vereinbart hatte.

Vielleicht hat sie ihren ganzen Mut schon dafür verbraucht, bei mir anzurufen, dachte er. Nachdem er gestern den Hörer abgenommen hatte, hatte er zunächst nur ein leises Rauschen in der Leitung gehört. Na, komm schon, Kollege, hatte er gedacht, sag dem alten Markus, was dir auf der Seele liegt. Über den Preis können wir verhandeln.

Rauschen.

Einmal melde ich mich noch, aber dann leg ich auf. »Hallo?«, sagte er wieder in den Hörer.

»Ja, äh, guten Tag.« Eine schüchterne Frauenstimme.

»Ja, guten Tag«, sagte Waldo, so fröhlich und so einfühlsam und so Vertrauen erweckend und so scheißfreundlich, wie es nur irgendwie ging an einem Montagmorgen.

»Guten Tag«, wiederholte die schüchterne Stimme.

»Genau.«

Rauschen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Jetzt gib dir einen Ruck, Frau, sonst ist’s vorbei mit fröhlich-einfühlsam-vertrauenerweckend-scheißfreundlich.

»Äh, entschuldigen Sie, aber ich habe noch nie mit einem Detektiv gesprochen.«

»Ist eigentlich nicht so schwierig«, erwiderte Waldo. »Glauben Sie mir, ich führe täglich Selbstgespräche. Ist gar kein Akt. Und durch die Leitung kann ich Sie ja auch nicht beißen.«

Wenn die Frau komisch fand, was er sagte, dann konnte sie es perfekt verbergen. »Vielleicht war das doch keine so gute Idee«, sagte sie.

Mist, hatte Waldo gedacht. Da ist der neue Auspuff am anderen Ende der Leitung, mindestens. Jetzt aber ganz doll fröhlich-einfühlsam-vertrauenerweckend-scheißfreundlich: »Hören Sie, ich weiß, dass das ein komisches Gefühl ist. Vielleicht ist’s einfacher, wenn Sie bei mir vorbeikommen, mein Büro ist ganz in der Nähe vom Markt, ziemlich leicht zu finden. Rufen Sie aus Halle an?«

»Äh, ja.«

»Ja, sehen Sie, dann kommen Sie doch her. Ich bin heute noch bis siebzehn Uhr im Büro, morgen Vormittag leider nicht, aber dann ab dreizehn Uhr wieder.«

Rauschen. Immer noch nicht aufgelegt! Hab sie! Jetzt nachlegen!

»Wir können auch gerne einen Termin vereinbaren.«

»Ja, äh, danke.«

»Wie wäre es morgen mit dreizehn Uhr?«

»Äh, ja.«

»Na prima.« Prima!

»Ja, äh, mal sehen.«

»Was?«

»Ja, ähm, auf Wiederhören.«

Der Hörer war aufgelegt worden.

Waldo zog eine Grimasse, hob die rechte Hand, tat so, als würde er sie auf den Tisch niederknallen lassen, bremste sie im letzten Moment ab und streichelte die Tischplatte mit der größten Sanftheit, die er noch aufzubringen vermochte.

Mal sehen. War das eine Zusage? Mal sehen hieß das nicht eher: Nein danke, ich hab’s mir anders überlegt, Sie machen mir zu lustige Witze?

Fünf vor halb zwei. Waldo fischte zwei grünliche Gummibärchen aus der Tüte, dann stand er auf, ging mit der Werkstattrechnung zum Schrank, öffnete ihn, nahm vom oberen Brett einen Karton, lupfte den Deckel und ließ das Papier hineingleiten. Er schloss die Schranktür und sah sich unschlüssig in seinem Büro um. Schließlich ging er zum weit aufgerissenen Fenster und blickte nach draußen. Die Straße lag ruhig unter ihm. Aus der Ferne hörte er das Brummen von Autos und das Quietschen von Straßenbahnen, aber die Geräusche wirkten heute merkwürdig gedämpft. Als hätte sich die Hitze wie eine riesige Decke über die Stadt gelegt, als falle es den Straßenbahnen an so einem Tag schwerer zu quietschen. Waldo beobachtete eine junge Frau in einem kurzen Sommerkleid, die den gegenüberliegenden Gehweg zielstrebig entlanglief. Jetzt wechselte sie unvermittelt die Straßenseite. Die Anruferin von gestern? Er lehnte den Kopf aus dem Fenster, aber die Frau marschierte an seinem Haus vorbei. Waldo blickte ihr eine Weile nach, betrachtete gedankenverloren und ohne jeden Anflug von Lüsternheit ihre Beine und ihren Po, trat anschließend wieder an seinen Schreibtisch und setzte sich auf den Drehstuhl. Das grüne Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte gemächlich vor sich hin. Waldo nahm sich zwei rote Gummibärchen, dann hörte er noch einmal die drei Anrufe von Albert ab, der ihm einen geselligen Abend bei ein paar Fässern Bier aufschwatzen wollte, und löschte einen Anruf nach dem anderen. Eine digitale Frauenstimme teilte ihm mit, dass nun alle Nachrichten gelöscht seien. Jetzt leuchtete bloß noch das rote Lämpchen.

Er hatte gerade den stern der Vorwoche aufgeschlagen, als die Klingel ging. Eine Klingel mit einem furchtbaren Ton. Mit einem, wie soll man sagen, elektronischen Geräusch: vielleicht ein bisschen so wie eine sehr schnelle Polizeisirene. Ein Ton ohne jeden Nachhall; ein Ton, der exakt so lange zu hören war, wie unten jemand auf den Klingelknopf drückte.

Offenbar stand ein sehr schüchterner Jemand unten. Waldo warf die Gummibärchentüte in eine der Schreibtischschubladen, sprang auf, eilte zur Wechselsprechanlage und nahm den Hörer ab.

»Ja?«

»Bin ich da richtig bei Waldo?«

»Ja, ja. Kommen Sie rauf, zweiter Stock.« Er drückte einen Knopf, öffnete die Bürotür und wartete.

Blond, langbeinig, hochgeschlitzter Rock, rauchige Stimme, dachte Waldo. Bitte, bitte, bitte.

Die Frau, die die Treppen hinaufstieg, schätzte er auf Mitte vierzig. Dunkelblonde halblange Haare, weiße Bluse, dunkelgrüne Stoffhose. Seine Enttäuschung hielt sich in Grenzen.

»Guten Tag.«

»Schönen guten Tag. Kommen Sie herein.«

Waldo ließ die Besucherin eintreten, folgte ihr und schloss die Tür. »Ich bin Markus Waldo. Möchten Sie sich nicht setzen?«

Die Frau trat an die beiden Stühle vor dem Schreibtisch und nahm auf dem rechten Platz. Sein eigener Stuhl quietschte ein bisschen, als sich Waldo ebenfalls setzte und zurücklehnte. Die Frau blickte sich kurz um, und weil Waldo fand, dass der Raum einen durchaus repräsentativen Eindruck machte, sagte er nichts. Als er sich vor anderthalb Jahren als Detektiv selbstständig gemacht hatte, hatte er sich nicht gerade gesträubt gegen die Finanzspritze, die sein Vater ihm ungefragt gewährt hatte. Waldo musste sich nie ernsthafte Sorgen machen. Ein Fingerschnips hätte genügt und seine Eltern hätten ihm genug Geld überwiesen, dass er ein Jahr davon hätte leben können, ohne auf den Cent zu achten, aber das hätte sich schlecht vertragen mit seiner zwar stets beabsichtigten, letztlich aber immer halbherzig vollzogenen Loslösung von seinem Elternhaus – das ist eine lange Geschichte, aber Eltern-Kind-Beziehungen sind ja meistens lange Geschichten.

»Wir haben gestern telefoniert«, sagte die Frau in die Stille hinein.

»Ja, richtig. Schön, dass Sie sich entschlossen haben, herzukommen. Womit kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«, fragte Waldo und zeigte in die hintere linke Ecke des Raums, wo der Kühlschrank stand.

»Nein danke«, sagte die Frau und schwieg.

»Ziemlich warm, was?«, sagte Waldo.

»Ja«, erwiderte die Frau nur.

»Na«, sagte Waldo und versuchte, aufmunternd zu klingen, »was kann ich denn nun für Sie tun?«

»Ich ..., mein Mann ...«, die Frau zögerte, Waldo schwieg, »mein Mann ist am Wochenende gestorben.«

»Oh, das tut mir Leid«, sagte Waldo und hoffte, dass es einfühlsam wirkte.

»Er hatte einen Autounfall.«

Waldo nickte und machte ein Geräusch, das so etwas wie Verständnis ausdrücken sollte.

»Er war auf dem Weg nach Hause. Es passierte zwischen Halle und Merseburg. Kennen Sie die Strecke?«

»Ja. Die Bundesstraße.«

»Ja. Da, wo die Straße vierspurig ist. Bei den Chemieanlagen.«

»Mhm.« Ist die Straße zwischen Merseburg und Halle nicht auf der ganzen Strecke vierspurig?, überlegte er. Waldo war mit Annette mal in Merseburg gewesen. Seit sie sich getrennt hatten, ordnete er die Welt in Annette-Einheiten – da war ich schon mal mit Annette, da war ich noch nicht mit Annette. Er erinnerte sich dunkel an ein Schloss und einen Dom und an einen hospitalisierten Raben, der in einem Steinkäfig saß und an eine alte Sage erinnern sollte.

»Mein Mann ist von der Fahrbahn abgekommen«, sagte die Frau. »Da, wo die Straße unter der Brücke durchführt. Er ist gegen einen Brückenpfeiler gefahren.«

»Das tut mir Leid«, sagte Waldo erneut.

»Ja«, sagte die Frau. Waldo fragte sich, worauf das Ganze hinauslaufen sollte, hielt es aber für besser, nicht zu drängen.

Nach einer Pause fuhr die Frau fort: »Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war.«

Waldo spürte, wie ihm heiß wurde, und zwar nicht wegen der Hitze. Auch wenn er damit protzte, Ermittlungen aller Art durchzuführen, hatte er in den anderthalb Jahren seiner Tätigkeit eigentlich bloß untreuen Ehemännern und -frauen oder krankgeschriebenen Arbeitnehmern hinterhergeschnüffelt. Das hier klang nicht so, als wollte die Frau nur von ihm verlangen, ein paar Fotos vom Unfallort zu knipsen. Wenn jemand nicht an einen Unfall glaubt, bleibt wohl bloß noch eine Alternative, oder? Egal. Irgendwann ist immer das erste Mal. Erst mal ruhig bleiben. Erst mal hören, was die Dame zu erzählen hat. Absagen kann ich immer noch. Waldo zog einen Block Papier heran und nahm aus der obersten Schublade einen Kugelschreiber. »Kein Unfall?«, fragte er.

Die Frau schüttelte den Kopf, Waldo nickte langsam, tippte mit dem Kugelschreiber ein paarmal aufs Papier und bat sie, die ganze Geschichte zu erzählen. Was sie auch tat.

Die Frau hieß Jasmin Bärfelde, war zweiundvierzig Jahre alt und hatte zwei Kinder, ein Mädchen, zwanzig, das in Frankfurt am Main studierte, und einen Jungen, sechzehn. Ihr Mann, Rolf-Dieter, hatte bis zu seinem Tod in einer Schweinemastanlage gearbeitet, in einem Ort ein paar Kilometer südlich von Halle, den Waldo nicht mal dem Namen nach kannte.

»Schweinemastanlage?«, fragte Waldo.

»Ja. Schweinemast.«

»Und was wird da gemacht?«

»Na, Schweine gemästet.«

»Hm«, brummte Waldo.

»Ja.«

»Wusste gar nicht, dass es hier so was gibt.«

Die Frau blickte Waldo an.

»Na, irgendwo müssen die Tiere ja herkommen«, sagte Waldo und entschuldigte sich für die Unterbrechung.

Rolf-Dieter Bärfelde hatte als Tierwirt in der Anlage gearbeitet, er war so eine Art Chef-Tierwirt gewesen; gemeinsam mit fünf Kollegen war er für Fütterung und Pflege von insgesamt sechstausend Schweinen verantwortlich gewesen. Bei der Zahl musste Waldo unwillkürlich pfeifen.

Der Unfall hatte sich vor drei Tagen ereignet, am Sonnabend, gegen elf Uhr abends.

»Wieso war Ihr Mann denn um diese Zeit noch unterwegs?«, wollte Waldo wissen.

»Er hatte an einer Diskussion teilgenommen. Besser gesagt, an einer Versammlung der Bürgerinitiative. Sein Chef hatte ihn darum gebeten.«

Als ihr Mann um Mitternacht immer noch nicht zu Hause war, fing Jasmin Bärfelde an, sich Sorgen zu machen, wusste aber nicht recht, an wen sie sich wenden sollte.

Gegen eins rief sie schließlich die Polizei in Halle an, die sie an die Polizei in Merseburg verwies. »Als der Polizist mir sagte, dass es vor zwei, drei Stunden einen schweren Unfall gegeben habe, wusste ich gleich, dass mein Mann in den Unfall verwickelt war«, sagte sie, »ich wusste es sofort.«

Frau Bärfelde zog sich an, und als sie gerade aus dem Haus gehen wollte, klingelte es. Zwei Polizisten standen vor der Tür, um ihr mitzuteilen, was sie schon wusste.

Einen Tag später rief ein Beamter sie an und berichtete, dass man im Blut ihres Mannes ziemlich viel Alkohol gefunden hatte, immerhin fast zwei Promille. Auf jeden Fall genug, um die Kontrolle über ein Auto verlieren zu können. Außerdem hatte es in der Nacht geregnet – Waldo erinnerte sich daran, als Jasmin Bärfelde es erwähnte. Es war ein warmer Sommerregen gewesen, eigentlich nicht der Rede wert, jedenfalls hatte er kaum Abkühlung gebracht.

Als Jasmin Bärfelde geendet hatte, war es eine Weile still, dann fragte Waldo: »Und Sie glauben also nicht, dass es ein Unfall war?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil mein Mann nie Alkohol getrunken hat, wenn er Auto fahren musste.«

Das sagen viele, dachte Waldo. Auch er hatte es schon mehrfach behauptet, sich aber trotzdem immer mal wieder hinters Steuer gesetzt, nachdem er was getrunken hatte. »Kann es nicht sein, dass er manchmal eine Ausnahme machte? Oder wenigstens dieses eine Mal?«

»Nein.« Sie sagte es trotzig, aber auch mit Überzeugung.

»Vielleicht hat er an diesem Abend eine Ausnahme gemacht«, beharrte Waldo vorsichtig.

»Nein.« Jasmin Bärfelde blickte auf ihre Hände.

»Ich meine, zwei Promille hat man nicht, wenn man ein Bierchen trinkt. Zwei Promille«, sagte Waldo, »also, das ist schon was.«

»Es waren eins Komma acht Promille.«

»Okay. Aber die hat man auch nicht nach zwei Bierchen.«

»Mein Mann trank keinen Alkohol, wenn er fahren musste. Glauben Sie mir.«

»Warum sind Sie sich da so sicher?«

»Er hat seinen Bruder verloren, als er sechzehn war. Sein Bruder war drei Jahre älter. Er war betrunken Auto gefahren und hatte einen Unfall gebaut. Er, ein anderer Junge und zwei Mädchen, die im Auto saßen, sind verbrannt.«

Das war ein Argument. Waldo räusperte sich verlegen. »Okay«, sagte er gedehnt. Er überlegte einen Moment. »Und was meinen Sie, warum hatte Ihr Mann so viel Alkohol im Blut?«

Jasmin Bärfelde schwieg.

»Denken Sie, dass ihn jemand betrunken gemacht haben könnte?«

Jasmin Bärfelde atmete tief ein, sagte aber immer noch nichts.

»Wissen Sie«, erklärte Waldo, »normalerweise schnüffle ich hinter Ehemännern und Ehefrauen her. Oder ich versuche herauszufinden, warum in einem Getränkemarkt auf einmal auffällig viele leere Kästen verschwinden. So Sachen halt.« Er hatte das weniger gesagt, weil er den Fall ablehnen wollte, als vielmehr weil ihm die Stille unangenehm war. Jasmin Bärfelde hielt das immer noch nicht davon ab zu schweigen.

»Also«, begann Waldo erneut. »Wenn Sie wollen, dass ich mich ein bisschen umhöre, dann kostet das hundert Euro pro Tag. Plus Spesen.« Bis jetzt war er mit diesem Preis ganz gut gefahren. Er nahm an, dass er damit eher an der Untergrenze lag; als er sich selbstständig gemacht hatte, hatte er bei verschiedenen Agenturen in Halle angerufen, so getan, als hätte er einen Auftrag zu vergeben, und sich nach den Preisen erkundigt; er hatte keine rechte Vorstellung davon gehabt, was ein Privatdetektiv nehmen konnte. Außerdem nahm Kayankaya zu D-Mark-Zeiten zweihundert (und das war noch vor der Wende gewesen), also konnte er mit hundert nicht ganz falsch liegen.

Jasmin Bärfelde nickte langsam.

Waldo stellte noch ein paar allgemeine Fragen, von denen er glaubte, dass Jasmin Bärfelde erwartete, dass er als Detektiv sie stellte: Hatte Rolf-Dieter Bärfelde Feinde gehabt? Nein. Vielleicht unter den Kollegen? Nein. Auch nicht unter Verwandten oder Freunden? Nein.

Waldo verzog das Gesicht. »Haben Sie einen Tipp für mich, wo ich mit meiner Suche beginnen könnte?«, fragte er.

Jasmin Bärfelde sah sehr unglücklich aus. »Mein Mann hat wenig von der Arbeit erzählt«, antwortete sie schließlich. »Aber ich merkte, dass er in den vergangenen Wochen immer unzufriedener wurde. Er war immer reizbarer. Aber auch immer stiller.«

»Wegen der Arbeit?«

»Ich weiß es nicht. Ich nehme es an.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß es nicht«, wiederholte sie dann. »Ich möchte niemanden beschuldigen.«

»Immerhin engagieren Sie einen Privatermittler.«

Jasmin Bärfelde blickte ihn kurz an und schaute anschließend wieder auf ihre Knie. »Ich glaube, dass in der Firma nicht alles mit rechten Dingen zugeht«, sagte sie endlich.

Nachdem Jasmin Bärfelde gegangen war, saß Waldo noch eine knappe halbe Stunde in seinem Büro, kritzelte geometrische Figuren auf seinen Block und plünderte die Gummibärchentüte. Als sie fast leer war, schüttete er den Rest auf dem Schreibtisch aus und vergewisserte sich, dass kein Bärchen in der Tüte hängen geblieben war. Dann ordnete er die Bärchen nach Farben. Er hatte Glück: Zwar waren ein weißer, ein roter, ein orangefarbener und ein grünlicher Bär übrig geblieben, aber immerhin war es eine gerade Zahl. Er aß zunächst den roten und den orangefarbenen, dann den weißen und den grünlichen.

Danach nahm er das Telefonbuch, suchte die Nummer der Schweinemastanlage und notierte sie auf dem Block. Mit einem neuen Auftrag in der Tasche und dem Hitzestau unter seinem Hemd beschloss Waldo, dass er für diesen Tag lang genug in seinem Büro gekocht hatte. Einen Plan für den nächsten Tag konnte er auch zu Hause auf seinem Balkon erstellen.

Er lief zu seinem Auto und startete den Motor. Wenig später rollte er langsam die Straße entlang, in der er wohnte – aber der einzige freie Platz war der vor der Einfahrt des Hauses gegenüber, einem großen Holztor, das in den Hinterhof führte. Waldo wendete in der nächsten Seitenstraße und fuhr zu der Lücke zurück. Rechts neben dem Tor hing ein mickriges, offensichtlich selbst gebasteltes Schild mit der Aufschrift Ausfahrt freihalten, links ein ebenso mickriges Schild mit der Aufschrift Wiederechtlich geparkte Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt. ›Wiederechtlich.‹ Waldo beugte sich vor und lugte nach oben. Normalerweise lag in mindestens einem der Fenster irgendjemand und glotzte auf die Straße. Heute war niemand zu sehen. Waldo beschloss, es mal wieder zu riskieren, und parkte sein Auto in der Lücke vor dem Tor.

So ganz sicher war sich Waldo immer noch nicht, was die Verwandtschaftsverhältnisse in diesem Haus anging. Auf den Klingelschildern standen die Namen S. Tischendorf und H. Tischendorf. S. Tischendorf war der junge – Sven hieß er, jedenfalls hatte ihn der Alte mal so gerufen, allerdings hatte es eher wie »Zwenn« geklungen. Klar war, dass der alte Tischendorf – Horst? Herbert? Heinz? – im zweiten Stock wohnte und was zu sagen hatte, wahrscheinlich gehörte ihm das Haus sogar. Klar war auch, dass er für sich beziehungsweise seinen »Zwenn«, der etwa so alt war wie Waldo und mit seiner Zumsel eine Etage unter dem Alten hauste, mit seinen lächerlichen Schildchen einen sicheren Parkplatz reservieren wollte. Denn das war nicht zu bestreiten: Das verdammte Tor war alles, bloß keine Ausfahrt. Nicht einmal ein Trabi hätte sich da durchzwängen können, geschweige denn der Golf von dem Jungen, und der Alte besaß sogar einen Golf Kombi. Vor seinem geistigen Auge sah Waldo die beiden, wie sie in eine imaginäre Kamera stierten und im Duett sagten: Wir mögen den Golf. Weil wir wissen, wie man widerrechtlich schreibt.

Waldo hatte sich schon oft gefragt, woher der Alte das Geld für so eine Karre genommen hatte. Offenbar bestand seine einzige Tätigkeit darin, am Fenster zu hängen und aufzupassen, dass sich niemand vor seine angebliche Ausfahrt stellte. Aber wahrscheinlich fragte sich der Alte Ähnliches in Bezug auf Waldo.

Er verriegelte das Auto, überquerte die Straße und schloss die Haustür auf. In seinem Briefkasten fand er nichts weiter als sechs Werbebroschüren und Reklamezettel. Er ging durch den Flur in den Hinterhof, wo er das Zeug unbesehen in die Altpapiertonne warf. Auf dem Weg in den dritten Stock nahm er sich mal wieder vor, einen Keine-Werbung-einwerfen-Zettel an seinen Briefkasten zu kleben. Er nahm sich das vor, seit er hier eingezogen war. Das war jetzt vier Monate her.

Oben angekommen, streifte er sich die Schuhe ab. An seinen Strümpfen prangten Schweißflecken. Er zog sie aus, ging ins brüllend heiße Wohnzimmer und blickte auf das Haus gegenüber. Immer noch war niemand zu sehen. Waldo räumte zwei Blumentöpfe beiseite und riss das Fenster auf.

Nachdem er auch im Schlafzimmer, das ebenfalls auf der Südseite lag, das Fenster geöffnet hatte, lief er in die Küche. In der hinteren linken Ecke stand sein blecherner Mülleimer mit weit geöffnetem Deckel. Waldo musste unwillkürlich lächeln.

»Hallo, Schatz«, rief er in Richtung Eimer und ging ein paar Schritte weiter auf ihn zu. »Wie war dein Tag?«

Nachdem er sich dem Eimer auf zwei Meter genähert hatte, klappte der Deckel nach unten.

»Das freut mich«, sagte Waldo. »Ich habe einen neuen Auftrag.«

Keine Frage, dieser Mülleimer erfüllte so gar nicht seinen Zweck, aber Waldo hatte ihn – soweit man das von einem Mülleimer sagen kann – ins Herz geschlossen. Seine Oma hatte ihm das Teil geschenkt. Vorletztes Weihnachten, ein Mitbringsel aus Japan. Seine Oma brachte ihm gern solche Geschenke mit. Sie hatte vor drei Wochen ihren achtundsiebzigsten Geburtstag gefeiert, war immer noch topfit und reiste die Hälfte des Jahres mit einer, zwei, drei oder auch vier Freundinnen, die wie sie Witwen waren, kreuz und quer durch die Welt. Sie hatte Waldo unter anderem eine zwei Nummern zu große, violettfarbene Gatsby-Mütze aus Irland mitgebracht und eine ockerfarbene Galabiya aus Ägypten, ein Regenmesser aus Dänemark (das Teil steckte jetzt in dem Blumenkasten, der auf Waldos Balkon stand) und einen faltbaren Transportwagen, der zwar laut Aufdruck in Rheinland-Pfalz hergestellt worden war, den seine Oma aber in den USA aufgegabelt hatte, ein aus zwölf Holzpfeifen bestehendes Vogelstimmen-Set aus Frankreich und, ebenfalls aus Frankreich, ein Entenjagd-Spiel, bei dem man mit einem Holzgewehr und Gummipfeilen auf drei Enten – allesamt Erpel aus Karton, aber detailgetreu bemalt – schießen musste, die auf einem Gestell steckten, sich im Kreis drehten und bei einem Treffer hinunterfielen. Der Mülleimer aber war Waldos liebstes Stück – umso mehr, als er es mit großer Verständnislosigkeit entgegengenommen hatte. Der Clou an dem Eimer war, dass sich der Deckel automatisch hob, wenn man sich ihm bis auf eine bestimmte Entfernung genähert hatte und etwas hineinwerfen wollte. Oder besser: Der Hersteller behauptete, dass der Deckel sich öffnete, wenn man sich dem Eimer näherte; irgendein Sensor sollte dafür sorgen. Der Deckel öffnete sich auch – aber das hing nicht davon ab, ob man sich ihm näherte. Waldo hatte bisher nicht herausfinden können, nach welchen Kriterien sich der Deckel hob und senkte. Manchmal blieb er tagelang offen stehen, manchmal klappte er in schneller Folge vier-, fünfmal auf und zu. Anfangs hatte Waldo das irritiert und Annette natürlich auch. In den ersten Nächten, als der Eimer in der Küche ihrer gemeinsamen Wohnung gestanden hatte, waren Annette und er einige Male nachts aufgewacht, weil ein Klappern aus der Küche drang. Waldo hatte schließlich ängstlich in den Raum gelugt – da stand der Eimer, das Weihnachtsgeschenk seiner Oma, in der Ecke und klappte seinen Deckel auf und zu. Mit der Zeit war Annette und ihm das unregelmäßige Klappern vertraut und vertrauter geworden. Irgendwann hatten sie den Eimer als Familienmitglied betrachtet, das offenbar über einen eigenen Willen verfügte. Sie nannten ihn Oskar, nach dem Monster aus der Sesamstraße.

»Geh mal gucken, vielleicht hat Oskar schlecht geträumt«, hatte Annette zum Beispiel gesagt, wenn es in der Küche klapperte.

»Vielleicht kriegt Oskar einen Zahn«, sagte Waldo.

»Ich glaube, Oskar hat Hunger, wirf etwas hinein«, sagte Annette.

»Vielleicht sollte ich meine Oma bitten, nach Japan zu fahren und noch so ein Ding zu kaufen, Oskar braucht wahrscheinlich einfach jemanden zum Reden«, sagte Waldo.

Waldo öffnete die Balkontür. Dann nahm er das Mineralwasser und den Apfelsaft aus dem Kühlschrank, holte ein Halbliterglas aus dem Schrank über der Spüle, öffnete das Tiefkühlfach, nahm den Eiswürfelformer, ließ sechs Eiswürfel ins Glas klackern und schüttete je zur Hälfte Wasser und Saft hinein. Er nahm ein paar große Schlucke im Stehen, setzte sich an den Tisch, wo schon Papier und Kugelschreiber bereitlagen, und stellte das Glas neben sich.

Er würde, überlegte und notierte er sich, morgen Vormittag erst einen Termin mit dem Chef der Schweinemastanlage vereinbaren, dann nach Merseburg fahren und sich an der Unfallstelle umgucken. Waldo konnte sich gut vorstellen, dass nicht alle, die um so einen Schweinebetrieb wohnten, restlos begeistert waren von dem Unternehmen. Aber würde man deshalb einen Tierpfleger umbringen? Nee, einen Tierwirt – wenn er sich recht erinnerte, hatte Jasmin Bärfelde von Tierwirt gesprochen. Waldo nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas, an dessen Rand sich inzwischen Tropfen gebildet hatten. Berufe gibt’s, dachte er. Tierwirt in einer Schweinemastanlage. Ob es Kinder gab, die auf die Frage, was sie mal werden wollten, wenn sie groß wären: »Tierwirt in einer Schweinemastanlage« antworteten? Werden Schweine nicht mit Medikamenten vollgepumpt? Waldo erinnerte sich an einen Schimanski-Tatort, der auf dem Land spielte und in dem irgendjemand von irgendjemand anderem umgebracht worden war, weil er irgendwie mit Medikamenten gehandelt oder rumgepfuscht hatte. Waldo musste jemanden finden, der ihm etwas über die Anlage erzählen konnte, und ihm war klar, dass der Geschäftsführer nicht unbedingt ein objektiver Gesprächspartner sein würde.

Er trank das Glas aus und starrte aus dem Fenster. Seine Gedanken schweiften ab und landeten, wie üblich, bei Annette. Auch nach vier Monaten kam es ihm immer noch irreal vor, in dieser neuen Wohnung zu hocken; seit vier Monaten hatte er nichts von Annette gehört. Sie hatten für die erste Zeit nach ihrer Trennung ein Stillhalteabkommen vereinbart. Es sei wohl besser, wenn sie zunächst mal etwas Abstand gewinnen würden, hatte Annette gesagt, nachdem ihre letzten beiden Begegnungen, kurz nach dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, jedes Mal im Streit geendet hatten. Abstand gewinnen. Waldo hatte mit einem verächtlichen Lachen auf diesen Vorschlag reagiert.

Vor zwei Wochen hatte er es dann nicht mehr ausgehalten. Er hatte sie in der Redaktion angerufen und gefragt, ob sie genügend Abstand gewonnen habe für ein Treffen. Sie hatte gezögert, dann aber eingewilligt. Sie hatte fast fröhlich geklungen, erinnerte er sich. War das ein gutes Zeichen? Oder ein schlechtes? Am nächsten Sonntag würde er es erfahren.

Er merkte, dass sein Herz beim Gedanken an Annette schneller schlug.

Oskar öffnete seinen Deckel.

Waldo drehte sich um. »Nicht wahr, sie fehlt dir auch, was?«

Er stand auf und trat auf den Balkon hinaus. Er blickte in den frisch gepflasterten, pflanzenfreien Hinterhof. Rechts von ihm erhob sich die lang gestreckte, fensterlose Wand des Nachbarhauses; in etwa fünfzig Metern Entfernung befanden sich die Rückseiten der Häuser der Parallelstraße. Hier, im Schatten, war die Luft einigermaßen erträglich. Waldo lauschte, aber es war ganz still; niemand schien sich unnötig bewegen zu wollen, offenbar war es selbst den Vögeln zu heiß zum Zwitschern.

Allein einem Pärchen irgendwo in der Nachbarschaft schien die Hitze nichts auszumachen. Seit vier Abenden hörte Waldo regelmäßig eindeutige Geräusche, meist über einen erstaunlich langen Zeitraum. Bis jetzt hatte er den Ursprungsort nicht genau orten können; dass die Klänge aus dem Haus kamen, in dem er wohnte, schloss er mittlerweile allerdings aus. Waldo konnte nicht verhehlen, dass ihn die Geräusche schwer erregten.

Oskar verhielt sich still, als Waldo in die Küche zurückkehrte.

Mittwoch

Waldo saß frustriert in seiner Küche und kaute •auf dem letzten Bissen seines Käsebrots herum. Halb zwölf, zeigte seine Armbanduhr. Er fluchte. Schöner Mist, der komplette Vormittag war verplempert. Sein Radiowecker war brav um halb neun angesprungen, Waldo hatte zweimal die Schlummertaste gedrückt, um zehn vor neun den Wecker ausgeschaltet, zur Fernbedienung seines Fernsehers gegriffen und sich gesagt, dass er um Punkt neun aus dem Bett springen und losrennen würde. Es kam, wie es kommen musste – er duselte ein, und als er wieder aufwachte, lief ein uralter deutscher Spielfilm mit halb kaputten Bildern, krächzenden Stimmen und einem Hintergrundknacken wie auf seiner alten Tom-Sawyer-und-Huckleberry-Finn-Schallplatte. Und Waldos Radiowecker zeigte 11:07.

Er schob den Teller beiseite und zog das Telefon heran. Mangels brillanterer Ideen entschied er sich für den Frontalangriff. Es klingelte viermal, dann meldete sich eine weibliche Stimme. Waldo stellte sich als freier Journalist vor, der für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften arbeite (sich als Redakteur der ansässigen Lokalzeitung auszugeben, ließ er sein; diese ohnehin mangelhafte Tarnung konnte mit einem einzigen Anruf bei der Zeitung auffliegen). Er behauptete, einen Bericht über moderne Zuchtbetriebe schreiben zu wollen, und da sei ihm die Schweinemastanlage als besonders vorbildlich empfohlen worden.

»Von wem denn?«, wollte die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung wissen.

»Von einem befreundeten Journalisten aus Halle.« Frag bloß nicht nach dem Namen.

»Aha.« Die Frau am anderen Ende der Leitung schien zu überlegen. »Und wie heißt der?«

Ächz. »Na, nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich Ihnen das nicht verrate.«

»Hm. Moment bitte.«

Waldo hörte eine kindische Melodie, dann eine andere Stimme. »Schwendowsky.« Das klang wichtig.

Waldo sagte seinen Spruch auf.

»Und da wollen Sie uns besuchen?«

»Ja.«

»Tja, im Prinzip haben wir da nichts dagegen.«

»Aber?«

»Nö, nichts aber. Müssen wir bloß einen Termin ausmachen.«

Waldo fragte, ob es gleich heute möglich sei, er sei gerade aus Berlin gekommen und habe noch einen anderen Termin, aber vielleicht am Nachmittag?

Sie einigten sich darauf, dass Waldo am nächsten Tag gegen fünfzehn Uhr vorbeikommen würde.

Nach dem Telefonat ging Waldo ins Wohnzimmer, blickte auf das Haus gegenüber und stöhnte leise auf. Der alte Tischendorf lag immer noch auf dem Fensterbrett und glotzte auf die Straße. Im weißen Feinripp. Er hatte da schon gelegen, als Waldo sich aus dem Bett gewälzt hatte. Waldo verspürte nicht die geringste Lust, aus dem Haus zu gehen. Gerade schien Tischendorf Waldos Auto zu fixieren, als wollte er es auf diese Weise zum Explodieren bringen.

Immerhin, der Opa hatte Nerven. Guckte nicht ein einziges Mal zu Waldo herauf. Hätte er es getan, hätte Waldo das Fenster aufgerissen und »Schickes Hemd!« rübergebrüllt.

Waldo war wütend auf sich selbst. Nicht zu fassen, er ließ sich seine Tagesplanung von einem Typen vermasseln, der, mit einem weißen Feinripp-Unterhemd bekleidet, im Fenster hing und auf die Straße glotzte. Das war zu viel! Jetzt würde er gehen. Egal, ob ihn der Alte anplärren würde.

Waldo nahm seine Schuhe, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und zog sich den ersten Schuh an. Als er damit fertig war, lugte er erneut aus dem Fenster. Der Alte lag noch da.