image
Image

Impressum:

© 2018 Herbert Urlaub

Design Umschlaghintergrund: Marc Urlaub

Lektorat und Umschlaggestaltung:

Angelika Fleckenstein; spotsrock.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:978-3-7469-1739-9 (Paperback)

978-3-7469-1740-5 (Hardcover)

978-3-7469-1741-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Herbert Urlaub

Eine griechische Reise

Roman

Danksagung

Ein besonderer Dank für die Entstehung dieses Buches gebührt meiner lieben Frau Elke Annemarie, die mit Geduld, Ermutigung und Zustimmung alle meine, wie sie sagt, auch manchmal merkwürdigen, Projekte unterstützt.

Dankbar bin ich auch meiner Lektorin Angelika Fleckenstein für ihre sehr kompetente und freundliche Unterstützung bei der Realisierung dieses Buchprojektes.

Wir erwarteten Gäste, und in dem Moment, als ich ihnen die Wohnungstür öffnete, um sie einzulassen, ahnte ich nicht, welche Geschichte der gemeinsame Abend in mir wachrufen würde.

Meine Frau hatte alle Hände voll zu tun mit der Vorbereitung des Abendessens, zu dem wir unsere neuen Freunde, Gerda und Jochen, eingeladen hatten. Eine sehr nette Bekanntschaft, die wir ein paar Monate zuvor in einem Möbelhaus gemacht hatten. Sie waren uns beim komplizierten Verladen eines Regals behilflich, und so kamen wir ins Gespräch.

Es folgten gelegentliche Treffen, verabredet oder unverhofft, manchmal auf einen kleinen Happen in einem Gasthaus ganz in der Nähe oder auf einen Cocktail in einer Bar. Wir lernten den Internisten und seine Sprechstundenhilfe ziemlich schnell gut kennen. So war die Bekanntschaft zusehends gereift, und meine Frau meinte, es sei Zeit für eine erste Einladung zu Hause.

Das Kochen für Freunde war uns stets eine Freude, und meist zauberten wir etwas Italienisches auf den Tisch. Heute jedoch stand griechische Küche auf dem Programm. Die Düfte aus der Küche waren unbeschreiblich verlockend.

Ich bat Gerda und Jochen herein, nahm ihnen die Mäntel ab und führte sie ins Wohnzimmer. Der Einladung zum Aperitif stimmten beide zu, und ich so holte ich die Flasche Cremant aus dem Kühlschrank, öffnete sich mit sanftem Plopp und füllte vier Gläser.

„Schatz, kommst du gerade mit uns anstoßen?“, rief ich in die Küche, und nur wenige Augenblicke später gesellte sich meine Gattin zu uns. Das Klirren der Gläser klang fröhlich, als wir einander zuprosteten, und die Freude auf den gemeinsamen Abend stieg wie die Stimmung Das Essen war köstlich, wie stets. Meine Frau zauberte eine Vorspeise mit gebratenen gelben und roten Spitzpaprika, mit gutem Essig beträufelt, weiße große Bohnen in Tomatensauce mit einem Hauch Minze, Auberginen-Mus, Tarama, selbst süßsauer eingelegte Peperoni aus unserem Terrassengarten und gekochte Octopusstücke mit Zitrone beträufelt … Dazu schenkte ich einen einfachen, aber kräftigen Assyrtiko von Constantin Lazaridi aus Adriani ein, und zum Lamm dann einen köstlichen Refosco von Mercouri auf dem Peloponnes. Eben alles köstlich Griechisch.

Nichts ist besser geeignet, einander persönlicher kennenzulernen, als ein gemütliches Essen. Jochen und Gerda vertrauten uns die Geschichte ihres Kennenlernens an. Ein wahrlich lustiges Vergnügen, den beiden zuzuhören.

Mitten in unsere amüsante Unterhaltung platzten unsere Kinder ins Wohnzimmer. Neugierig geworden hatten sie ihr Spiel unterbrochen und schauten nun erwartungsvoll von einem zum anderen.

„Darf ich vorstellen: unsere Tochter Eleni und unser Sohn Giorgos. Eleni ist 11 und Giorgos 9 Jahre alt“, sagte ich und präsentierte die beiden stolz.

Die Kinder umringten meine Frau, schmiegten sich etwas verlegen an ihre Seiten und blickten lächelnd in die Runde.

Gerda, die immer recht unverblümt offen war, meinte: „Eigentlich müsste ich jetzt so was sagen wie ‚sie sind dem Vater oder der Mutter aus dem Gesicht geschnitten‘ …“ sie wirkte verlegen … „aber … ganz ehrlich? Die beiden ähneln keinem von Ihnen beiden? Eine Willkür der Natur? Ähneln sie vielleicht den Großeltern?“

Meine Frau lachte und erklärte: „Kein Wunder, Gerda. Die beiden sind nicht unsere leiblichen Kinder. Sie ähneln natürlich ihren Eltern. Leider sind beide bei einem Unfall tödlich verunglückt. Gerd und ich sahen es sofort als unsere Pflicht an, die beiden zu adoptieren. Wir konnten keine eigenen Kinder haben …“

Gerda genügte die Erklärung. „Bewundernswert“, sagte sie anerkennend und lächelte warmherzig.

Bald war es Zeit, dass die Kinder zu Bett gingen. Als meine Frau sich wieder zu uns gesellte, sprachen wir gerade wieder über das kuriose Kennenlernen von Gerda und Jochen.

„Wie war es denn bei Ihnen?“, wollte Jochen wissen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute uns erwartungsvoll an.

Im gleichen Moment ertönte ein Klingeln aus der Diele. Wir wandten unsere Blicke zur Wohnzimmertür, und dann reagierte Jochen. Er stand auf, entschuldigte sich kurz und ging mit langen Schritten zu seinem Mantel. Kaum eine Minute später kehrte er zurück. Bedauern im Blick.

„Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich habe Bereitschaft und muss sofort in die Klinik. Einer meiner Patienten wurde eingeliefert“, erklärte er, zog hilflos entschuldigend die Schultern hoch und blickte seine Frau bittend an.

Wir mussten sie also noch vor dem Dessert verabschieden, versprachen uns jedoch, das nächste Treffen baldmöglichst zu vereinbaren.

Als wir gut zwei Stunden später auch zu Bett gegangen waren, schlief meine Frau rasch ein, während ich plötzlich hellwach war. Sie lag, wie immer, in meine Arme geschmiegt ruhig atmend da, ihre Hand vertrauensvoll in der meinen … und meine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit zu einer Geschichte, wie es sie gewiss nicht oft gibt. Sie bewegte mich emotional immer noch so sehr, dass ich nicht einzuschlafen vermochte … –

*

Ich erinnerte mich, dass mein Vater an Leukämie erkrankte und wiederholt länger in ein Koma gefallen war, das dann manchmal eine Woche, manchmal auch nur zwei bis drei Tage dauerte. In einem der wenigen wachen Augenblicke hatte er mir viele Begebenheiten aus seiner Vergangenheit, die ihm wichtig schienen, erzählt. Da gab es dann für mich auch beunruhigende Dinge, die er vorbrachte. Insgesamt waren seine Erzählungen ein wenig verwirrend, und ich hatte den Eindruck, dass er entweder Erinnerungslücken an seine Abenteuer in der Vergangenheit hatte, oder dass er nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückte. Immer wieder schweifte er ab und berichtete Belangloses, wie etwa seine erste Probefahrt mit einem BMW. Es war aber ja auch gut möglich, dass der Eindruck, den ich gewinnen konnte, seiner Krankheit und seinem komatösen Zustand geschuldet war. Er befand sich leider insgesamt in einem bedauernswerten Zustand. Ich habe mich oft gefragt, inwieweit er sich bewusst war, wie ernst es um ihn stand. Ihn direkt zu fragen, hatte ich mich nicht getraut.

Vater sprach auch immer wieder von dem Verlust zweier Söhne durch Unfall und schwere Krankheit und wie schwer es gewesen war, jedes Mal den Schmerz zu verarbeiten. Auch von seinen Brüdern, die er verloren hatte, erzählte er. Ich empfand diese Unterhaltungen stets ein wenig morbid. Aber er sagte auch so kryptische Dinge wie: Es gäbe Hoffnung und, dass nicht alles verloren sei. Was sollte ich mit solchen Bemerkungen anfangen? Eines aber sollte ich wohl seinen Berichten entnehmen: Ich hatte vielleicht eine oder gar zwei Halbschwestern.

In diesem Zusammenhang ließ er den Namen ‚Ingeborg‘ fallen. Ein schöner Name, ein deutscher Name. Unabhängig von der Möglichkeit, von einem bis dahin nicht bekannten Familienzuwachs zu hören, hatte ich versäumt, die Fragen zu stellen, die ich ihm als Zeitzeugen der größten Umwälzungen und Ungeheuerlichkeiten der jüngsten Geschichte hätte stellen sollen; ebenso wie dies auch bei meinem Großvater versäumte, als er noch lebte. Jetzt, im Alter, war ich stolz auf meinen Großvater, hätte aber doch so gerne mehr direkt aus seinem Munde über seine bewegte Vergangenheit erfahren.

Vater war verstorben, und ich brauchte ein paar Wochen, um, wie man so schön sagt, Trauerarbeit zu leisten. In den ersten Tagen war mir sein Fehlen in meinem Leben nicht unmittelbar bewusst gewesen, und ich hatte mich bei meiner Tagesplanung öfter dabei ertappt, mir einen Besuch bei meinem Vater in der Klinik vorzunehmen. Ähnlich war es mir nach dem Tod meiner Mutter ergangen, die ich mit einem Bruder abwechselnd über fast drei Jahre in Kliniken besucht hatte. Ich hatte Jahre gebraucht, um richtig um sie trauern zu können.

In vielen Stunden hatte ich darüber meditiert, wie es denn überhaupt geschehen konnte, dass einem der Verlust einer geliebten Person scheinbar nicht nahegeht. Ich empfand einfach keinen Verlust, das heißt, ich weigerte mich, mental den unausweichlichen Tatsachen des vollständigen Verlustes ins Auge zu sehen. Meine Schlussfolgerungen waren immer die gleichen bezüglich der Dinge, die in einem vorgingen oder vorgehen sollten, wenn man einen nahestehenden, geliebten Menschen verliert. Zunächst einmal wäre da der Schmerz über den Verlust an sich einerseits und eine Art von Selbstmitleid, weil man das Gefühl hat, dass einem etwas weggenommen wurde. Dem kann man sich stellen oder verweigern. Der Verlust wird erst richtig deutlich, wenn man an die Person, die man geliebt hat und die nicht mehr physisch bei einem sein kann, nicht mehr oder nur noch wenig denkt. Erst dann, wenn ein Mensch aus der Erinnerung verschwindet, ist diese Person richtig tot, so glaube ich. Wird einem dann irgendwann plötzlich bewusst, dass man seit geraumer Zeit dabei war, einen Menschen, mit dem man eng verbunden war, in die Vergessenheit zu schicken, kommt entweder ein Gefühl der Reue oder der Gleichgültigkeit auf. Das Schlimmste aber, womit ich nicht umzugehen wusste, war die Betroffenheit derer, die nicht, wie ich, unmittelbar betroffen waren, wenn ich einen Verlust hatte oder erkrankt war.

Eines Morgens, als ich im Bad nach dem Aufstehen vor dem Spiegel stand, fiel mir auf, dass ich alt wurde. Auch mein Kurzhaarschnitt sah plötzlich nicht mehr schick oder modern aus, sondern war eine wenig elegante Art zu kaschieren, dass auch an einigen Stellen die Haare nicht mehr so dicht standen, dünner wurden und wohl auch ausfielen. Ich hatte eigentlich immer gehofft, auf meinen Großvater zu kommen, der noch mit 95 Jahren üppigen Haarwuchs und alle eigenen Zähne hatte. Was für ein Unterschied zu mir, meinen Brüdern und Vater. Auch mein Morgenkaffee, eine wichtige Sache nach dem Aufstehen, konnte mich nach diesen Einsichten nicht mehr aufheitern.

Ich versuchte, einige Gedanken und Erinnerungen zu ordnen. Natürlich war mir bewusst, dass man Ereignisse rückwirkend nicht ändern konnte, aber es war doch gerechtfertigt, manches Mal darüber nachzudenken, was hätte anders verlaufen können, wenn man sich in Situationen, die man sich in Erinnerung rief, anders verhalten hätte.

Möglich, dass ich mit meinen philosophischen Exkursen abschweifte, aber ein Leben war doch auch ein wenig mit einem großen Bahnhof zu vergleichen, mit vielen Weichen, die Züge vorherbestimmte Richtungen einschlagen lasse. War das in der Tat so, und könnte es sein, dass die Richtung, die ein Leben nimmt, vorbestimmt war? Daran glaubte ich eher nicht.

Vielmehr hatte man an einer Stelle des Lebens eine Richtung eingeschlagen, und hätte aber doch auch eine andere Richtung wählen können. Im Gegensatz zu Max Frisch in seinem Buch „Mein Name sei Gantenbein“, in dem Vorstellungswelt, Biografien und Identitäten sich verändern, mag ich mir nicht vorstellen, was wann und wie anders sein könnte. Zurückschauen möchte ich – und dann und wann die Frage stellen, warum ich etwas getan hatte, oder auch nicht. Lag es am Alter und an all den Erfahrungen, die ich im Laufe des Lebens gesammelt hatte, dass ich mir jetzt rückblickend nochmals all die Fragen stellte, die ich früher nicht zu stellen gewagt hatte?

Nach Vaters Tod, hatte ich geglaubt, es würde reiner Tisch gemacht, Licht ins Dunkel gebracht – jedenfalls hatte ich mir das vorgenommen. Doch als ich den Entschluss fasste, meine Nachforschungen zu beginnen, konnte ich nicht im Geringsten ahnen, dass ich irgendwann später einen Teil meiner Prinzipien, die bis dahin mein Leben bestimmt hatten, über Bord werfen würde.

Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, welche Auswirkungen meine Nachforschungen auf das Leben der Personen haben könnten, die ich treffen und befragen wollte. Das wurde mir erst viel später klar, als ich schließlich tiefer in die Lebensgeschichte meines Vaters und der mit ihm schicksalhaft verbundenen Personen eingedrungen war. Auch hatte ich mich nie gefragt, warum diese Menschen, die einen solchen Einfluss auf Vater gehabt und sein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt hatten, sich nie meldeten. Hatten sie kein Verlangen nach Aufklärung und Gewissheit über ihr Schicksal, verbunden mit dem meines Vaters, zu erlangen? Eigentlich fragte man sich doch immer wieder mal, warum sich eine bestimmte Person lange Zeit nicht gemeldet hat, wenn man plötzlich den dringenden Wunsch verspürt, diese zu sehen und zu besuchen.

Nun, die Freunde meines Vaters aus längst vergangenen Zeiten hielten bis zu ihrem eigenen Tod noch den Kontakt zu ihm aufrecht. Auch sein griechischer Freund war ihm zeitlebens verbunden geblieben.

Da war nun also diese Geschichte mit vielleicht einer Frau oder einem Mädchen Namens Ingeborg. Meine Brüder und ich hatten sie flüchtig bei einer Familienfeier kennen gelernt. Sie saß zwischen uns Brüdern, und erst bei der Betrachtung der Bilder, die wir an jenem Abend aufgenommen hatten, fiel uns die verblüffende Ähnlichkeit dieser Frau mir uns Brüdern auf. Ich gestehe, dass ich in Bezug auf sie keinerlei Gefühle verspürte. Diese Frau, Ingeborg, war mir schlichtweg gleichgültig.

*

Bis nach Berlin war ich gekommen, um meine ganz private Familienforschung voranzubringen. Der Besuch hatte allerdings nicht viel gebracht, und an Vaters letzter Geliebten in der ehemaligen Hauptstadt der DDR bin ich gescheitert. Sie redete mich stets mit dem Namen meines Vaters an und zeigte mir ein Bild, auf dem sie mit meinem Vater zu sehen war. Sie halb liegend in oder jedenfalls noch halbsitzend in einem riesigen Sessel und er, mein schmucker Vater in Sportkleidung, auf der Sofalehne und mit verschleiertem Blick in die wahrscheinlich durch Selbstauslöser betätigte Linse lächelnd. War dies eine Aufnahme, die nach oder vor der Zeugung einer meiner anderen Schwester gemacht wurde?

Jedenfalls fragte sie mich, wobei sie mich immer noch mit dem Namen meines Vaters anredete, wo denn die Aufnahme gemacht worden sei. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu antworten, dass sie es ja besser wissen müsste als ich. Ich glaubte aus ihrer Erwiderung eine leichte Verärgerung heraushören zu können: „Warum sagst du so etwas? Hatten wir denn nicht eine gute und aufregende Zeit miteinander?“ Immerhin zeigte sie mir etwas später das Bild ihrer Tochter, das mir keine neue Erkenntnis brachte, da ich ein viel schöneres von ihr hatte. Also hatte ich hier in Berlin bei der Frau, die möglicherweise die Geliebte meines Vaters war, keine sicheren Beweise für die Existenz einer Halbschwester gefunden.

Sollte ich einfach aufgeben? Wo soll ich denn weitersuchen?

Ich erinnerte mich an den Namen eines Freundes meines Vaters, den er oft erwähnt hatte. Sie waren wohl zusammen oft von den gleichen Fliegerhorsten gestartet. Er war nach dem Krieg in sein Heimatdorf nach Bayern zurückgekehrt und hatte den elterlichen Hof und das dazugehörende Hotel übernommen. Als ich den Ort im Telefonverzeichnis ausfindig gemacht hatte, musste ich mit Erschrecken feststellen, dass wohl die Hälfte der Einwohner des Dorfes den gleichen Vor- und Nachnamen hatte, wenn auch in abweichender Schreibweise.

Ich rief also der Reihe nach bei den gleichklingenden oder abgekürzten Namen an. Schließlich, ich glaube, nach dem sechsten oder siebten Versuch, bekam ich einen relativ jungen Mann – der Stimme nach zu urteilen – an den Apparat, der mir, nachdem er den Grund meines Anrufes erfahren hatte, mitteilte, dass sich hinter dem Namen wohl sein Vater verberge, der ihm den gleichen Namen vererbt hatte. Er warnte mich, dass das Erinnerungsvermögen seines Vaters wohl über die Jahre gelitten hatte und ich beim Befragen viel Geduld aufbringen müsste. Endlich hatte ich den Herrn am Telefon, und unsere Unterhaltung war ein wenig schleppend, nicht weil der ältere Herr Erinnerungslücken hatte, sondern weil ich immer wieder nachfragen musste, da ich seinen schweren bayrischen Dialekt kaum verstand.

Und er erwähnte wieder den Namen der Frau, die mein Vater damals mit uns in Athen besucht hatte. Er gab mir den Hinweis, dass mein Vater mit eben dieser Frau eine wohl leidenschaftliche Liebesbeziehung in Athen gehabt hatte. Ich erinnerte mich daran, wie er sie damals besucht hatte.

Wir waren während unserer Schulferien in den Urlaub, nach Griechenland gefahren. Man bedenke 1961 mit dem Auto von Dortmund nach Athen! Eine Strecke von mehr als 2.600 Kilometern, und damals waren es sogar fast 3.000. Theoretisch konnte man die Strecke in 35 Stunden zurücklegen, wie wir später mit zwei BMW Limousinen nachgewiesen hatten, die im Abstand von zwei Tagen mit jeweils zwei Fahrern, die sich ablösten, die Strecke abfuhren. Damit wurde übrigens ein Rekord zweier Journalisten eingestellt, die von Köln gestartet waren.

Für uns bedeutete das damals eine strapaziöse Fahrt von fast einer Woche. Aber wir hatten viel unterwegs gesehen, was heute unwiederbringlich verschwunden ist. Südlich Belgrads war Schluss mit der Autobahn oder Autoput, wie sie damals genannt wurde. Es ging auf zweispurigen Landstraßen Hunderte Kilometer geradeaus nach Süden. Dörfer oder Städte konnte man kilometerweit riechen – entweder weil sie Braunkohle verbrannten oder weil die ganze Gegend intensiv nach Kappus/Kohl roch. Weiter südlich Pristina mussten wir sogar mit dem Borgward meines Vaters, ein tolles Auto seinerzeit, durch Bachläufe fahren, da die Straße verschwunden oder fortgewaschen worden war. 1961 lag das Kriegsende gerade einmal 16 Jahre zurück. Das waren einige Jahre zu wenig, um vergessen zu können, und das sind zugleich zu viele Jahre, in denen man Erinnerungen nachgehangen hat. Zu viele Jahre auch des ungestillten Verlangens nach einer einst geliebten Person. Im Nachhinein gesehen musste ich annehmen, dass es das, was meinen Vater getrieben hatte, uns diesen, in jeglicher Hinsicht erlebnisreichen Urlaub, ermöglicht hatte.

Spontan fiel mir eine kleine Begebenheit auf dieser Reise ein, die ja ewig lange zurückliegt, jedoch irgendwie frische Bilder in meiner Erinnerung hinterlassen hatte. In dieser Situation und allen begleitenden Umständen hatte ich, wie auch meine Brüder, versäumt eine Frage zu stellen. Der einzige, der darauf hätte antworten können, lebte nicht mehr – mein Vater.

Auf diese Frage und die ausgebliebe Antwort möchte ich gern im Folgenden zurückkommen. Als nämlich mein Vater zielsicher die Gegend und das Haus, in dem Eleni lebte ansteuerte, musste er doch vorher die Adresse in Erfahrung gebracht haben. Hatte er vielleicht sogar mit ihr telefoniert? Nachdem wir in dieser staubigen Gegend angekommen waren, wies unser Vater uns an, im Auto zu warten, während er kurz eine alte Bekannte besuchen wollte. Es werde nicht sehr lange dauern. Tatsache war, dass wir eine gute Stunde in der Gluthitze, ringsherum kein Baum und kein Schatten, im Auto warteten. Schließlich kam unser Vater zurück und schaute sich nach einem Fenster im ersten Stock um. Eine Gardine wurde etwas zur Seite geschoben. Hinter der nur leicht zurück geschlagenen Gardine stand eine in Schwarz gekleidete Frau, und neben ihr war der Kopf eines jungen Mädchens zu sehen, vielleicht in meinem Alter damals. Ihre Haare waren schwarz, wie die ihrer Mutter.

Vater brachte uns Kuchen von seiner Bekannten mit. Auf die Frage meines Bruders, wer denn das Mädchen wäre, das er gesehen hatte, kam nach einer kleinen Pause die Antwort, dass sie eine der beiden Töchter seiner Bekannten war. Hier war der Punkt, an dem ich hätte nachfragen und weiterbohren müssen!

Ich war auf der Suche nach meiner Schwester Roúla oder Chariklia oder Sotiria, aber vielleicht sollte ich mir eingestehen, dass ich auf der Suche nach einer meiner Schwestern war. Ich war mir nicht gänzlich sicher, welche von beiden meine Schwester war, weil die Angaben meines Vaters leider sehr lückenhaft, oder besser gesagt, unpräzise waren. Es mag durchaus sein, dass sein Wissen um den Namen seiner Tochter gleichermaßen nebelhaft, altersgetrübt, von Vergessen oder Missverstehen bestimmt war. Ich glaubte, aus dem Gehörten auf eine Frau namens Roúla schließen zu müssen.

Ich recherchierte natürlich im Internet und fand heraus, dass die Kurzform oder der Rufname einer Chariklia im Griechischen Charoúla und manchmal Haris ist, aber eben nicht immer. Wie sollte ich das verstehen? Eine Charoúla kann schon mal durchaus auch nur eine Roúla sein. Eine Sotiria wird aber auch Sotiroúla oder ebenfalls Roúla gerufen. Es galt also herauszufinden, ob es sich um zwei Schwestern handelte, wie sich später herausstellen sollte, von denen eine meine sein könnte, oder eben nur um eine Person.

Aber ich greife ja der Geschichte vor! Gleichgültig, ob zwei oder eine Schwester, von denen eine meine ist, die ich beschlossen hatte, gern zu haben. Ich war mir sicher; ich würde sie finden!

Ich musste mich auf diese Reise nach Athen, vielleicht auch nach weiteren Städten in Griechenland, gut vorbereiten, sonst würde es eine Geschichte mit offenem Ende. Spätestens an diesem Punkt hätte ich mich fragen müssen, ob denn dieser ganze Plan nicht ebenso nutzlos enden könnten, wie meine Reise und Recherchen in. Was ich noch nicht ahnte, als ich mit der Planung und Durchführung dieser Reise fortfuhr, war, dass das Ergebnis meiner Bemühungen zu dem größten Einschnitt in meinem Leben führte. Nicht in beruflicher und finanzieller Art, jedoch in ethischer und moralischer Weise. Diese Reise würde zu einer Herausforderung für alle meine moralischen Wertevorstellungen werden und doch zugleich zu einer bis dahin für mich unvorstellbaren Bereicherung meines Lebens mit Zufriedenheit werden.

Im Nachhinein fragte ich mich natürlich auch immer wieder, warum ich denn so verrückt danach war, nach Athen zu reisen. Wahr ist, dass ich seit meiner Jugend graecophil war, das will sagen, dass ich die griechische Kultur mit Musik, Essen und Lebensweise einfach sehr schön fand und immer noch schön finde. Wenn ich griechische Musik hörte, berührte sie mich auf wundersame Weise, und das tut sie bis zum heutigen Tag. Ich gebe zu, dass ich mir schon aus dem Internet Texte zu Gesangsvorträgen heruntergeladen hatte, natürlich auch die deutschen Übersetzungen, damit ich verstand, wovon gesungen wurde, und dann sang ich den griechischen Text. Manchmal hatte es mich dermaßen berührt, dass ich plötzlich feststellen musste, dass mir Tränen die Wangen herunterliefen. Ich glaube nicht, dass griechische Musik generell sehr emotional ist, aber bei der Art von Musik, die ich mag, die ich liebe, handelt es sich um Vertonungen von zeitgenössischen Dichtungen, deren Texte gebildete Griechen im Allgemeinen kennen, wie bei uns selten genug jemand Schillers Glocke kennt.

Ich schweife schon wieder ab, aber auch Schubert hat ja viele Gedichte, die seinerzeit in aller Munde und bekannt waren, in wundervoller Weise vertont, sodass sie breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich wurden und in einer Zeit, als es noch keine IPods und so weiter gab, durch gedruckte Notenblätter verbreitet und auch gesungen wurden.

Aber weiter mit der Geschichte: Zunächst schaute ich mir die Stadt auf einem Stadtplan an, den ich in der Buchhandlung gekauft hatte. Mit dem Lesen der zumeist griechisch geschriebenen Straßennamen hatte ich ja keine Probleme. Ich würde mir ein Hotel in der Stadtmitte suchen. An einer Stelle der Stadt mit einer guten Infrastruktur, also Bus- und U-Bahnverbindungen, aber auch Restaurants. Vielleicht gelang es mir ja auch, mich an den Ortsteil zu erinnern, an dem wir damals die Verwandten des Freundes meines Vaters gefunden hatten und bei denen wir übernachten durften. Und eventuell gab es noch jemanden, der sich an uns oder sogar an mich erinnern konnte. Vielleicht, vielleicht, eventuell … Sollte ich mir eingestehen, dass es gegebenenfalls zu viele Unwägbarkeiten für mein Vorhaben gab?

Ich kam in Athen kurz vor Mittag an. In der Ankunftshalle war es nicht viel anders als anderswo. Ein fürchterliches Gewusel von Touristen und Geschäftsreisenden, die man leicht an ihrem Gehabe unterscheiden konnte. Die Touristen standen mit ihren noch leeren Gepäckwagen, sich gegenseitig behindernd, direkt am Gepäckband, so als ob sie dadurch ihr Gepäck schneller bekämen. Die Geschäftsreisenden warteten ruhig und zum Teil entspannt in einem gewissen Abstand vom Gepäckband. Durch die Türen zur Flughafenhalle, die sich jedes Mal, wenn jemand den Gepäckbereich verließ, konnte man Angehörige, wohl Freunde und Taxichauffeure teils mit Schildern, auf denen Namen standen, auf die Ankommenden warten sehen.

Ein Bild stieg vor meinem geistigen Auge auf; Ankunft in M., und ich sah durch die Glaswand direkt hinter der Passund Zollkontrolle das lächelnde Gesicht eines liebenden Menschen, der auf mich wartete. Es war anstrengend dieses Dauerlächeln permanent zu erwidern oder ihm auszuweichen, denn letzteres konnte ja als mangelnde Freude auf das Wiedersehen gedeutet werden.

Jedenfalls stand ich auch hier, relativ entspannt, da niemand auf mich wartete. Es war unerheblich, wie schnell mein Gepäck kam, Hauptsache es kam überhaupt. Zum ersten Mal seit meiner Abreise von zu Hause fragte ich mich, ob es richtig war, was ich vorhatte. Jetzt, da es kaum ein Zurück gab. Es lief doch darauf hinaus, dass ich im Leben meines Vaters herumschnüffeln würde. Wenn er noch lebte, wäre es sehr indiskret und gewiss ein Vertrauensbruch.

Schließlich wurde auch mir mein Gepäck auf dem Laufband zugestellt. Am Passhäuschen erfuhr ich eine schnelle Abfertigung, und am Zoll ging ich durch die Tür mit dem grünen Zeichen. Niemand interessierte sich für mich. Ich verließ die Ankunftshalle, den Zeichen mit Bus und Zug folgend. Draußen war ein Häuschen, an dem man Fahrkarten für die Busverbindung zur Stadt Athen kaufen konnte. Wie sollte ich in die Stadt kommen mit Bus oder U-Bahn? Zur U-Bahn hätte ich weiterlaufen müssen, während der Bus direkt vor dem Terminal hielt.

Ich sage Omonia, und schon hatte ich ein Ticket, dessen Aufschrift mit sagte, dass ich am Syntagma Platz in die U-Bahn umsteigen musste. Man hatte mir die Entscheidung abgenommen. Kein Problem für mich, aber für andere Touristen …?

Hätte ich gewusst, wie viel angenehmer die Fahrt mit der U-Bahn vom Flughafen in die Stadt im Gegensatz zur Busfahrt war, ich wäre nie in diesen Bus gestiegen. Dass nicht auch noch Hühner mitreisten, war alles. Ohne Probleme gingen Fahrt und Umsteigen auf die U-Bahn vonstatten, die mich zu meinem Ziel bringen sollte.

Am Omoniaplatz fand ich ein schönes Hotel nicht weit von der U-Bahnstation, und auch Bushaltestellen für verschiedene lokale Linien gab es in der Nähe. Kioske und Imbissbuden gab es rund um den Platz. Gegenüber vom Hotel befand sich ein Café mit Tischen draußen auf der Straße, und ich freue mich schon darauf, abends von dort aus „men watching“ zu betreiben. Eigentlich konnte man von hier aus alles zu Fuß erledigen, entnahm ich dem Stadtplan und den vielen Hinweisschildern, die an der Einmündung der Straße auf dem Platz standen. Vielleicht würde es schwierig werden, zu Fuß zu gehen. Wenn nicht diese brütende Hitze über der Stadt läge, stellte ich mir vor, könnte es ein schöner Aufenthalt werden. Außerdem schnürte mir der dicke Smog in den Straßen die Kehle zu, sodass ich entweder eine Taxe oder den Bus für längere Strecken nehmen sollte.