Serhij Zhadan

Internat

Roman

Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Suhrkamp

Internat

 
 
»Fahr und hol ihn«, brüllt der Alte.

»Ist doch ihr Sohn«, brüllt Pascha zurück, »soll sie ihn doch selbst holen.«

»Er ist dein Neffe«, erinnert ihn der Alte.

»Na und?«

»Mein Enkel.«

Und das alles, ohne den Fernseher auszuschalten. Den Fernseher schaltet er nicht einmal nachts aus. Der Fernseher ist bei ihnen das Ewige Feuer: leuchtet weniger zur Freude der Lebendigen als zur Erinnerung an die Toten. Der Alte schaut die Wettervorhersage, als müsse dort sein Name erwähnt werden. Wenn die Vorhersage vorbei ist, sitzt er noch eine Weile und verdaut erst einmal, was er gehört hat. Pascha schaut nicht fern, vor allem im letzten Jahr nicht mehr, seit die Nachrichten nur noch Angst machen. Er sitzt in seinem Zimmer, am Tisch mit den Schulbüchern, hält es nicht mehr aus, erhebt sich von der Couch, verlässt die Wohnung. Der Alte dreht sich nach dem Geräusch um, denn die Federn der Couch knacken wie trockene Zweige im Pfadfinderlagerfeuer. Die Möbel daheim sind alt, aber zäh; sie werden die gegenwärtigen Bewohner bestimmt überleben. Seine Schwester hatte vorgeschlagen, wenigstens die Sessel neu zu beziehen, aber Pascha winkte nur ab. Warum neu beziehen, sagte er, das, sagte er, sei wie mit siebzig ein Lifting machen. Klar geht das, aber besser, man nimmt gleich Schmerzmittel. Seine Schwester taucht in der letzten Zeit sowieso kaum mehr auf, also spricht auch niemand mehr von neuen Bezügen.

Pascha mag dieses Haus, er wohnt hier schon sein ganzes Leben lang und hat vor, auch weiter hier zu wohnen. Es wurde von deutschen Gefangenen gebaut, gleich nach dem Krieg. Ein ziemlich geräumiges Gebäude, für zwei Familien. Die zweite Straße vom Stationsbahnhof, dicht besiedelter Privatsektor, in dem vor allem Eisenbahner wohnen. Die ganze Siedlung wurde um die Station herum errichtet: die Station gab Arbeit, sie gab Hoffnung — ein vom Dampflokqualm schwarzes Herz, das Blut in die umliegenden Talsenken und Waldgebiete pumpte. Sogar jetzt, wo das Depot leer steht wie ein Schwimmbecken, aus dem man das Wasser abgelassen hat, und höchstens noch Schwalben und Landstreicher in den Werkshallen wohnen, hängt das Leben an der Eisenbahn. Nur dass es keine Arbeit mehr gibt. Irgendwie geht die Arbeit in den Arbeitersiedlungen immer zuerst zur Neige. Die Werkshallen wurden geschlossen, und alle gingen ihrer Wege, versteckten sich in den engen Höfen mit den vom sengend heißen Sommer ausgetrockneten Brunnen und den Erdkellern, deren Vorräte noch vor Weihnachten erschöpft sind.

Pascha allerdings steht sich nicht schlecht — immerhin ist er Staatsangestellter. Ja, denkt Pascha, als er aus dem Haus tritt und die mit Hospitaldecken gepolsterte Tür hinter sich schließt, immerhin ein Staatshaushalt, immerhin Staatsangestellter. Der Schnee im Hof ist blau-rosa, er spiegelt die westliche Sonne und den Abendhimmel, dunkelt aus tiefen Poren. Scharf anzufassen ist er, schmeckt nach Märzwasser, bedeckt die feuchte schwarze Erde, so dass man keinen Wetterbericht braucht: Der Winter wird lange dauern, alle werden sich daran gewöhnen, werden leiden und sich gewöhnen. Und erst wenn sie es gewohnt sind, beginnt etwas Neues. Vorerst aber gleicht die Welt einem Schneeklumpen in warmen Händen: Er taut, gibt Wasser ab, aber je länger, desto kälter werden die Hände, desto weniger warme Bewegung in ihnen, desto mehr eisige Erstarrung. Das Wasser, wenn auch getaut, bleibt tödlich, die Sonne versinkt im komplizierten System der Wasserspiegel und Reflexionen, und es ist unmöglich, sich an ihr zu wärmen; gleich nach Mittag, nach dem feuchten Signalton, der über der Station hängenbleibt, beginnt die Dämmerung, und sofort verschwindet das Gefühl von Tauwetter, die Illusion von Wärme.

Pascha umrundet das Haus und stapft über den durchweichten Pfad zwischen den Bäumen. Ihr ganzes Leben haben sie das Haus mit einem Bahnarbeiter geteilt. Die eine Hälfte gehörte ihm, die andere Paschas schrecklich netter Familie: Vater, Mutter, Pascha und seiner Schwester. Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als sie noch alle zusammenwohnten, brannte die Bahnarbeiterhälfte ab. Das Feuer konnte gelöscht werden. Aber wiederaufbauen wollte der Bahnarbeiter nicht — er ging zum Stationsbahnhof, bestieg einen Zug in östliche Richtung und verschwand für immer aus ihrem Leben. Sie rissen die abgebrannte Hälfte des Hauses einfach ein, tünchten die Mauern weiß und lebten weiter. Von außen sieht das Haus aus wie ein halbes Brot auf dem Regal im Laden. Der Alte verlangt das immer — ein halbes, um nicht zu viel zu kaufen. Und nicht zu viel übrig zu lassen. So hat es ihn das Leben an der Station gelehrt.

Schwarze Bäume im Schnee, scharfe Äste vor rotem Himmel — hinter dem Zaun beginnt die Straße, weiße Nachbarhäuschen, vereinzelt die gelben Apfelsinen elektrischer Lampen, Gärten, Zäune, Kamine, aus denen Rauch steigt, als stünden dort müde Männer, unterhielten sich in der Kälte und stießen warmes Januarleben aus ihren Lungen. Die Straße ist leer, niemand zu sehen, nur an der Station rumpeln manchmal die Waggons beim Rangieren, Metall auf Metall, als verrücke jemand eiserne Möbel. Und von Süden, von der Stadt her, hört man den ganzen Tag, seit dem Morgen, schwere Explosionen — mal mehr, mal weniger. Der Donner verteilt sich hoch in der Luft, im Winter ist die Akustik komisch, schwer auszumachen, woher sie geflogen kommen und wo sie einschlagen. Frische Luft, der feuchte Baumgeruch, angespannte Ruhe. So ruhig ist es nur, wenn alle verstummen, um zu lauschen. Pascha zählt bis hundert, dann kehrt er um. Zehn. Vorigen Abend waren es sechs. Im selben Zeitraum. Was sie wohl in den Nachrichten sagen?

Er trifft den Alten in der Küche. Über den Tisch gebeugt, packt er seine alte Sporttasche.

»Wo willst du hin?«, fragt Pascha.

Was für eine Frage: Natürlich den Jungen holen. Demonstrativ packt er die Zeitung ein (wozu bloß eine ausgelesene Zeitung lesen? das ist doch wie ein gelöstes Kreuzworträtsel lösen), seine Brille (Pascha schimpft immer mit ihm wegen dieser Brille — dickes Glas, verzerrtes Bild, dann trag doch lieber gleich Sonnenbrille, wenn du sowieso nichts siehst), den Rentenausweis (wenn er Glück hat, fährt er kostenlos), das Handy, abgeschliffen wie ein Kiesel am Strand, ein frisches Taschentuch. Seine Taschentücher wäscht und bügelt der Alte selbst, belastet seine Tochter nicht damit, das will er nicht. Einmal im Monat stellt er sich ans Bügelbrett und fährt behutsam über die mit der Zeit ergrauten Taschentücher, wie man entwertete Banknoten trocknet. Pascha kauft ihm immer Papiertücher, aber der Alte benutzt weiter seine Stofftücher, eine Gewohnheit noch aus der Zeit, als er auf der Station im Kontor gearbeitet hat und es noch keine Taschentücher aus Papier gab. Und andere auch nicht. Das Handy kann der Alte eigentlich gar nicht bedienen, schleppt es aber dauernd mit sich herum — zerstoßenes Gehäuse, abgenutzter grüner Knopf. Pascha lädt ihm die Karte immer wieder auf, er selbst weiß gar nicht, wie das geht. Jetzt packt er also, kramt in der Tasche, schweigt beleidigt: er wird immer schwieriger, lässt nicht mit sich reden, trotzig wie ein Kind. Pascha tritt an den Herd, trinkt direkt aus dem Teekessel. Seit die Brunnen im Sommer ausgetrocknet sind, ist es gefährlich, aus dem Kran zu trinken: Wer weiß schon, was da heutzutage in den Röhren haust. Daher kochen sie das Wasser ab und meiden die Tümpel. Der Alte antwortet ihm nicht, durchwühlt seine Tasche.

»Also gut«, sagt Pascha, »ich fahr und hole ihn.«

Aber so schnell kann der Alte nicht einlenken. Er nimmt die Zeitung aus der Tasche, faltet sie auf, faltet sie wieder zusammen, macht sie klein und steckt sie zurück. Seine gelben trockenen Finger zerknüllen dabei nervös das Zeitungspapier, Pascha schaut er gar nicht an, beugt sich über den Tisch, will Recht behalten, befindet sich mit der ganzen Welt im Krieg.

»Hast du gehört?«, sagt Pascha. »Ich fahr und hole ihn.«

»Nicht nötig«, antwortet der Alte.

»Ich hab doch gesagt, dass ich ihn hole«, wiederholt Pascha genervt.

Da nimmt der Alte demonstrativ seine Zeitung aus der Sporttasche und geht hinaus. Öffnet resolut die Tür zum Wohnzimmer — ein Streifen weichen Fernsehlichts fällt in den dunklen Flur. Dann schließt er sie geräuschvoll, und es ist, als zöge er von innen die Tür eines leeren Kühlschranks zu.