Sigrid Damm

Im Kreis treibt die Zeit

Insel Verlag

Für H-J. W.

1

Mein gespanntes, um nicht zu sagen ablehnendes Verhältnis zu meinem Vater. Fast lebenslang.

War dafür ein Erlebnis in der frühen Kindheit ausschlaggebend? Ich muß fünf oder sechs Jahre gewesen sein. Mit meiner Mutter war ich zu Besuch in Erfurt bei den Großeltern mütterlicherseits. Die Erwachsenen hatten etwas zu besprechen, schickten mich aus dem Zimmer. Meine Neugier, ich hielt das Ohr an die Tür, lauschte. Es ging um meinen Vater. Der Großvater beschwor meine Mutter, sich von ihm zu trennen, sie solle berufstätig werden, sich zur Neulehrerin ausbilden lassen. Das Wort Scheidung fiel, wurde wiederholt. Ein Wortschwall, was meinem Vater alles fehle. Ein hartes Urteil dann über ihn, mehrfach wiederholt, er taugt nichts, taugt nichts … Die Autorität meines über alles geliebten Großvaters. Nun wußte ich es 

Das Wort Scheidung war für mich als Kind ein Zauberwort. Oft, wenn ich mit meiner drei Jahre älteren Schwester und den Eltern am Eßtisch saß, schloß ich die Augen und ließ meinen Vater verschwinden. Wenn die Mutter sich scheiden lassen würde und wir nur mit ihr zusammenleben könnten, schien mir alles gelöst.

Aber mein Zauberwort, das ich mit geschlossenen Lippen nach innen murmelte, hatte keine Kraft. Entweder stieß mich meine Schwester unsanft an, oder die Stimme des Vaters sagte: Träum nicht. Und wenn ich die Augen öffnete, war er noch da.

Ob jemals eine Scheidung zwischen meinen Eltern im Gespräch war, ich weiß es nicht. Meine Mutter aber trennte sich nicht von meinem Vater, hatte auch nicht den Mut, sich zur Lehrerin ausbilden zu lassen.

Meine Eltern führten eine schwierige Ehe. Jeder war auf seine Weise unglücklich. Ihre ständigen Auseinandersetzungen, deren Sinn wir als Kinder weder nachvollziehen noch verstehen konnten. Am Ende stand immer, man konnte darauf warten, der Satz meines Vaters: Wären wir nur nach dem Westen gegangen.

Die belastenden, ermüdenden Streitigkeiten der Eltern. Mit dem Verschwinden des Vaters, glaubte ich, hätten sie ein Ende.

Warum aber waren wir auf seiten meiner Mutter? Von klein auf machte sie uns zu ihren Vertrauten, schüttete uns ihr Herz aus. Es gab kaum eine Handlung des Vaters, die sie nicht uns gegenüber mit Kritik bedachte. So gelang es ihr, meine Schwester und mich auf ihre Seite zu ziehen. Wir glaubten, daß sie im Recht, der Vater dagegen im Unrecht sei. Auch der geliebte Großvater verhehlte seine Abneigung gegen seinen Schwiegersohn nicht. Ebenso die Großmutter. Wie lange kann ein Kind dem widerstehen?

So wurde ich als kleines Mädchen, dann als Heranwachsende und selbst noch als Erwachsene zur Komplizin meiner Mutter. So war es bis zum Ende ihres Lebens. Bis dahin teilte ich ihre Sicht auf ihren Ehemann, meinen Vater.

Im September 1991 starb meine Mutter. Achtzig Jahre war sie geworden. Mein Vater ging auf sein neunzigstes Jahr zu. Über zwei Lebensjahre werden ihm noch vergönnt sein.

Erst in diesen zwei Jahren vor seinem Tod – er starb im November 1993 – veränderte sich, überraschend, verstörend, beglückend, mein Verhältnis zu ihm. Doch davon wird später zu erzählen sein.

2

In den Wintertagen 1994 löste ich mit Schwester und Schwager die Wohnung auf, in der der Vater bis zu seinem Tod gelebt hatte.

Die besonderen Wünsche der sechs Enkel, der eine wollte den Schreibtisch des Großvaters, der nächste den schweren eichenen Bücherschrank, der dritte aus der einstigen guten Stube, dem Eßzimmer, den Ausziehtisch mit den sechs gepolsterten Stühlen. Barometer, Atlanten, Bücher und Schallplatten waren begehrt. Besteck und altes Porzellan teilte ich mit meiner Schwester.

Ich nahm die im Schreibtisch befindlichen Unterlagen meines Vaters, Mappen mit amtlichen Papieren, handschriftliche Büchlein und die an anderer Stelle gefundenen Kuverts und kleine Kästen mit vergilbten Fotos an mich, verstaute sie in einem großen Karton.

Manches wollte niemand, selbst die Neugierigen nicht, die auf unsere Annonce hin kamen. Wir überließen alles einem Mann, der sein Geld mit Haushaltsauflösungen verdiente, er transportierte auch die Möbel an die jeweiligen Wohnorte der Enkel.

Schließlich stand ich an einem Mittag allein in den völlig leeren Räumen der väterlichen Wohnung. Ich übergab sie besenrein, wie die Anordnung der Städtischen Wohnungsverwaltung lautete. Das schien mir definitiv meine letzte Handlung in Gotha, meiner Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen war, in der meine Eltern ihr ganzes Leben verbracht hatten und ich sie, zunächst allein, später mit meinen beiden Söhnen, so oft besucht hatte. Nun würde ich, so schien es mir, sie nicht mehr betreten. Was sollte ich noch hier? Von nun an würde ich eine Fremde in Gotha sein.

Noch am selben Tag verließ ich meine Heimatstadt. Ich erinnere mich, als sei es heute, an die Fahrt mit der Straßenbahn von der Schönen Aussicht zum Bahnhof. Ein letzter Blick. Ein Abschied.

Die Bahn fuhr die Waltershäuser Straße hinab, Myconiusplatz, Bürgeraue, an der Myconius-Schule vorbei, die ich acht Jahre besucht hatte. Die Einschulungsfeier im Ernestinum in der Bergallee. Der Zug der Erstkläßler die Bergallee hinab. Ich stolz, Mutter und Großeltern aus Erfurt an meiner Seite, eine riesige Zuckertüte im Arm. Das Schulgebäude der Myconius-Schule, unser Klassenzimmer, zerschrammte kleine Holzbänke mit Pulten; an der Tür postiert die Mutter, die Zuckertüte haltend. Die Lehrerin, Frau Jahn, mit heller sanfter Stimme, rundlich, heiter, ein Haarknötchen, das sich mitunter entrollt, mein Herz fliegt ihr sofort zu (das Jahnchen werden wir sie nennen). Der erste Tag und dann acht Jahre. Ich entsinne mich an den strengen Geruch im Schulhaus, an die Treppen, das Hinauf- und Hinunterrennen, den aufwirbelnden Staub, die merkwürdigen gußeisernen Säulen mit den korinthischen Kapitellen, das Zimmer des Pionierleiters im Parterre, die tägliche Zuteilung eines trockenen Brötchens, das wir Quikser nannten; aber alles ist entfernt und undeutlich.

Scharf zeichnet sich in meiner Erinnerung allein das hohe Fensterviereck des Klassenzimmers im dritten Stockwerk ab. Ich habe einen Platz am Fenster (die ganze Schulzeit hindurch, niemals sitze ich in der mittleren Bankreihe oder an der Wand), ich sehe hinaus, vor mir ziehende Wolken, ein aufregendes, ständig sich veränderndes Geschehen. Wolken, Regen und Sonne im Fensterviereck, erinnernd ist es mir, als sei das meine Lieblingsbeschäftigung in der Schule gewesen, dieses vorüberziehende Wolkengetier zu beobachten, den Schattierungen des Blaus am Himmel, seinem Farbenspiel, dem düsteren Schwarz an den Wintermorgen, dem allmählichen Hellwerden, seinen Regen- und Windschraffuren zu folgen. Neben dem wunderbaren Jahnchen, das später zu Tode kam – von einer Gothaer Straßenbahn wurde es überfahren –, ist das meine stärkste Erinnerung. Mir fällt noch die Direktorin ein, eine große herbe Frau (hieß sie Hötke oder Höpcke?), sie war mit meinen Eltern befreundet und erzählte ihnen, daß ich eine artige Schülerin sei (ein aus der Mode gekommenes Wort). Kein Kunststück, wenn ich sie nahen sah, ließ ich mein Rennen und machte einen Knicks. Mein Vater kommentierte dieses artig stets; zu Hause sei es das Gegenteil, und dann kam die Rede von mir als einem renitenten Kind. Das Wort, das so oft aus seinem Mund kam, kränkte mich nie, es gefiel mir sogar, mit seinen Hebungen und Senkungen hatte es etwas Tänzerisches.

Auf der Weiterfahrt der Blick in die Jüdenstraße. Die vom Markt abgehenden Gassen: Fritzelsgasse, Gretengasse, Hützelsgasse, Salzengasse, Jüdenstraße. Der Merkspruch des Vaters für die richtige Folge: Fritz und Gretchen setzen ein Hütchen auf und holen Salz in der Jüdenstraße. Die Papierwarenhandlung Erich A. Fleck dort. Von meinem Vater wurde der Besitzer wegen seiner rauhen Stimme nur Erich A. Knarr genannt. Ein winziger Laden voller Begehrlichkeiten: Kreide, Buntstifte, Papiere, auch Buntpapiere, Bleistiftspitzer, Hefte, Zeichenblöcke. Für mich war der Laden des Erich A. Knarr der aufregendste der Stadt. Nur die am unteren Hauptmarkt befindliche Glaesersche Buchhandlung, in der ein Herr Schöler senior, später ein Herr Schöler junior residierte, konnte der Papierwarenhandlung den Rang ablaufen.

Das Rattern der Straßenbahn. Zur linken Seite die Gadollastraße und das riesige Gebäude, einst Kaserne. Heute ist es Kaufland, ein Konsumtempel, die weite Fläche, auf der früher exerziert wurde, ist ein Parkplatz. Mein täglicher Schulweg, vorbei an dieser Kaserne, in der die »Kasernierte Volkspolizei«, später die »Nationale Volksarmee« untergebracht war. Wenn sie zu Übungen ausmarschierten, immer das gleiche Ritual: In der Höhe unseres Gartens sangen sie: … dem Karl Liebknecht, dem haben wir’s geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand …

Die Haltestelle Bertha-von-Suttner-Platz, von unserem Haus in der Bohnstedtstraße kommend, sind wir dort stets ein- oder ausgestiegen. Hier sind wir abgefahren, wenn wir mit der Thüringer Waldbahn zu Ausflügen nach Tabarz oder Friedrichroda aufbrachen. Hier bin ich in die andere Richtung – wie viele Male in meinem Leben – zum Bahnhof gefahren oder, als ich in der Oberschulzeit ein Praktikum im Gummiwerk im Ostviertel machte, des Morgens gegen fünf Uhr, gemeinsam mit den im Schichtdienst arbeitenden Müttern, die ihre bleichen, aus dem Schlaf gerissenen Kinder bei sich hatten, um sie im Betriebskindergarten oder in der Krippe abzugeben.

Die Straßenbahn bog in die Gartenstraße ein, und ich dachte daran, wie sie sich, als ich Kind war, durch den engen Brühl gequält hatte, die Haltestelle am Schellenbrunnen, Marktstraße, Neumarkt, Erfurter Straße.

Schließlich der Arnoldiplatz. Hier hält die Straßenbahn auch an diesem Abschiedstag. Als sie weiterfährt, zur Rechten die freie Fläche.

Ich schließe die Augen, das Innere des Gothaer Landestheaters taucht vor mir auf. Meine erste Theatervorstellung. Die Erinnerung daran ist wohl die erste, nicht durch Fotos oder Erzählungen, sondern durch eigenes Erleben ausgelöste. Ich war dreieinhalb Jahre. Ich spüre noch den Luftzug, als der Vorhang aufrauscht, fühle meine kleinen Hände auf dem Stoff des Sitzpolsters, erinnere mich, welch großes Entzücken mich erfüllte. Unglaubliches geschah auf der Bühne. Ein Müller mit dickem Bauch, bekleidet mit einer Bundhose, einem weißen Hemd, eine rote Mütze mit Quaste auf dem Kopf, kommt, ein heiteres Lied singend, von einem Berg herab, am Strick führt er einen Esel, einen richtigen Esel (oder war es eine Attrappe?). Der Müller schreitet mit seinem Esel auf eine Mühle zu, deren große Flügel sich, wie mir schien, im Takt des Gesangs und der klappernden Hufe drehten. Unvergeßlich.

Wenig später wurde der Spielbetrieb eingestellt. In den letzten Kriegstagen fing das Theater durch eine Brandbombe Feuer und brannte vollständig aus, die schwarzverkohlten Mauern aber standen noch nach Kriegsende. Ungeachtet der Proteste wurde der historisch bedeutsame Bau abgerissen. An seine Stelle trat ein häßliches Hochhaus. Auch das ist jetzt verschwunden.

Mein Blick geht zur linken Seite. Das dunkelrote Gebäude der Post. Ich höre die Maschinengewehrsalven, die in den Tagen des Kapp-Putsches hier auf die auf Nachrichten aus Berlin wartende Menge abgefeuert wurden. Daneben das einstige Haus der Freimaurer, 1889 eingeweiht, im maurischen Stil mit seltsamen Türmchen errichtet, mein Großvater mütterlicherseits, der Freimaurer war, zeigte mir ein Foto. Von den Nationalsozialisten wurde das Gebäude abgerissen. An der Abrißstelle später das Kino, in dem ich als junges Mädchen oft war; ich sehe den beleuchteten Vorhang, höre den Gong, drei Schläge, wenn es dunkel wurde. Filme: »Wenn der weiße Flieder wieder blüht«, »Die Kraniche ziehen«, der russische Streifen.

Die Straßenbahn hält an der Orangerie. Kahl und wintertraurig liegt sie da, die Blumenrabatten sind mit Reisig zugedeckt, die Kübel mit den Palmen überwintern im Gewächshaus. Dann die Bahnhofstraße, hier stieg ich als Kind mit meiner Mutter aus, wenn wir zu Tante Lisa, der Leiterin der Sekte der »Christlichen Wissenschaft«, in die Jägerstraße gingen. Hier war ich erst vor kurzem, besuchte in der Dr.-Wilhelm-Külz-Straße den Schriftsteller Hanns Cibulka.

Der Bahnhof. Die Treppen hinab, Bahnsteig 3, Richtung Halle. Der Zug fährt ein. Ich setze mich auf die Seite, von wo ich nach Schloß Friedenstein zurücksehen kann. Immer setze ich mich so, blicke auf die beiden Türme, bis sie allmählich entschwinden.

An diesem Tag aber, dem endgültig letzten Tag, dem des Abschieds von Gotha, sehe ich nicht zurück. Lehne den Kopf an das Polster, schließe die Augen, und als ich sie hinter Seebergen öffne, ist die Dämmerung schon in Dunkelheit übergegangen. Gotha ist ein abgeschlossenes Kapitel, ist Vergangenheit.

3

In den nächsten Jahren bin ich kein einziges Mal in Gotha. Die Stadt entfernt sich von mir, die Erinnerung verblaßt. So bleibt es über ein Jahrfünft.

Dann die Zäsur. Mich erreicht eine Einladung zu einer Lesung. Ich werde ablehnen, das steht für mich fest. Wie kann man in seiner Heimatstadt lesen, in der man keine Bleibe hat und auf eine Unterkunft im Hotel angewiesen ist. Undenkbar.

Aber da ist noch etwas. Ich denke an die allererste öffentliche Lesung meines Lebens, ich muß fünfzehn oder sechzehn gewesen sein. Hanns Cibulka trägt in den oberen Räumen der in der ehemaligen Orangerie untergebrachten Heinrich-Heine-Bibliothek im abgedämpften Schein einer Leselampe Lyrik von Paul Éluard vor. Der mit Menschen gefüllte Raum, die atemlose Stille, der wunderbare, bis ins Körperinnere zu spürende Rhythmus der Gedichte, die Stimme des Vortragenden. Zum Schluß seine Polemik gegen das, was man im sozialistischen Realismus Lyrik nenne und das diesen Namen nicht verdiene. Unvergeßlich. Niemals kann ich da heranreichen.

Die Einladenden in Gotha sind die Heinrich-Heine-Bibliothek und Ingrid Seyfarth von der Buchhandlung Euchler in der Waltershäuser Straße. Und dann ist plötzlich (woher hat sie meine Nummer) die Gothaer Buchhändlerin am Telefon, eine helle sympathische Stimme. Ich lege die Gründe für mein Nein dar, sie lacht, in ihrem Haus sei unter dem Dach ein kleines Gästezimmer mit Blick auf den Krahnberg. Für mich völlig überraschend, gelingt es ihr, den Bann zu brechen, ich nehme an.

Die Lesung in der Heinrich-Heine-Bibliothek. Beim nächsten Buch wieder eine Einladung in meine Heimatstadt. Und eine dritte, ich lese im Spiegelsaal des Schlosses. Zuvor bittet mich Gothas Oberbürgermeister Knut Kreuch zu einem kleinen Empfang ins Rathaus. Ich stehe vor dem schönen Portal, sehe zur Gewandung hoch, der lächelnde Jünglingskopf im Rachen eines Drachen. Oder ist es ein Lindwurm? Die schwere Tür, die Klinke, ich habe sie noch nie niedergedrückt, betrete zum allerersten Mal das Gothaer Rathaus. Der Oberbürgermeister ist ein junger Mann im Alter zwischen meinen beiden Söhnen; wir sind schnell in einem heiteren Gespräch.

Bei weiteren Lesungen in Gotha ist Knut Kreuch stets unter den Zuhörern, leitet sie sachkundig und originell ein. Und als die Stadt sich ein neues Signet zulegt – »Gotha adelt« –, lese ich im Rathaussaal zum Auftakt der gleichnamigen Veranstaltungsreihe. Das Motto bezieht sich auf den genealogischen Adelskalender, der von 1763 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Gotha erschienen ist und die Stadt in Europa, ja in der ganzen Welt bekannt gemacht hat, da der Kalender bis heute einfach »der Gotha« genannt wird.

Und zum 250. Geburtstag von Friedrich Schiller eine Feier im Ekhof-Theater.

Inzwischen übernachte ich im Hotel am Schloßpark in der Lindenauallee, immer dasselbe Zimmer mit den schrägen Wänden unter dem Dach und wie bei meinen Buchhändlerfreunden der Blick auf den Krahnberg und von unten herauf, vom Schulhof des Ernestinums, das Lachen, Kreischen und Rufen der Schulkinder in den Hofpausen.

In meiner freien Zeit vor und nach diesen Lesungen schlendere ich durch die Stadt. Stehe vor dem Rathaus, erinnere mich: Der Vater machte stets hier halt, sah zu einer rechts des Portals angebrachten Tafel und deklamierte: Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes / ​Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an. Johann Wolfgang von Goethe, sagte er. Ich hatte den Spruch zu wiederholen, ich mochte ihn nicht. Beim Blick auf Straßenschilder erinnere ich mich seiner Kommentare; bedeutende Bürger der Stadt, Liebetraustraße: ein Bürgermeister, Frankenbergstraße: ein Gothaer Staatsminister und Freund Goethes, Ifflandstraße: der berühmte Schauspieler, der seine Karriere in Gotha begann. Dorotheenstraße: eine Herzogin. Aber auf dem Schild steht Ernst-Thälmann-Straße, wandte ich ein. Mein Vater ließ das nicht gelten, das ist seit 1880 die Dorotheenstraße, und eines Tages wird sie wieder diesen Namen tragen, sagte er. Er sollte recht behalten, 1991 wurde sie wieder umbenannt.

Als Kind interessierten mich die Lektionen des Vaters zur Geschichte Gothas anhand der Straßennamen überhaupt nicht. Es waren die kleinen Geschichten der eigenen Biographie, die sich mit den Namen von Straßen und Plätzen verbanden, wo man sich mit einer Freundin verzankt oder einen Freund gewonnen hatte, wo man mit dem Fahrrad gestürzt oder wo auf dem Weg in die Klavierstunde immer dieser große Hund gebellt hatte.

Nun aber beginne ich, meine Heimatstadt mit anderen Augen zu sehen. Neugier auf ihren lebendigen pulsierenden Leib. Und auf ihre Vergangenheit. Was ist in ihr über Jahrhunderte geschehen? Die erste Ansiedlung. Die Gründung der Stadt. Wassermangel, der Bau des Leinakanals. In der Folge die Belebung von Handel und Gewerbe.

Höhepunkte. Die Reformation, Martin Luthers Predigten in der Gothaer Augustinerkirche. Und Tiefpunkte. Die Belagerung der Stadt durch kaiserliche Truppen, weil der regierende Fürst den mit der Reichsacht belegten Ritter Wilhelm von Grumbach in den Mauern Gothas beherbergt. Nach der Kapitulation die Schleifung der Feste Grimmenstein, das Spektakel der öffentlichen Hinrichtung Grumbachs und weiterer Schuldiger, unter anderem des Kanzlers von Brück, des Schwiegersohns von Lucas Cranach d. Ä. Eine in das Pflaster des Marktes südlich des Rathauses eingelassene Gedenktafel erinnert daran: 18. April 1567.

Mitten im Dreißigjährigen Krieg der Beginn der Errichtung von Schloß Friedenstein hoch über der Stadt durch Herzog Ernst den Frommen, der Stadt und Fürstentum zu Ansehen in ganz Europa verhilft. Im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert der aufgeklärte Gothaer Herzog Ernst II., seine Leidenschaft für die Astronomie. Sein Kunstinteresse, das auch Goethe aus Weimar immer wieder in das benachbarte Gotha zieht.

Und das 20. Jahrhundert? Jener Josef Ritter von Gadolla, der zum Ende des Zweiten Weltkrieges im April 1945 die Stadt den Alliierten kampflos übergibt und damit vielen Menschen, gewiß auch mir, das Leben rettet.

Immer wieder gibt es Anlässe, die Stadt zu besuchen. Und bei meinen Gängen durch Gotha fallen mir ständig Details ein, auf die mein Vater mich hinwies, Geschichten, die er mir erzählte. Im heraufholenden Erinnern spüre ich, wie sehr er mit Gotha verbunden war, wie sehr er sich in der Historie der Stadt auskannte. Er hat noch zu Beginn des Jahrhunderts die Monarchie erlebt. Für kurze Zeit im November 1918 sogar die vom »Arbeiter- und Soldatenrat« und der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ausgerufene »Republik Gotha«. Dann die Weimarer Republik, die Herrschaft der Nationalsozialisten, schließlich das DDR-Regime und zuletzt die Bundesrepublik Deutschland; sechs Herrschaftsformen. Am 22. Januar 1903 ist er in Gotha geboren und am 11. November 1993 in Gotha gestorben. Fast ein Jahrhundert, neunzig Jahre hat er in dieser Stadt gelebt, ist Augenzeuge ihrer wechselvollen Geschichte.

Die Beunruhigung, die mich erfaßt bei jedem Gang durch Gotha. Habe ich dem Vater nicht Unrecht getan mit meiner Ablehnung, meinem ständigen Widerspruch, mit der Übernahme des großväterlichen Urteils: er taugt nichts …? Bohrende Fragen. Mein Versagen. Das Gefühl, Versäumtes nachholen zu müssen.

Was weiß ich über die Kindheit meines Vaters, was über ihn als jungen Mann? Mit dem Vater durch die Geschichte Gothas wandern, dabei etwas über sein Leben erfahren, Antworten auf nie gestellte Fragen finden. Die Nachlaßpapiere, die Mappen mit amtlichen Dokumenten, die kleinen Kästen mit vergilbten Fotos, die ich nach seinem Tod beim Ausräumen der Wohnung in den Januartagen 1994 an mich genommen und in einem großen Karton verstaut habe. Lange Zeit blieben sie unangerührt.

2009, entsinne ich mich, einmal hineingesehen zu haben, da entstanden erste Notizen zum Vater. Dann drängten andere Dinge vor.

4

Das erste Dokument, das ich dem Karton entnehme, ist der Taufschein meines Vaters. Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heil. Geistes wurde in hiesiger evangelischer Kirche zu St. Margarethen getauft und in den Christenbund aufgenommen. Es folgt der Name: Willi Karl Och, geboren am 22. Januar 1903. Der Tag der Taufe ist der 12. August 1903.

Die Margarethenkirche. Niemals habe ich sie mit meinem Vater in Verbindung gebracht. Ich entsinne mich an rauchende Trümmer, schwarze Ruinen; es sind die ersten Kriegsschäden, die ich als Kind erlebe. Bomben hatten bei einem Fliegerangriff 1944 die nebenstehenden Häuser zerstört und auch Turm und Kirchenschiff in Mitleidenschaft gezogen.

Ich selbst habe diese Kirche nach dem Kirchenaustritt meiner Mutter nie betreten. Auch als junge Frau nicht. War ich jemals mit meinen Söhnen bei unseren Stadtwanderungen hier? Ich entsinne mich nicht.

Aber lebhaft steht mir ein Orgelkonzert vor Augen. Es muß 2009 gewesen sein, an einem freien Abend nach einer Lesung. Es ist der längste Tag des Jahres, die Kirche ist nicht gut besucht, der junge Pfarrer lädt nach dem Konzert die Anwesenden zum Johannisfeuer zu sich ein. Ich kenne nicht einen einzigen Menschen, schließe mich aber, für mich selbst überraschend, den in Richtung Pastorengarten Strebenden an. Dort lodert das Johannisfeuer bereits.

Mit einem hellen Schrei stürzt eine Frau auf mich zu, es ist meine Banknachbarin aus der Oberschulzeit. Theologie hat sie studiert, war als Pastorin in Dörfern in der Umgebung Gothas tätig, jetzt ist sie Rentnerin, wohnt in Gotha neben dem Cranach-Haus am oberen Hauptmarkt. 1959, genau vor einem halben Jahrhundert, haben wir uns das letzte Mal gesehen. Wir sitzen am Feuer, essen, trinken Wein, reden. Ich erinnere sie, wie sie mich einmal – wir waren siebzehn – mit in die Augustinerkirche zur h-Moll-Messe von Bach nahm und fast trunken von dem Tenor schwärmte, es war mehr als die Schönheit seiner Stimme, die es ihr angetan hatte. Sie lacht, sie habe ihn nicht aus den Augen verloren, auch er studierte Theologie, er wurde ihr Ehemann. Er sei früh an einer heimtückischen Krankheit gestorben, sie habe ihre drei Kinder allein aufziehen müssen. Die Gelassenheit, Heiterkeit und Dankbarkeit, mit der sie über ihr Leben, selbst über Krankheiten redet, beeindrucken mich.

Das Feuer brennt nieder. Wir sind fast die letzten, ich bedanke mich für die Gastfreundlichkeit bei Pfarrer Hundertmark und seiner jungen Frau, wir verabschieden uns.

Ein andermal, entsinne ich mich, komme ich in die Margarethenkirche, Kinder proben ein Krippenspiel, ich will mich zurückziehen, aber Pfarrer Hundertmark sieht mich, winkt mir, zu bleiben.

Maria ist eine kleine Schönheit mit brennend schwarzen Augen. Josef sitzt gelangweilt an ihrer Seite. Die Choreographie des Einzugs der Schafe wird gerade geprobt; die Schafe: mit hellen Stoffen drapierte Kinder. Neben mir auf der Kirchenbank sitzt ein stämmiger schwarzhäutiger Junge. Er würde einen wunderbaren Weisen aus dem Morgenland abgeben, denke ich und flüstere es ihm zu. Er lächelt, er hätte gern mitgespielt, sein Blick geht zu den schwarzen Augen, aber nur den Josef, erwidert er flüsternd. In den Weihnachtstagen aber verreise er mit seinen Eltern. Dann fügt er halblaut ein Wort hinzu, das aus dem Kindermund und an diesem Ort kurios klingt: Es sei eine Terminüberschneidung, sagt er, da könne man nichts machen.

Nun die Überraschung, mein Vater ist in dieser Kirche getauft worden. Und beim weiteren Durchstöbern der Unterlagen erfahre ich, nicht nur er, sondern ebenfalls sein Vater wie auch sein Großvater und die Eltern seiner Mutter. Ich kann es den beglaubigten Auszügen aus den Kirchenregistern entnehmen, die in der Zeit des Nationalsozialismus zum Nachweis der arischen Abstammung von jeder Familie zu erbringen waren. Bis 1763 gehen die Einträge zurück; immer steht da Sankt Margarethen. (Einige Vorfahren aber gehören zur Gemeinde der Augustinerkirche; Sankt Augustin lese ich und die Jahreszahl 1748.) In der Margarethenkirche treten meine Eltern am 16. Mai 1936 vor den Traualtar.

Und ich? Ich frage meine drei Jahre ältere Schwester, sie erinnert sich, daß auch ich in dieser Kirche getauft worden sei.

Fortan sehe ich die Margarethenkirche mit anderen Augen. Bei meinem nächsten Gotha-Aufenthalt gehe ich die Marktstraße entlang auf den Neumarkt zu. Bleibe bei dem neugeschaffenen Wasserspiel stehen. Stufenförmig über weite Flächen rinnt das Naß. Eine Anspielung auf das, was sich einst hier befand, frage ich mich. Ein Zitat? Als der Leinakanal und die von ihm abgehenden kleinen Rinnen noch unverdeckt durch Gotha flossen, befand sich unmittelbar vor der Margarethenkirche wie auch am unteren Hauptmarkt eine Wasserstelle, eine sogenannte Schwemme. Bei Feuerausbruch war hier Löschwasser zu schöpfen, und die Fuhrleute ließen darin die hölzernen Räder ihrer Wagen aufquellen. Vielleicht war es auch ein begehrter Spielplatz für Kinder. Auch jetzt balancieren einige Halbwüchsige darüber.

Ich wende mich zu dem barocken Kirchenportal aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Auf den Podesten in der Gewandung – später hinzugefügt – stehen überlebensgroß Martin Luther und Philipp Melanchthon. Warum nicht Friedrich Myconius, der als Reformator in Gotha gewirkt und so viel für die Stadt getan hat? Die im Jahr 1064 erstmals urkundlich erwähnte Sankt Margarethen war einst eine spätromanische Basilika mit zwei Türmen. Ende des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts wird sie zu einer gotischen Hallenkirche umgebaut. Der Meister war ein unerfahrner Mann, berichtet Myconius, er grub das Fundament so tief und weit, daß er alle alten Leichenstein und noch Stein von zweien großen alten Thürmen ins Fundament leget, daß er sonderlich mitten innen gar nicht bedurft hätte.

Chor und Turm wachsen. Neben dem Thurmthore die Inschrift Anno Domini 1507 Dominica Jubilate. Wie hoch der Turm wuchs, ist nicht bekannt. Immer wieder ruht der Bau. Als 1552 Kurfürst Johann Friedrich I. den Grimmenstein zur Festung ausbaut und die Marienkirche niederreißt, beantragt der Rat der Stadt, die Steine für den Turm der Margarethenkirche verwenden zu dürfen. So geschieht es. Es hat dieser Bau am Thurm sonderlich viel Unglücks gehabt von trunkenen, ungeschickten und unfleißigen Werkmeistern, die groß Unkost machten und wenig ausrichteten … 1575 erhält der Turm die erste Glocke, sie zerspringt. 1632 und 1646 dann zwei verheerende Brände; beim ersten beträgt das geschmolzene Glockenerz 119 Zentner, auch beim zweiten werden die Glocken vernichtet, aus den Resten wird die nunmehr größte Glocke gegossen. Bei jenem Orgelkonzert, das ich besuchte, läuteten die Glocken, aber ich erinnere mich nicht an ihren Klang.

Aber jene vom Philosophen Lichtenberg überlieferte Geschichte fällt mir ein. 1784 erhalten Turm und Kirchendach einen Blitzableiter. Eine ungewöhnliche Neuerung für diese Zeit. Entworfen und konstruiert hat ihn der fast fünf Jahrzehnte in Gotha im Staatsdienst wirkende Physiker Ludwig Christian Lichtenberg, ein Bruder des berühmten Philosophen. 1774 erscheint bei Ettinger in Gotha sein Buch über Gewitter und Blitzableiter. Die Skepsis der Gothaer scheint groß gewesen zu sein. Darüber berichtet Georg Christoph Lichtenberg am 5. Juni 1780 aus Göttingen einem Freund: In Gotha hat gestern vor acht Tagen das Donnerwetter in ein Gebäude eingeschlagen, von dem, in einer Entfernung von 50 Schritten, mein Bruder einen Ableiter anbringen soll, zum Glück ist es noch nicht geschehen gewesen, sonst hätten, wie er glaubt, alle alten Weiber nebst der Geistlichkeit gedacht, er hätte den Blitz angelockt.

Ich trete noch einmal zurück, bis ich den Turm vollständig im Auge habe. 1774 erhält der Turmknopf sein Gold. 1856 wird ihm eine Wetterfahne aufgesetzt, er wird aufs neue vergoldet. Ich stelle mir die Wohnung des Türmers vor, der, wie der Vater mir erzählte, bis Ende des 19. Jahrhunderts dort oben lebte, mit Horn und Feuerfahne der Stadt die Brände anzeigte.

Das gotische Portal ist geschlossen. Ich wende mich zum Seiteneingang, drücke die Klinke. Die Tür öffnet sich. Die hohen Säulen in schlichtem Weiß; die Farbe, die dem Raum seine Weite gibt. Ich setze mich an genau den Platz, wo bei der Probe zum Krippenspiel vor Jahren der stämmige schwarzhäutige Junge gesessen hat. Ich bin die einzige Besucherin. Stille umgibt mich. Mein Blick geht zur Kanzel und in den Altarraum.

Dort steht der Taufstein mit der kupfernen Wasserschale. Drei Engel, die sich auf die Knie niedergelassen haben, stützen mit jeweils einer erhobenen Hand das auf ihren Flügeln ruhende Taufbecken. In der anderen Hand hält der eine Engel ein Buch, ein zweiter einen Kelch, dem dritten, sehe ich, ist das, was er einstmals trug, abgebrochen. Sind die Engel aus Stein? Aus Holz geschnitzt und vergoldet sind sie, lese ich. Und daß Salomon Glassius 1652 am Sonntag Quasimodogeniti in seiner Einweihungspredigt den gegenwärtigen neuen Taufstein erstmalig erwähnt und den damals am Rande desselben stehenden Spruch 1 Joh. 5,7–8: Denn drey sind die da zeugen auff Erden / ​Der Geist vnd das Wasser vnd das Blut / ​vnd die drey sind beysamen. 

Wie viele Generationen haben hier gesessen, in Gottesdiensten oder zu besonderen Anlässen, zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Trauerfeiern, in Angst und Freude. Mir will es nicht gelingen, meinen Vater und noch weniger mich selbst damit in Verbindung zu bringen.

Die Gruft kommt mir in den Sinn, die sich unter meinen Füßen befinden muß, errichtet für Herzog Ernst den Frommen und seine Familie. Er lebte nach der Maxime bete und arbeite und forderte gleiches von seinen Untertanen. Sein Tod am 26. März 1675. Er, der zeitlebens für eine spartanische Lebensweise war, wird mit barockem Prunk zu Grabe getragen. Man bahrt seinen Leichnam in der Schloßkirche auf. Am 28. Mai dann wird der Tote in einen kunstvoll verzierte(n) Zinksarg gebettet. Tage später, am 4. Juni, bewegt sich der Leichenkondukt nach festen Vorgaben barocker Kultur, als Ausdruck landesherrlicher Selbstdarstellung, vom Schloß hinab auf Sankt Margarethen zu. Eine alte Abbildung zeigt es: Der Wagen mit dem Sarg, gezogen von acht mit schwarzen Tüchern behangenen Pferden. Ihm folgen zu Fuß in langer Reihe die Trauernden, in schwarze Umhänge gehüllt, die Köpfe mit breitkrempigen schwarzen Hüten bedeckt.

Ich in meiner Kirchenbank. Auf einmal höre ich Stimmen, das Portal öffnet sich, ich wende mich um, die Trauernden in ihren schwarzen Gewändern ziehen ein, hoch über ihnen schwebt der Sarg mit dem Toten. Gesang, Gebete zunächst im Kirchenschiff, dann dumpf, entfernt im Inneren der Gruft. Nach einer Zeit schließlich nach und nach verhallende Schritte im Kirchenraum, dann wird das Portal geschlossen. Ich bin wieder allein.

Wie mag es heute in der Krypta aussehen, frage ich mich. Ich weiß, auch die Gemahlin Ernsts des Frommen und neun seiner Kinder haben dort unten ihren Platz gefunden.

Und fast hundert Jahre später, am 25. Oktober 1767, abends 9 Uhr, wird der Leichnam der Herzogin Luise Dorothea ohne alles Gepränge in möglichster Kürze und Stille in der Margarethenkirche zu den Füßen des Herzogs Ernst und seiner Gemahlin zur Erde bestattet, wie sie es gewünscht hatte.

Diese mit siebenundfünfzig Jahren verstorbene Luise Dorothea ist die mit Abstand bedeutendste Fürstin des Hauses Sachsen-Gotha-Altenburg. Gebildet und feinsinnig vertritt sie die Ideen der Aufklärung, steht mit deren deutschen und europäischen Vertretern in Briefwechsel, u. a. mit Voltaire, Rousseau und Diderot. Voltaire schwärmt von ihr, sieht sie als deutsche Minerva, er besucht sie in Gotha, weilt einige Zeit am Hof.

Luise Dorotheas Einfluß auf die Politik ihres regierenden Gatten Friedrich III. ist groß. Auch ihre Kinder (von neun überleben sie drei) erzieht sie im Sinne der Aufklärung, was dem Land in Gestalt des späteren Regenten Ernst II. und seines Bruders Prinz August zugute kommt.

Noch immer umgibt mich Stille in der Kirche. Ich stehe auf, verlasse meine Bank, gehe langsam zur Nordwand im Altarraum, betrachte das Epitaph aus farbigem Marmor. Eine Huldigung für Ernst den Frommen; der Enkel hat es 1729 für seinen Großvater errichtet.

Erst bei einem späteren Besuch in der Margarethenkirche gelingt es mir, umriß- und schemenhaft den Vater zu sehen, als Täufling, als Konfirmand, als Hochzeiter.

Und mich sehe ich. In den nachgelassenen Familienpapieren habe ich auch meinen Taufschein gefunden. Am 27. März 1941 bin ich getauft, mit knapp vier Monaten.

Mein Taufkleidchen kommt mir vor Augen. Eingeschlagen in ein Seidentuch wurde es von mir all die Jahre im kleinen Salonschrank meiner Großmutter aufbewahrt. Ein Gebilde aus feinem, weißem Batist mit Flügelärmeln, bestickt mit rosa Blütenranken. Im Sommer 2016 schenke ich es Schwiegertochter und Sohn für ihr am 19. März geborenes Töchterchen Lieselotte. Am 1. Oktober 2016 wird sie in Oberösterreich, in der Heimat meiner Schwiegertochter, in die Christengemeinschaft aufgenommen. Sie trägt mein Taufkleidchen. Der katholische Pfarrer läßt uns wissen, wir, die nicht in der Kirche sind, könnten einen Spruch für den Täufling aussuchen, er brauche nicht aus der Bibel zu sein. Und so wählen mein Gefährte und ich einen Spruch von Johann Wolfgang Goethe, der das kleine Menschlein auf seinem Lebensweg begleiten soll.

Mein eigener Taufspruch ist vom Propheten Jesaja und lautet: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. – Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen … Ein eigenartiges Gefühl, wenn man seinen Taufspruch mit über siebzig erstmals liest. Ich erzählte es am Telefon meiner Freundin Christine. Siehst du, du bist doch ein getauftes Christenkind, sagt sie, und solltest dich nicht immer Atheist nennen. Aber das bin ich wohl, wenngleich für mich schon als Kind und auch später die Natur ein religiöser Raum war: Steine, Bäume, das Meer, der Himmel. Und schon zu Zeiten, als mich die sozialistische Ideologie noch fest im Griff hatte, war ich fasziniert von Goethes Pantheismus und Schellings Naturphilosophie.

Kirchenräume waren und sind für mich nicht Orte des Gebets, sondern Orte der Ruhe, des Einhaltens, der Kunstwerke, der zu bewundernden Architektur, Orte der Musik. Die allererste Erfahrung mit dem Großvater mütterlicherseits in Erfurt – war es die Barfüßerkirche? –, der hohe Raum, die Orgel, der Gesang, unvergeßlich. Mit dem Großvater im Erfurter Dom. Später dann, als ich in einem Dorf in der Nähe von Güstrow lebte, in dieser Unglücks- und Einsamkeitszeit, waren Dom und Barlach-Engel mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz mein Zufluchtsort. Und 1987 der rosafarbene Dom und das Baptisterium in Parma, wo mir die Idee zu meinen Roman »Ich bin nicht Ottilie« kam, die wunderbare Sixtinische Kapelle in Rom, tränenüberströmt stand ich vor dieser Herrlichkeit; gegen Ende des Jahres dann das Erlebnis des Straßburger Münsters.

Noch später, nach dem Anschluß 1990, Kirchen in Portugal, Norwegen und Schweden, in Südamerika, in Cartagena, Kolumbien, und in Afrika, in Dakar im Senegal, in Japan die buddhistischen Tempel und Shintō-Schreine.

Schließlich eine kleine Kirche in Eis und Schnee an der Westküste Grönlands, im Ort Narsagg. Eines der wenigen Male, daß ich an einem Gottesdienst teilnahm, zusammen mit meinem Enkelkind Noah und meinem Sohn Joachim; das Vaterunser … auf deutsch und auf grönländisch, jener eskimo-aleutischen Sprache, die mit der der Inuit verwandt ist und im Westgrönländischen, der größten Sprachgruppe, Kalaallisut genannt wird.

Dann Orgelkonzerte in Mecklenburg, in Basedow die wunderbare petrinische Orgel, in der Dorfkirche von Ahrenshoop das neue, von der Dresdner Orgelbaufirma Kristian Wegscheider gebaute Instrument.