Impressum

Harry Schmidt

Eulenort

Aus dem unglaublichen Leben des Rudi Kleineich oder Glückssuche in einer harten Zeit

 

ISBN 978-3-95655-877-1 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-876-4 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Fotos: Harry Schmidt

 

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April 45 – Zukunftsaussichten

Bluterkrankheit (Blutsucht): eigentümliche Krankheitsanlage, welche darin besteht, dass auf die geringste Veranlassung ungewöhnlich lange und hartnäckige Blutungen eintreten, so dass sonst ganz unerhebliche und oberflächliche Verletzungen einen Blutverlust herbeiführen, der bis zur Lebensgefahr andauert und fast allen Mitteln trotzt. Ein kleiner Stich, das Ausziehen eines Zahns, namentlich gerissene Wunden, bluten unaufhaltsam, und Verletzungen am Kopf, an den Lippen, an den Fingerspitzen scheinen besonders gefährlich zu sein … Das Blut kann auch im Innern der Gewebe auftreten, so dass eine Menge durch alle Organe des Körpers verstreute Blutflecke erscheinen. In der Regel sind solche Blutaustretungen Folge leichter äußerer Einwirkungen, und es sind Fälle bekannt, wo ein längerer Druck eines Teils, z.B. des Gesäßes beim Sitzen, blaue Flecke hinterließ. In der Regel ist die B. angeboren und vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht, so dass oft ganze Familien daran leiden. Es sollen jedoch vorzugsweise die männlichen Glieder der Familien dazu disponiert sein. Im höheren Lebensalter verliert sich allmählich die Neigung zu derselben. Im allgemeinen besteht die Befürchtung, dass die mit der B. Behafteten kein hohes Alter erreichen; die meisten Bluter sterben schon als Kinder an Verblutung …

Die Behandlung der Blutung richtet sich auf das Fernhalten aufregender Affekte, Vermeidung schwerer Getränke, Sorge für geregelte, leichte Diät; kühlende Mittel, wie Weinsteinsäure, Tamarinden und leicht abführende Salze, namentlich Glaubersalz und Bittersalz, wirken sehr wohltätig.

(Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig 1886)

 

Jungimker Rudi – das einzige Kind des Leutevogts Emil Kleineich und seiner Frau Ida – nimmt ein Blatt vom Stapel vergilbter „Stürmer“-Zeitungen, faltet es, legt es als Lesezeichen zwischen die Seiten und schiebt den Band drei (von Blattkäfer bis Chimbote) behutsam zurück in die dritte Position des siebzehnbändigen Lexikons. Er streicht mit dem Zeigefinger andächtig über die Buchrücken, goldene Prägung, kostbar schimmernd im Dämmern des Bienenschuppens. Er wird sich ein langes Regal bauen müssen. Er kann sein Raubgut ja nicht jedes Mal wegräumen, wenn er an die Kästen will, auch wenn die meisten zurzeit leer stehen. Den Text, der von der Bluterkrankheit handelt, hat er bereits auf der Rückfahrt vom Schloss studiert. Dazu das Fahrrad mit hoch beladenem Anhänger aus dem Landweg geschoben, der neben den Schienen herläuft. Und die beiden Hunde vor den Büschen am Feldrand postiert. Versteckt hinter Weißdorn mit Blütenschimmer konnte er in Ruhe blättern und lesen. Es blieb jedoch bei dem einen Satz. Im höheren Lebensalter verliere sich die Neigung, schreiben sie. Nur, wann es anfangen soll, dieses höhere Alter, dazu äußern sie sich leider nicht. Mit vierzig Jahren vielleicht oder erst mit fünfzig? (Sein Vater ist achtundvierzig un noch gaut tauwech, wie man so sagt.) – Trotzdem, wenn gelehrte Leute im vergangenen Jahrhundert bereits versicherten, dass man nicht jung sterben muss, dass es eine Hoffnung gibt! Professoren der Medizin bestimmt und nicht solche Schmierfritzen wie die von dem Revolverblatt, das im Kasten hängt. Wo ja – seit Rudi lesen kann – so rumgegeifert, übertrieben und gelogen wird, dass es nicht auszuhalten ist: Die Juden sind unser Unglück, und Bolschewisten haben ein blutiges Messer im Maul. Dieser Fips mit seinen Teufelsfratzen – einfach primitiv! Und auch jetzt nehmen sie nichts zurück. Geben nicht zu, dass alles Lüge war. Dass sie EINGESCHISSEN haben mit ihren Parolen vom Durchhalten und vom Endsieg. Die Schweinebande stellt sich einfach tot. Ihre letzte Nummer kam Mitte Februar und hängt immer noch im „Stürmer“-Kasten.

Rudi schüttelt sich, dass ihm gleich mehrere Strähnen ins Gesicht rutschen. Er hat die schwarzen, widerborstigen Haare seines Vaters geerbt. Und mit seinen 25 Jahren schon eine tiefe Furche zwischen den Brauen. Eine Kerbe, die nicht mehr weggeht. Wer immer strebend sich bemüht! – Ja, er wird sich noch mehr BEMÜHEN. Zäh wie Affenleder und hart wie Kruppstahl – aus eigenem Interesse schon. Daran soll´s bei ihm nicht scheitern, auch wenn sie ihn wie Dreck behandelt haben während der Musterung. Onkel Wilhelm war´s nicht; ist nicht mal vierzig geworden, der arme Mensch. Lag mit Nierenbluten im Bett und wurde zusehends schwächer und verwirrter im Kopf. Ist hier im Haus elend verröchelt, während in den Linden die Käuze schrieen. Unlängst erst. Damals im Januar, als die Wehrmacht in heldenhaften Abwehrkämpfen an der Weichsel stand. Der Onkel war schlechtweg zu weich, zu DÜSIG, nicht beharrlich genug. War genau solch ein Schaf wie sein Alter, der ewige Gehilfe des Schäfermeisters in Wohsien. Wenn der wenigstens einen Krankenwagen besorgt hätte! Stattdessen stand er – garantiert wie´s schlechte Gewissen in Person – vor dem Weißen Haus und traute sich nicht rein. Weil´s ja verboten war, den Herrn Inspektor ungefragt zu behelligen. Ließ sich irgendwann von der Mamsell zurückschicken zu seinen Muttertieren, die gerade am Lammen waren. Wer weiß, wann Inspektor Krüger sich doch noch die Zeit nahm und beim Menschendoktor in Sülze anrief. Jedenfalls war es zu spät. Oma Ur kam kopflos in den Schafstall gerannt. „Uns Willem! Uns Willem antwuurt nich mihr!(Unser Wilhelm antwortet nicht mehr!)

Rudi erfuhr es erst zwei Tage später. Er hatte zur gleichen Zeit in seiner Bodenkammer gelegen und geschrien vor Schmerzen. Neben sich einen Eimer mit Essigwasser und mehrere Lappen, über der Stuhllehne ein Handtuch. Schweißnass im Gesicht und am ganzen Oberkörper. Und das trotz der Frostluft, gegen die der eiserne Ofen nicht ankam mit seinem kleinen Feuerraum. Mutter Ida – von allen WEISSE genannt – stahl sich zu den Mahlzeiten die Treppe hoch und brachte ihm Tee und Leberwurststullen. „Ik kann em uk nich helpen“ (Ich kann ihm auch nicht helfen), rief sie jedes Mal nach unten in den kalten, nach Kuhstall dunstenden Flur. Obwohl dort keiner war, der sie hören konnte.

Dass Rudi ebenfalls flachlag, war schon mehr als ein böser Zufall. Er brauchte all seine Kraft, sich zu wehren gegen den Feind, der sich im eigenen Oberschenkel eingegraben hatte. Der dort an den Nervensträngen zog, bis die Gedanken nur noch ein heißer Brei waren. Nachts vermischte sich der Schmerz mit dem Wechselruf der Eulen. Immer wieder ihr gedehntes, so unheilvoll klingendes „Hu-huu“. Und als Antwort ein schartig scharfes „Kuwitt – komm mit!“. Beklemmend nahe, die Luft durchschneidend von einem Ende des Dorfes zum anderen. – Eine zusätzliche Quälerei und eine stundenlange Attacke gegen die Vernunft: Bestimmt das ganz normale Balz-Gehabe dieser Vögel! Aber derart früh, im Winter schon? Ende Januar, während der Russe an der Weichsel stand? Rudi musste an die vielen Gefallenen in ihren Schützengräben denken. Musste sich – sobald der Schmerz im Bein es zuließ – wieder und wieder sagen, dass der kleine Kauz den Tod nicht bringen, ihn allenfalls melden könne. Vielleicht hatte der dafür ja ein besonderes Organ, einen siebenten Sinn. Wusste man das so genau?

Irgendwann kam Emil Kleineich in die Kammer gepoltert. Stand mit hängenden Affenarmen am Fußende des Bettes. Dien Unkel is nu uk nich mihr. (Dein Onkel ist nun auch nicht mehr) Als Rudi es das erste Mal schafft, sich mit dem Krückstock nach unten zu hangeln, ruht Onkel Wilhelm bereits im Kiefernsarg.

Er blickt durch das angekippte Bienenhausfenster hinaus in den Garten. Die Abendsonne ist längst hinter der Hecke verschwunden, hat nur noch ein paar rötliche Finger zwischen den jungen, erst halb geöffneten Blättern. Im Schatten akkurat bestellte Gemüsebeete. Die Kartoffeln bereits angehäufelt. Der alte Schäfergehilfe betäubt sich mit Arbeit. Ur sagt, sie müsse ihn abends reinholen. Sonst krieche er die Nacht hindurch zwischen seinen Beeten herum.

Ach, Rudi muss das endlich WEGSCHIEBEN, muss das Leben nehmen wie es nun mal ist! Seit Beginn des Krieges hat ihm die Krankheit ja auch Vorteile gebracht: Als einzigen im wehrfähigen Alter haben sie ihn nicht eingezogen. Konnten es wohl nicht. Das gab viel Missgunst, viel dämliches Gerede. Vor allem vom Nachtwächter Donner, der inzwischen den dritten seiner drei Söhne verloren hat. So war das mit der Gerechtigkeit auf Erden. Während die anderen über die Schlachtfelder robbten, dort vertierten und verbluteten (ja VERTIERTEN, das weiß er aus sicherer Quelle), konnte er sich zu Hause mit friedlichen Dingen befassen, sich einen Bienenschauer zusammenbauen. Mit Rohr gedeckt, Klappfenster über der Reihe der Beuten. Genauso einen schmucken Schuppen, wie der Onkel ihn hatte. Und sich dabei noch allerhand Finessen abgucken bei ihm. Und damit auch noch gutes Geld verdienen. Jedenfalls mehr als sein Vater gelöhnt bekommt. Der ja Leutevogt ist, also im Dorf zwischen den Parteien steht und dauernd Ärger hat.

Der Tag begann damit, dass der Brüllkasten klingelte. Der Oll stürzte an den Apparat. Jawohl, Herr Petow. Werde ich ihm ausrichten. Er guckte seinen Sohn aus plierigen Augen an. Etwas erstaunt, als könne er sich keinen rechten Reim machen aus diesem Anruf. Dei Föster! Du sost ierst bi em förbikamen, sächt hei. (Der Förster. Du sollst zunächst bei ihm vorbeikommen, sagt er.)

Rudi nahm das Stullenpaket vom Tisch, legte es zur Thermoskanne in den ausrangierten Schultornister und nickte andeutungsweise.

Häst hürt? (Hast du gehört?)“, vergewisserte sich sein Vater eher besorgt als gereizt.

Jo doch. Rudi verzog das Gesicht. Mit den Ohren hatte er´s noch nicht.

Dann schrillte es erneut aus dem offenen Kasten an der Küchenwand. Der Oll sagte immer nur Jawull“. Doch so, als könne er seine wachsende Verwunderung kaum verbergen. Zögernd hängte er den Hörer zurück. Da wäre etwas im Busch. Die müssten alle ins Schloss. Die Herren Inspektoren und ihre Adjutanten, Förster Petow auch. Er bekam sein unbewegliches, wie ein Topfboden glänzendes Gesicht. Ein Wunder, dass sie ihn nicht gerufen hätten.

Die Weiße am Herd hatte sich umgedreht. Wischte sich die Hände an der sackleinenen Schürze ab. Fragte, ob sie nicht Kartoffeln legen sollten, heute.

Dörbi blifft uk, sächt hei. (Dabei bleibt es auch, sagt er.) Und wenn die ganze Welt in Scherben fällt, habe er noch hinzugefügt, der liebe Herr Inspektor.

Rudi strich seinem großen, freudig wedelnden Hund über den Kopf. Holte sich das Fahrrad aus dem Schuppen.

 

Er stieg die Stufen hoch zur zweiflügeligen Tür des Forsthauses. Das machte er von Anfang an so. Schon an dem Februartag, an dem er die Anstellung seines Onkels – der selbstverständlich den Diensteingang benutzte – quasi von ihm erbte, hat er vorne geklingelt. Und jedes Mal bewunderte er die hölzernen Ranken längs der Ortgänge und Traufen: So schnitzen können! Aus Förster Petow wurde er nicht recht schlau. Ein kleiner, sich straff haltender Mann. Mit einem Bart wie zu Kaisers Zeiten und wrukiger Schafsnase. Die Backen gerötet, als neige er zum Aufbrausen, beherrsche sich aber. Wortlos hatte der ihn empfangen und in sein dunkel getäfeltes Arbeitszimmer geführt. Hatte sich dort nicht gesetzt, sondern war neben ihm stehen geblieben. Beinahe so, als säße hinter dem schweren Schreibtisch bereits jemand. Eine unsichtbare Instanz, eine Art Richter für sie beide. Vielleicht ja auch, dass er gegen seinen Willen beeindruckt war von der Courage eines Tagelöhnersohnes. Zum Tod des Onkels kein Wort. Wie lange Rudi schon imkere, wollte er wissen. Wo er sich die nötigen Kenntnisse angeeignet habe. Aus Büchern oder durch zugucken? Der Forstmann schien wirklich ein ungeduldiger Mensch zu sein. Die Haut im Gesicht pulste beängstigend.

Das meiste durchs Mitmachen, antwortete Rudi wahrheitsgemäß.

Der Förster blickte ihn lauernd an. Und was, wenn er ausfalle während der Schwarmzeit, während des Schleuderns? Mitten in der Honigernte?

Bluter Kleineichs große, etwas vorstehende Pupillen – gleichfalls von seiner Mutter geerbt – wurden riesig und zwingend. Erzeugten eine wilde Überzeugungskraft. Machten die Schwindelei zur Wahrheit: Ausgeschlossen! Im Sommer, in der ERNTEZEIT sei er noch nie krank geworden.

Na, wer das glaubt! antwortete der Förster kurz und trocken. Doch dann nannte er den Lohn und die Anzahl der zu betreuenden Völker. Rudi hatte den Job.

Heute empfing ihn ein anderes Klima. Er merkte gleich, dass sein Dienstherr noch nicht zurück war. Spürte es schon daran, wie die Tür sich öffnete. Auf den Fliesen des Fußbodens – verlegt in kunstvollen Ringen – wippte ein Mädchen, als käme es vom Ballett. Ein Backfisch noch, höchstens sechzehn Jahre alt. Die jüngere Tochter wohl. Ihn nicht ohne Neugierde musternd, als wäre er eine willkommene Abwechslung oder auch Ablenkung. Die Haare aufgesteckt über einem hellen, etwas hochmütigen Gesicht.

Er sei der Bienenmann, sagte Rudi ruhig, er solle zum Herrn Förster kommen.

Da müsse er noch einen Moment warten, antwortete sie, ihn unbefangen duzend. Dabei schwenkte sie herum in ihrem Küchenkleid, als wolle sie sich von allen Seiten präsentieren.

Er musste sofort an Pfefferminze denken. Und außerdem feststellen, dass diese Förstertochter so rank und schlank wie keines der Dorfmädchen war. Auch Christel wirkte rundlicher, obwohl ihre Familie – untergebracht in der Flüchtlingsscheune – doch bannig knapp zu beißen hatte.

Die schmalen Mädchenlippen wurden ironisch. Zum ZWANGSVERWALTER beordert. Wird ihnen wohl erklären, dass er dienstlich fort muss, standepeh, mit fliegenden Hufen. Dass er aber jetzt erst recht auf ihre Zuverlässigkeit und Diensttreue zähle. – Jawohl, Herr Hauptmann!

Rudi griente mechanisch, während die niedergehaltene Sorge in ihm anschwoll zum Sturmläuten: War es schon SO weit?

Die Tochter des Försters zeigte auf die Standuhr unter dem Geweih eines Achtzehnenders: Gleich Nachrichtenzeit, und der Strom sei auch noch da. Sie müsse erst wissen, ob ihr Gymnasium noch stehe. Ohne seine Antwort abzuwarten, lief sie ins weit geöffnete Wohnzimmer. Hin zu einer dunklen, mit Schnitzereien versehenen Kommode, auf der ein Rundfunkempfänger thronte. Wartete, ungeduldig knicksend, bis das Magische Auge aufleuchtete. Drehte routiniert am Senderknopf.

Genau zum rechten Moment: Vier machtvolle, etwas blechern klingende Paukenschläge. (Rudi hat mal davon gehört. Ausgerechnet von Albert, dem Soldaten an der Ostfront, den nichts mehr beeindrucken und einschüchtern konnte.) Ein Feindsender! DER Feindsender überhaupt. Die berühmten Schläge des Schicksals. – Wenn man Pech hatte, erwischten sie einen bereits nur, weil man sie hörte. Dass würde Rudi nie riskieren. Vorausgesetzt, er hätte so einen Apparat. Er war derart verwirrt, dass er gar nicht richtig mitbekam, was der Sprecher durch Rauschen und Pfeifen hindurch in akzentfreiem Deutsch verlas. Er blickte immer wieder sorgenvoll zur Eingangstür. Musterte zwischendurch – ohne hineinzugehen – das sonnenhelle Wohnzimmer, das so groß war wie zu Hause Stube, Küche und Schlafkammer zusammen.

Traust dich wohl nicht?“, stellte die Förstertochter mehrdeutig fest. Sie drehte den Senderwähler zurück auf eine Stelle, an der es nur rauschte. Und schaltete den Apparat aus. Hast gehört, der Russe steht direkt vor Greifswald?

Rudi nickte beklommen. Ja, manchmal war schon so ein dumpfer Ton in der Luft, so ein Grollen, mehr ein Gefühl in den Fingerspitzen als ein deutlicher Laut. Aber darüber konnte er mit diesem jungen, leichtsinnigen Ding doch nicht reden!

Sie schien misstrauisch zu werden. Ihre Wangen bekamen einen Hauch Rot. Mit beiden Händen griff sie nach einer gabelförmigen Rehstange, die auf dem Radio lag und ein Schild hielt. Hast doch gute Augen, nicht?

Er furchte die Stirn. Wer Feindsender abhöre, könne mit dem Tode bestraft werden, war auf der Kupferplatte eingraviert.

Das Mädchen blickte ihn herausfordernd an. Mit gegangen, mit gehangen, mein Lieber!

Na hör mal!“, entrüstete er sich, sie jetzt ebenfalls duzend. Dann fragte er schnell, wo sie denn zur Höheren Schule gehe.

Sie schien doch sehr erleichtert zu sein. Lehnte sich mit einem Ellenbogen auf den Schrank, auf dem das Radio thronte und erzählte voller Stolz vom Hansagymnasium in Stralsund: Ein riesiger, dreigeschossiger Backsteinbau mit Treppentürmen und einem noch viel höheren Aussichtsturm. Die Straßenfront fast so lang wie das Randower Schloss. Mit einer Etage, in der alle Fensterbögen rund und einer, in der sie alle spitz seien. Und nur hundert Schritt entfernt vom Wasser. Doch er kenne die Stadt mit dem schönsten Rathaus Pommerns vielleicht gar nicht – so genau? Die schmalen Lippen bekamen Winkel, die nach oben zeigten.

Da musste Rudi aber widersprechen. Auf dem Alten Markt verkaufe er doch seit Jahren seinen Honig. Genau vor der Prachtfassade mit den vielen Türmchen und kreisrunden Fenstern habe er seinen Stand, dienstags und freitags. Nach dem schweren Bombenangriff im Oktober sei es allerdings schwierig geworden, überhaupt hinzukommen.

Eine zornige Handbewegung, als wollte ihn die Förstertochter daran hindern, weiterzureden. Entsetzlich, diese angloamerikanischen Terrorflieger, Ausgeburten der Hölle, für die es gar keine angemessene Strafe gebe! Da habe der Goebbels schon Recht. In der Straße, in der sie bis zur Auslagerung der Schule wohnte, hätten die meisten Häuser nur noch Giebelwände mit leeren, rußschwarzen Öffnungen. Ihre ehemalige Vermieterin sei verschüttet worden, so wie viele andere Stralsunder und seitdem verwirrt im Kopf. Könne auch nicht mehr sprechen.

IHR wurdet rechtzeitig ausgelagert?

Sie lächelte mit hellen, feuchten Augen. Ja, ein gnädiges Schicksal wohl. Gegen den Willen der Partei – munkelte man.

Er starrte auf ihren Leib oberhalb des Gürtels. So lilienschlank, so minzegrün! Und plötzlich war ihm, als bildeten sich winzige, dunkle Flecke im Stoff. Stecknadelgroß zunächst, aber sich stoßartig ausbreitend. Zusammen fließend zu einer Nässe, die aussah wie Blut. – Hatte er schon Gesichte? Nein, das führte entschieden zu weit! Er guckte auf das Ziffernblatt der Standuhr. Fragte schnell, ob sie denn gar keine Ahnung habe, was ihr Vater von ihm wolle. Eigentlich müsse er nämlich zu den Bienen. Die Stachelbeeren blühten bereits.

Bevor sie antworten konnte, wurde die Haustür aufgestoßen. Förster Petow stürmte in den Flur. Aufgewühlt, mit glühendem Gesicht, geschüttelt von Wut, einem Lachanfall oder beidem zugleich. Er stierte Rudi an, als erkenne er ihn gar nicht. Wandte sich dann seiner Tochter zu, die ihn trotz ihrer Jugend bereits überragte. Erst recht durch ihre hochgesteckte Frisur. Sie nahm ihm flink die Joppe ab. Ein schweres, uniformartig geschnittenes Kleidungsstück mit silbernen Eicheln am Revers. Ihm dabei über den Rücken streichend, als wäre sie seine Frau.

So viele Fuhrwerke, Kind! Ausreichend, einen ganzen Güterzug zu beladen. Alle Ochsen eingespannt, die sie noch auftreiben konnten. In Sicherheit bringen, was nicht niet- und nagelfest ist. Und von uns verlangt dieser Verräter die zügige Aufforstung des Windbruchs und eine Frühjahrsbestellung wie jedes Jahr. Er duckte den Kopf mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart und dem kurzen Haupthaar. Flüsterte einen Nachsatz: Bis der Russe buchstäblich in der Tür steht.

Vor Greifswald stehe er bereits, antwortete seine Tochter, sich sogleich auf die helle Unterlippe beißend. Eilig versuchte sie abzulenken: Hier, unser Imker erwartet dich! Du sagtest doch, dass er sich erst um die Kühe …!

Ach ja, die Kühe, die Koppel am Berg.

Eigentlich müsse er sich um die Bienen kümmern, wagte Rudi einzuwenden.

Dei Stickelbeern bläugen nämlich schon! (Die Stachelbeeren blühen nämlich schon!)“, ergänzte das Mädchen auf Platt.

Das gefiel ihm ungemein. Ja, höchste Zeit, die WEISELRICHTIGKEIT zu prüfen, erklärte er den beiden seine Arbeit. Das Brutgeschäft anzukurbeln, eine ordentliche Tränke zu bauen.

Ach, mein Junge!“, erwiderte der Förster, als sei er kurz davor, ihm den Arm um die Schultern zu legen. Das gelte doch alles nicht mehr, meinte er dann. Deutschland löse sich auf. Werde von ehrlosen Gesellen verraten und im Stich gelassen. Unwürdige Zustände, ein Chaos, in dem man nur noch bis morgen denken könne. Da sei die Umzäunung für die Milchkühe wichtiger. Zeig ihm mal unsere Werkstatt, Kind!

Rudi schwieg mit hölzerner Miene, während sich sein Verstand empörte: Förster Petow, ein studierter Mann, der Ursache und Ergebnis verwechselte! – Wie so viele im Dorf, als hätten sie den STÜRMER nie gelesen! Da hatte sein Oll aber vernünftigere Ansichten – trotz Holzpantoffel-Schule.

Die Tochter ging voran. Und genoss es sichtlich, voranzugehen, umgeben vom Duft der Minze.

Rudi fand, die Taille dieses Mädchens werde noch schlanker, noch biegsamer im flirrenden Sonnenlicht. Der Stoff selbst schien zu atmen, Haut zu sein. Keine Spur mehr von irgendwelchen Flecken, die wie Blut aussahen. Der Frühlingshimmel inzwischen wolkenlos. Die Luft immer noch etwas scharf, Ostwind.

Angedeutete Tanzschritte mit feinen Knopfstiefeln, vorbei am Hundezwinger, in der die beiden Irischen Setter um die Wette fiepten. Vorbei an den großen, leeren Gehegen, in denen alle Jahre zuvor Fasane großgezogen wurden. Vorbei am Stallgebäude, dessen Tür offen stand. In dem die Kühe mit ihren Ketten klirrten und rumorten. Überstimmt von den vielen gurrenden Tauben, die oben am Rand des Pultdaches hin und her trippelten.

Vor dem Schuppen daneben blieb die Tochter des Försters stehen, als traue sie sich nicht hinein. Ihr Arbeitsmann sei lange schon eingezogen worden, erklärte sie. Und es klang wie eine Entschuldigung.

Rudi schob mit einiger Mühe den Riegel zurück. Versuchte, sich zu orientieren im Halbdunkel: Ein Haufen Werkzeug auf dem Bohlentisch. Was noch alles an der Wand hing, ließ sich kaum erkennen. War von Dreckflocken und Spinnweben regelrecht zugeschneit.

Mach dich man nicht schmutzig!“, äußerte er besorgt. Sie sollte lieber draußen bleiben in ihrem schönen Kleid! dachte er. Aber er kannte sich da nicht aus. Wann hatte er es schon zu tun gehabt mit einem richtigen Fräulein!

Warst du schon mal im Schloss?

Er schüttelte den Kopf. Nein, noch nie eingeladen gewesen. Der Herr Hauptmann wisse gar nicht, dass es ihn gebe. Er habe immer bloß von draußen geguckt. Das Rondell mit dem Springbrunnen. Die Vorderfront mit den zwei mal zwanzig Fenstern. Die komischen Bären links und rechts vom Eingang, die eher aussähen wie Hunde.

Aber ich. Die Förstertochter lächelte nicht ohne Eitelkeit, die Mundenden nach oben gewinkelt. Sie wäre ZWEIMAL – zusammen mit ihrer Schwester und dem Vater – zum Jagdfest gewesen. Fünfzig geladene Gäste und Tanz im Nymphensaal. Immer zwischen Weihnachten und neuem Jahr, wie es Graf August seinerzeit eingeführt hatte.

Was denn überhaupt kaputt sei? unterbrach er sie. Der Koppeldraht nur runtergetreten oder auch, am Ende, durchgerostet?

Sie zog die gerüschten Schultern hoch. Begann zu schwärmen von der Orangerie mit dem wertvollen Porzellan in zahllosen SCHAUVITRINEN, dem Turm, in dem eine Bibliothek mit SECHSTAUSEND BÄNDEN, sowie eine Kupferstich- und eine Mineraliensammlung untergebracht seien.

Er wurde noch unwirscher. Woher dieser ganze Reichtum? frage er sich ernsthaft. Durch eigener Hände Arbeit erworben, durch kluges Wirtschaften vermehrt? – Doch wohl kaum. ZWANGSVERWALTUNG sage doch alles. Sein Oll habe immer erzählt, dass der alte Herr Graf von Landwirtschaft keinen blassen Dunst habe. Sich nur für die Jagd, für seine Schweine, Hasen, Rehe und Hirsche interessiere. Alles andere wäre unter seiner Würde gewesen.

Die Förstertochter guckte ihn überrascht an. Er sei ja ein Revoluzzer. Sie wurde ernst. Da müsse er mal Ernst Moritz Arndt lesen, den großen deutschen Patrioten. Seine Geschichte der Leibeigenschaft, über das Bauernlegen, die Vertreibung von Grund und Boden und solche schändlichen Sachen. Von den Landesherren geduldet, von den Kirchenfürsten abgesegnet. Und eigensinnig, als erwarte sie Widerspruch, fügte sie noch hinzu: Die nationalsozialistische Regierung wäre die erste gewesen, die sich ernsthaft eingesetzt habe für die deutsche Bauernschaft. Sie sage nur REICHSERBHOFGESETZ.

Und wo bekommt man dieses Buch?

Sie lächelte spitzbübisch. Bei den TÄTERN, im verlassenen Schloss. Während einer Erkundungstour abseits vom Festgetümmel habe sie den Prachtband selbst entdeckt, ganz oben, einsortiert unter dem Buchstaben A. Solch hochherrschaftliches Kobolzschießen interessiere sie brennend.

Rudi sammelte Hammer, Zange und Krampen zusammen. Nach einer Rolle mit Koppeldraht musste er lange suchen. War vielleicht auch nicht recht bei der Sache. Abgelenkt von Gedanken gänzlich unnützer, ja schwärmerischer Art: Welch ein kluges Mädchen! Man merkte eben, dass es auf eine höhere Schule ging, einen ganz anderen Überblick hatte. Dazu dieser Duft nach Pfefferminze! – Aber nein, er war doch Realist, eine der wenigen Stärken, die er für sich reklamierte. Als ein Niemand stand er hier. Mit seiner Erbkrankheit, mit seinen acht Klassen. Ohne Bildung und ohne erlernten Beruf. Er wartete geduldig, bis die Tochter seines Dienstherrn ihre spielerische Inspektion beendet hatte. Hielt noch mal Ausschau nach Schmutzspuren am Kleid. Schob den Riegel wieder vor. Schulterte den aufgerollten Draht.

Die Kühe schienen inzwischen noch lauter zu rasseln, so als würden sie ernsthaft protestieren in ihrem Stall. Hoch über ihnen im Blau die Tauben. Ganze Schwärme. Dazu ein ständiges Geknatter beim Auffliegen und beim Landen.

Strasser und Rostocker Tümmler, stellte Rudi fest. Die Förstertochter sagte nichts, nickte nur versonnen. Sie ging jetzt neben ihm. So ein Tier müsste man sein, meinte er unvermittelt, über sich selbst erstaunt.

Sie wandte ihm ihr Gesicht mit den blonden, hochgesteckten Haaren zu. Und er sah, dass sie sofort verstanden hatte. Hast du Angst?“, fragte sie ungewohnt leise.

Er furchte die Stirn: Ein Dummkopf, wer jetzt keine Angst habe.

Aber WIR haben doch nichts Böses getan! Du hier zu Hause bei deinen Bienen doch auch nicht! Und neckisch: Obwohl du ein Mann bist.

Er packte sie mit der freien Hand am Oberarm, als wollte er sie schütteln. Verlass dich nicht auf so was wie Offiziersehre, Gesittung und Anstand! Versteck dich, wenn´s so weit ist.

Sie guckte ihn verständnislos an.

Er schüttelte sie nun wirklich. Und hatte für einen Moment das Empfinden, eine jüngere, unerfahrene Schwester vor sich zu haben. Ich weiß das!

Sie versuchte unwillig, sich loszumachen.

Seine Finger drückten stärker. Hör doch, ich WEISS das! Von Albert, meinem Schulfreund und Hausnachbarn, der bis zur Schlacht um Ostpreußen dabei war und Weihnachten in Königsberg gefallen ist – für den Führer. Die Unseren – nicht alle, aber viele – haben jahrelang gehaust wie die Berserker, wie Tiere in Uniform. Die haben die Dörfer umstellt, die jungen Frauen rausgeholt und, und –. Und zum Schluss dann alles verbrannt. Die Häuser, die Mütter und die Kinder in den Häusern. Warum soll es der Russe jetzt anders machen!

Das glaube ich nicht, sagte sie, ihn empört anguckend. Weshalb willst du mir Angst einjagen? Unsere Soldaten sind doch keine Mörder, die tun doch nur ihre vaterländische Pflicht.

Eben, antwortete er mit verzweifeltem Grienen. Ließ ihren Arm los und steckte die Hand zu den Krampen in die Hosentasche.

 

Ach ja, der ARNDT als Prachtausgabe muss noch warten; Rudi hat Hunger. Er war zur Abendbrotzeit nicht zu Hause. Das heißt, auf dem Hof war er schon, aber nicht in der Küche. Er hat sich nur den Fahrradanhänger geholt und – für alle Fälle – Marek und Igor mitgenommen. (Alberts Hund macht er ebenfalls los, wenn er den Marek von der Kette nimmt. Beim Nachbarn kümmert sich ja keiner mehr um das Tier.) Zum Glück trafen sie niemand an auf der Turmseite des Schlosses, weder Leute von der Dienerschaft noch ungebetene Besucher, wie sie selbst. Lediglich eine Spur aus Porzellanscherben führte treppauf bis zum Wintergarten. Sich vor der offenen Tür anhäufend, als wäre dort Polterabend gefeiert worden. Rudi ging – flankiert von den beiden weißen, aus der Schnitterkaserne stammenden Hunden – weiter ins Obergeschoss. Sagte: Pst! und drückte die Klinke.

Zu dritt betraten sie den weitläufigen, von Pfeilern gestützten Raum. Die Bibliothek des Grafen mit angeblich sechstausend Bänden. Es war, als wäre die Zeit hier stehengeblieben, abgeschnitten worden von der Außenwelt. Nach Tabak riechend und nach alten, edlen Intarsienhölzern. Ein großformatiger Atlas lag noch aufgeschlagen. Bedeckte einen Tisch, von dem lediglich die geschweiften Beine vorschauten. Die Hunde interessierten sich mehr für die Teppiche. Rasten wie toll über den dicken, im Licht der Abendsonne glühenden Flor. Lauter Jagdszenen – was sonst! – umrahmt von Fantasieblumen und allerlei Rankenwerk. – Bestimmt echte Perser!

Als Rudolf das Lexikon eingeladen hatte, war der Hänger schon zur Hälfte voll. Da blieb bloß noch Platz für die kleinen Goethe- und Schillerbände und natürlich für den Patrioten Ernst Moritz Arndt.

 

Na, häst diene Immen all ümquartiert? (Na, hast du deine Bienen alle umquartiert?)“, empfängt ihn die Weiße, mit den Herdringen lärmend. Öwer dat bloß noch kulle Supp krichst, dat weißt? (Aber dass du nur noch kalte Suppe kriegst, das weißt du?)

Mokt nix, entgegnet er friedfertig. Doch so leicht lässt sich seine Mutter nicht besänftigen. Wenn er mit seinen Bienen umziehe, warum ziehe er dann nicht gleich GANZ ein bei der Ur? fragt sie böse. Das Bett in der Krankenkammer sei ja jetzt frei.

Rudi muss schlucken, bekommt sein zugesperrtes Gesicht. An solche Ausbrüche einer unverständlichen Boshaftigkeit kann er sich einfach nicht gewöhnen, obwohl die zu seinem Alltag gehören. Zumindest seit er Schulkind war und es richtig schlimm wurde mit den Gelenkblutungen.

Nun sei es aber gut! knurrt der Vater, der zusammengesunken am Tisch hängt. Der rasselnd atmet, als werde ihm die Luft knapp.

Von Umzug könne noch gar keine Rede sein, verteidigt Rudi sich endlich. Zunächst müsse er Platz schaffen im Bienenschauer des Onkels. Und überhaupt …! Er nimmt den Teller mit Milchsuppe, den die Mutter ihm hinhält und setzt sich dem Vater gegenüber an den Tisch. Sie könne sich doch freuen. Sie habe doch immer Angst gehabt im Garten, wenn eine Biene in ihre Nähe gekommen sei. Er lächelt versöhnlich.

Die weißhaarige Frau kratzt den Topf aus.

Rudi schneidet sich eine dicke Scheibe ab vom Brotlaib. Beginnt die lauwarme Suppe zu löffeln. Wie es denn jetzt weitergehe auf dem Gut? fragt er den Vater.

Wat weit ik? (Was weiß ich?)“, antwortet der. Sie würden weiter ihre Kartoffeln legen. Alles zusammensuchen, was die Flüchtlinge noch nicht weggefressen hätten.

Un dei Räuben? (Und die Rüben?)

Die Rüben würden sie auch weiter drillen – mit zwei Ochsen. Emil Kleineich blinzelt den Sohn von unten her an mit seinen schwarzen, tränenden Augen. Alles so wie letztes Jahr. Als wenn der Russe man bloß eine Fata Morgana wäre.

Rudi ist aufgesprungen. Eilt zum Gazeschrank. Holt sich das Marmeladenglas. Bestreicht sich eine weitere Scheibe Brot. Er hat das unvernünftige Gefühl, er müsse sich auf Vorrat satt essen. Wer im Juni dann verziehen soll, fragt er gepresst. Die gefangenen Polen und Franzosen hätten doch wohl jetzt andere Pläne.

Froch mi wat Leichts! (Frag mich was Leichteres!)“, antwortet sein Vater. Was sollten sie sonst tun? Schützengräben ausheben, wie es Förster Petow laut fordere?

SCHÜTZEN-GRÄBEN, ein Wort wie der Unheil-Ruf der Eulen. Rudi starrt in das dunkel gefurchte Gesicht seines Vaters. Der Oll kennt sich da aus, der hat ein ganzes Stück vom ERSTEN Krieg mitgemacht. Aber eigentlich nie darüber gesprochen. Warum wohl nicht? – Rudi kann es sich denken. Seit Albert ihm erzählt hat, wie es in Hitlers Krieg zugeht, gibt es wohl nichts mehr, was er ausschließt, für übertrieben, für Gräuelpropaganda hält. Nein, bloß das nicht! sagt er. Dann bringe der Russe sie alle um. Sohn und Vater gucken sich an, sind sich einig. Un dien WOHLTÄTER?“, fragt Rudi noch.

Sein Oll wischt sich mit einem Sacktuch umständlich die Augen aus. Ihr Herr Inspektor? Ach je, dieser zusammengeschossene Mensch! Er wisse nicht, was in den gefahren sei. Könne doch kaum kriechen, wenn er nicht auf seinem Pferd sitze. Sei doch gar nicht in der Partei. Emil Kleineich richtet sich ächzend auf. Schiebt den Oberkörper vor. Senkt die Stimme. Wahrscheinlich, weil ihr Herr Inspektor ursprünglich irgendwo oben aus dem Kurland komme und – auch nach dreißig Jahren – eine Einbildung habe wie ein Baltischer Baron. Nur Gott und Kaiser dienen wolle. Viel zu stolz sei, mal den Kopf einzuziehen, sich mal wegzuducken. Für die Bolschewiken und ihre Rote Armee habe der – trotz deren wahnsinnigem Vormarsch – man bloß Verachtung.

So–o? meint Rudi gedehnt. Dann sei der Mann wohl – trotz all seiner Klugheit – nicht ganz richtig im Kopf.

Sein Vater grient schlau. Und das Verrückteste daran: Der arme Mensch habe gar kein blaues Blut. Sei bloß ein MILCHBRUDER, ein BÜRGERLICHER ohne VON und ZU.

Das seien die Schlimmsten, bestätigt Rudi mit Überzeugung.

Seine Mutter hält es nicht mehr aus am Herd. Reißt dem Sohn den leeren Teller weg. Wirft ihn in die Abwaschschüssel, dass es spritzt. Ob die beiden übergeschnappt seien? fragt sie böse. Und fast hochdeutsch fügt sie hinzu: Ob adlig oder nicht, der Gnädige esse auch im sechsten Kriegsjahr keine KLÜTERSUPP, dem werde vom Feinsten vorgelegt im Herrenhaus.

Rudi versucht erneut, sie zu besänftigen. Hauptsache, sie müssten nicht hungern – wie Millionen andere!

Mutter Ida schnellt herum, die nassen Hände schüttelnd. In den Eulenaugen ein wütendes Rot. Sie verzerrt den Mund zu einer Bitternis, als gehe es um ihre Existenz. „Nich hungern? – ´ne half Mettwurst hast dir auch wieder abgeschnitten!

Rudi ist so empört, dass er ebenfalls hochdeutsch spricht: Sie wisse genau, er bezahle jeden Krümel, den er mitnehme für die Christel!

Dieses jungsche Weibsstück habe man doch bloß vorgeschickt, höhnt die Weiße. Aber ihr neunmalkluger Sohn füttere die ganze Sippe durch.

Der Vater schlägt mit der schaufelgroßen Hand auf den Tisch. Holl endlich dien Mul, du! (Halte endlich dein Maul, du)“ Und ruhiger: Sie kenne die Christel doch gar nicht. Das wäre ein hübsches Mädchen und ganz bescheiden. Nicht so eine Ziege, wie ihre Schwester das sei.

Die Mutter mit den weißen Haaren blickt vom Mann zum Sohn, vom Sohn zum Mann, und die grauen Eulenaugen füllen sich mit Wasser. Ji dömlichen Kierls, ji! (Ihr dämlichen Kerle, ihr!)

Rudi wischt mit der Hand die Brotkrümel auf der zerkerbten Tischplatte zusammen. Wie oft er solche Streitereien schon erlebt hat! – Er kann es nicht mehr hören. In einem plötzlichen Einfall legt er seiner Mutter – eine große, schlanke, zum Knochigen neigende Frau und sechs Jahre jünger als ihr Mann – seine Hand auf die sackleinene Schulter. Er denkt erneut an Pfefferminze dabei. Probiert es hier in der Küche aber mit einer dicken, ganz offenkundigen Übertreibung: Um Christels ausgehungerten Anhang zu ernähren, deshalb doch die DREI Bienenschuppen! Zwei zu Hause und in der Försterei auch noch einen.

Du narscher Minsch, du! (Du verrückter Mensch, du!) Ida Kleineich versucht zögernd und etwas verlegen, sich loszumachen. Körperliche Berührungen sind nicht Usus in der Familie.

Man MÜSSE verrückt sein in dieser Zeit, antwortet ihr Sohn philosophisch. Vielleicht die einzige Chance, die man habe.

 

Weiche, frühlingshafte Luft, durchwebt von sanftem Tröpfeln. Der scharfe Ostwind fehlt heute. Über dem Landweg nach Wohsien hellt der Himmel auf, zeigt bereits erste Streifen Blau. Rudi hat sich trotzdem die Joppe übergezogen. Und vorher noch schnell – so gut es ging – ein paar Schmutzflecke vom Ärmel gewischt. Er freut sich darauf, den Bienenstand der Försterei endlich in Ruhe zu inspizieren. Er weiß ja, dass sein Onkel da keine Nachlässigkeit kannte. Alle Völker stark in den Winter geschickt hat. Und vielleicht, wenn es aufhört zu nieseln …!

Rudi kommt mit seinem Fahrrad nur bis zum Weißen Haus. Hart am Geländer des Haupteingangs ein Krankenauto, verbeult, rostig, mit Dreck bespritzt bis zum Dach. Auf dem Platz davor eine Traube von Leuten. Vor allem Frauen in Arbeitssachen, die Kopftücher oben geknotet. Auch etliche Flüchtlinge aus der Scheune. Christel ist nicht dabei. Schriller Stimmenwirrwarr, Gefuchtel mit den Armen. Eine Aufregung, als wenn die Rote Armee gerade den Lindenhof eingenommen hätte, denkt Rudi. Die Mamsell auf der Treppe hat einen schweren Stand. Weithin leuchtend in ihrer weißen, seltsam zerrupften Schürze, versucht sie immer wieder zu berichten, zu beruhigen, Antwort zu geben. Doch die Leute unten haben keine Geduld. Schreien dazwischen, laufen planlos hin und her – quer durch die Blumenrabatten. Sind offensichtlich wirr vor Angst.

Rudi versteht den Tumult nicht so recht. Fühlt sich als Außenstehender, fühlt sich ziemlich überlegen. Schließlich weiß er schon lange, dass so etwas kommen musste. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass sein Vorgesetzter Petow heißt. Trotzdem braucht er Gewissheit. Er schiebt sein Rad zur Pumpe, neben der Alberts Vater – der einarmige Pferdeknecht – auf seinem Kastenwagen hockt. Unbeweglich, in einen schwarzen, nass glänzenden Umhang gewickelt – ein Kolkrabe im Regen. Ob er Genaues wisse, fragt ihn Rudi.

Nö-ö!“, antwortet sein Hausnachbar gleichmütig. Man blot, dat dei gnädig Herr Inspekter sich dotschotten häd. (Man nur, dass der gnädige Herr Inspektor sich totgeschossen hat.)