Über das Buch

Liebesgeschichten und Todesfälle, Morde und Fluchten, Irrenhäuser und Universitäten, Figuren, die verschwinden, und solche, die mirakulöserweise stets von neuem auftauchen: Alles kommt in diesem Roman des Chilenen Bolano vor, der eine der größten Entdeckungen der lateinamerikanischen Literatur ist.

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Roberto Bolaño

Die wilden Detektive

Roman

Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg

Carl Hanser Verlag

Für Carolina López und Lautaro Bolaño,
glücklicherweise Verwandte

»Wünschen Sie die Erlösung Mexikos?
Wünschen Sie, daß Christus unser König sei?«
»Nein.«

Malcolm Lowry

I. Mexikaner, verloren in Mexiko (1975)

2. November

Sie haben mich eingeladen, am viszeralen Realismus teilzunehmen. Natürlich habe ich ja gesagt. Keinerlei Initiationszeremonien. Besser so.

3. November

Ich weiß nicht genau, was das eigentlich ist, viszeraler Realismus. Ich bin siebzehn Jahre alt, heiße Juan García Madero und studiere im ersten Semester Jura. Eigentlich hätte ich lieber Literatur studiert, aber mein Onkel wollte unbedingt Jura, und am Ende hat er seinen Willen bekommen. Ich bin Waise, eines Tages werde ich Anwalt. Das habe ich zu meinem Onkel und zu meiner Tante gesagt, und danach habe ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen und fast die Nacht durch geheult. Später habe ich mich äußerlich damit abgefunden und meinen Einzug gehalten in der ruhmreichen Fakultät der Rechte, aber schon einen Monat später schrieb ich mich ein in der Dichterwerkstatt von Julio César Álamo, an der Fakultät für Philosophie und Literatur, und so habe ich die Realviszeralisten oder Viszeralrealisten oder Virrealisten, wie sie sich manchmal sogar nennen, kennengelernt. Bis jetzt habe ich an vier Sitzungen der Werkstatt teilgenommen, und nichts ist passiert, aber das sage ich so dahin, denn eigentlich ist dauernd etwas los: Wir lasen Gedichte, und Álamo lobte sie entweder oder er zerriß sie in der Luft, je nachdem, was für einer Laune er gerade war; einer las. Álamo kritisierte, der nächste las, Álamo kritisierte, dann las noch einer, und Álamo kritisierte wieder. Manchmal langweilte sich Álamo, dann sollten wir auch (die gerade nicht lasen) mit kritisieren, und so kritisierten wir uns eben gegenseitig, und Álamo las Zeitung.

Die ideale Methode, um das Entstehen von Freundschaften zu verhindern oder aber dafür zu sorgen, daß sie von krankhaftem Neid vergiftet werden.

Andererseits läßt sich nicht gerade behaupten, daß Álamo ein guter Kritiker war, obwohl er ständig von Kritik redete. Heute glaube ich, er redete, um zu reden. Er wußte ungefähr, was eine Periphrase war. Aber er wußte weder, was ein daktylischer Anapäst war (ein Vermaß aus der klassischen Metrik, wie jeder weiß) noch was unter einem Choriambus (ein dem Choliambus verwandtes Versmaß) oder gar unter einem Tetrastichon (einer Strophe aus vier Versen) zu verstehen war. Woher ich das weiß? Weil ich gleich am ersten Tag den Fehler beging, ihn danach zu fragen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hatte. Der einzige mexikanische Dichter, der über all diese Dinge auswendig Bescheid weiß, ist Octavio Paz (unser großer Feind), alle andern haben keinen blassen Dunst, das jedenfalls meinte Ulises Lima, unmittelbar nachdem ich mich in die Phalanx des viszeralen Realismus eingereiht hatte und dort freundschaftlich aufgenommen worden war. Álamo solche Fragen zu stellen bewies, wie ich schon bald feststellen mußte, einzig und allein mein mangelhaftes Taktgefühl. Anfangs war ich der Meinung, sein Lächeln sei Ausdruck von Bewunderung. Dann aber stellte ich fest, daß sich dahinter eher Verachtung verbarg. Mexikanische Dichter (und ich nehme an, die Dichter im allgemeinen) hassen es, an ihre Bildungslücken erinnert zu werden. Ich aber hatte keine Angst, und nachdem er in der zweiten Sitzung, an der ich teilnahm, ein paar von meinen Gedichten verrissen hatte, fragte ich ihn, ob er wisse, was ein rispetto sei. Álamo dachte wohl, ich verlangte von ihm mehr Respekt vor meinen Dichtungen, und fing an (eigentlich eine willkommene Abwechslung), sich über objektive Kritik zu verbreiten, ein Minenfeld, durch das alle jungen Dichter irgendwann einmal hindurchmüßten, ich aber unterbrach ihn, und nachdem ich klargestellt hatte, daß ich nie in meinem kurzen Leben jemals um Respekt für meine dürftigen Schöpfungen gebeten hätte, formulierte ich, dieses Mal mit größtmöglicher phonetischer Klarheit, erneut meine Frage.

»Hören Sie schon auf mit dem Gewichse, García Madero«, sagte Álamo.

»Ein rispetto, verehrter Meister, ist ein Typus lyrischer Dichtung, Liebesdichtung, um genau zu sein, dem strambotto verwandt und bestehend aus sechs beziehungsweise acht zehnsilbigen Versen, deren erste vier in Form des Serventesius, also als Strophe aus vier nach dem Schema ABAB gereimten Hendecasyllabi, auftreten, während die folgenden paarweise konstruiert sind. Zum Beispiel …« und ich war drauf und dran, ihm ein, zwei Beispiele zu präsentieren, aber da fuhr Álamo von seinem Stuhl hoch und erklärte die Sitzung für beendet. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr so genau (obwohl ich ein gutes Gedächtnis habe). Ich erinnere mich an das Gelächter von Álamo und vier oder fünf Kollegen aus der Werkstatt, die sich wahrscheinlich über einen Witz auf meine Kosten amüsierten.

Ein anderer an meiner Stelle hätte wahrscheinlich nie wieder seinen Fuß in diese Werkstatt gesetzt, aber trotz meiner wenig glücklichen Erinnerungen (beziehungsweise trotz der Abwesenheit von Erinnerungen oder für den mehr als unglücklichen Fall der mnemotechnischen Einbehaltung derselben) war ich in der nächsten Woche, pünktlich wie immer, wieder da.

Ich glaube, es war eine Fügung des Schicksals, die mich wieder hingehen ließ. Es war meine sechste Sitzung in Álamos Werkstatt (vielleicht war es aber auch die siebte oder achte, ich habe neuerdings festgestellt, daß sich die Zeit zusammenfaltet, auseinanderzieht, gerade wie es ihr paßt), und die Spannung, der Wechselstrom einer Tragödie, zitterte in der Luft, ohne daß irgend jemand imstande gewesen wäre, zu sagen, warum. Zunächst einmal waren sämtliche sieben eingeschriebenen Schüler zugegen, etwas in den bisherigen Sitzungen noch nie Dagewesenes. Und: Wir waren nervös. Álamo, normalerweise die Ruhe selbst, schien von allen guten Geistern verlassen. Einen Moment dachte ich, es sei etwas in der Universität passiert, eine Schießerei auf dem Campus, ohne daß ich etwas davon mitbekommen hätte, ein spontaner Streik, die Ermordung des Dekans der Fakultät, die Entführung eines Philosophieprofessors oder irgend etwas in dem Stil. Aber es war nichts geschehen, und in Wirklichkeit gab es keinen Grund, nervös zu sein. Wenigstens objektiv. Aber mit der Poesie (der wahren Poesie) verhält es sich nun einmal so: Sie läßt sich im voraus erfühlen, sie kündigt sich in der Luft an wie die Erdbeben, die, wie es heißt, von Tieren mit den dafür notwendigen Sinnesorganen (Schlangen, Würmern, Ratten, einigen Vögeln) im voraus gefühlt werden. Dann ging alles ungeheuer schnell, und ich möchte sagen, und ich weiß, daß ich dabei Gefahr laufe, in kitschige Redeweisen zu verfallen, mit allen Elementen des Wunderbaren gesegnet. Es erschienen zwei viszeralrealistische Dichter, und Álamo stellte sie uns mit zusammengebissenen Zähnen vor, obwohl er nur einen persönlich kannte, von dem anderen hatte er lediglich gehört, oder sein Name kam ihm bekannt vor, oder irgend jemand hatte ihm von ihm erzählt, egal, er stellte sie uns vor.

Was die beiden wollten, weiß ich nicht. Der Besuch hatte einen deutlich kriegerischen Beigeschmack, obwohl auch Gründe der Propaganda und der Werbung neuer Anhänger eine Rolle gespielt haben dürften. Die Realviszeralisten hüllten sich zunächst in höfliches Schweigen. Álamo seinerseits nahm am Anfang eine ironisch abwartende Haltung ein, aber allmählich fand er gegenüber den vorsichtigen Fremden wieder zu seiner gewohnten Sicherheit zurück, und nach einer halben Stunde lief die Werkstatt wie eh und je. Dann aber begann die Schlacht. Die Realviszeralisten stellten seinen kritischen Begriffsapparat in Frage, und er beschimpfte seinerseits die Realviszeralisten als surrealistisches Krämergesindel und als Pseudomarxisten, sekundiert von fünf anderen Mitgliedern aus der Werkstatt, also von allen, außer einem mageren Typen, der ständig mit einem Buch von Lewis Carroll unter dem Arm herumlief und praktisch nie den Mund aufmachte, und mir selbst, eine Tatsache, die mich doch sehr überraschte, denn diejenigen, die Álamo so schwungvoll unterstützten, waren immerhin dieselben, die sich ansonsten in stoischer Haltung seine unerbittliche Kritik anhören mußten; jetzt stellten sie sich seltsamerweise als seine treuesten Verteidiger heraus. Da beschloß ich, mein Scherflein beizusteuern, und beschuldigte Álamo, er wisse nicht, was ein rispetto sei; die Realviszeralisten gestanden, auch sie wüßten es nicht, aber meine Beobachtung erscheine ihnen dennoch als ein zulässiger Einwand, und dahingehend äußerten sie sich; einer von ihnen fragte mich, wie alt ich sei, und ich antwortete, siebzehn, und wollte ihnen noch einmal erklären, was ein rispetto sei. Álamo war rot vor Wut; die Werkstattmitglieder beschimpften mich als Pedanten (einer behauptete, ich sei ein Akademizist); die Realviszeralisten verteidigten mich; einmal in Fahrt, fragte ich Álamo und die übrigen Mitglieder der Werkstatt, ob sie sich wenigstens erinnern könnten, was unter einem daktylischen Anapäst oder einem Tetrastichon zu verstehen sei. Und keiner konnte mir antworten.

Entgegen meinen Erwartungen endete der Streit nicht im allgemeinen Tumult. Ich muß zugeben, das hätte ich großartig gefunden. Und obwohl eines der Mitglieder der Werkstatt Ulises Lima androhte, er werde ihm eines Tages die Fresse polieren, blieb am Ende alles ruhig, will sagen, es kam nicht zu Gewalttätigkeiten, obwohl ich auf die Drohung (die, das will ich hier ausdrücklich festhalten, nicht gegen mich gerichtet war) reagierte, indem ich dem Kerl versicherte, ich stünde zu seiner vollständigen Verfügung, jederzeit, egal, an welcher Ecke des Campus, zu welchem Datum oder zu welcher Tageszeit auch immer.

Der Abschluß der Veranstaltung bot noch eine Überraschung. Álamo lud Ulises Lima in herausforderndem Ton dazu ein, ein eigenes Gedicht vorzutragen. Der ließ sich nicht lange bitten und zog aus einer Tasche seiner abgerissenen Jacke ein paar verdreckte und zerknitterte Zettel hervor. Ach du mein Schreck, dachte ich, dieser Idiot steckt seinen Kopf freiwillig in den Rachen des Löwen. Ich glaube, ich schloß die Augen, weil ich mich für ihn schämte. Es gibt Augenblicke, in denen man Gedichte vortragen soll, und es gibt solche, in denen man besser die Fäuste fliegen läßt. In diesem Augenblick war meiner Meinung nach letzteres geboten. Ich schloß also, wie gesagt, die Augen und hörte Ulises Lima sich räuspern. Ich konnte (wenn so etwas möglich ist, was ich bezweifle) die unangenehme Stille, die sich im Raum ausbreitete, hören. Und dann vernahm ich seine Stimme, die das beste Gedicht vortrug, das ich jemals gehört hatte. Danach erhob sich Arturo Belano und sagte, sie seien auf der Suche nach Dichtern, die Lust hätten, an einer Zeitschrift mitzuarbeiten, die die Realviszeralisten herausbringen wollten. Da hätten sich alle gerne eingeschrieben, aber nach dem vorangegangenen Streit schämten sie sich und wagten nicht den Mund aufzumachen. Als die Sitzung endlich — später als üblich — beendet war, begleitete ich die beiden bis zur Bushaltestelle. Es war jedoch zu spät. Kein Bus fuhr mehr um diese Zeit, und so beschlossen wir, zusammen ein Taxi bis zum Paseo de la Reforma zu nehmen, von wo aus wir zu Fuß bis zu einer Bar in der Calle Bucareli liefen; dort redeten wir bis tief in die Nacht über Poesie.

Viel habe ich, ehrlich gesagt, nicht kapiert. Der Name der Gruppe ist ein Witz, aber in gewisser Weise vollkommen ernst gemeint. Ich glaube, es gab vor langer Zeit einmal eine Gruppe mexikanischer Avantgardisten, die sich Realviszeralisten nannten, aber ich erinnere mich nicht mehr, ob es Schriftsteller oder Maler oder Revolutionäre waren. Sie waren irgendwann in den dreißiger oder zwanziger Jahren aktiv, genau weiß ich auch das nicht. Selbstverständlich hatte ich noch nie von dieser Gruppe gehört, aber das ist meinem spärlichen Wissen in literarischen Dingen zuzuschreiben (alle Bücher dieser Welt warten darauf, von mir gelesen zu werden). Arturo Belano zufolge verlor sich die Spur der Realviszeralisten in der Wüste von Sonora. Dann fiel noch der Name einer gewissen Cesárea Tinajero oder Tinaja, genau kann ich mich nicht erinnern, ich glaube, um diese Zeit schrie ich mich mit dem Kellner wegen ein paar Flaschen Bier an, während die beiden über die Poésies des Comte de Lautréamont sprachen, über irgend etwas in den Poésies, das mit dieser Tinajero zu tun hatte, und dann ließ Ulises Lima eine rätselhafte Behauptung fallen: Ihm zufolge gingen die heutigen Realviszeralisten rückwärts. Wie, rückwärts? fragte ich.

Mit dem Rücken voraus, den Blick auf einen sich entfernenden Punkt gerichtet, in direkter Linie hin auf das Unbekannte.

Das sei gewiß die vollendete Art zu gehen, pflichtete ich bei, obwohl ich in Wahrheit überhaupt nichts kapierte. Genaugenommen war es bestimmt die denkbar ungeeignetste Art der Fortbewegung.

Später kamen noch andere Dichter hinzu, einige davon Realviszeralisten, andere nicht, und es wurde unmöglich, sich in dem allgemeinen Geschrei verständlich zu machen. Für einen Moment glaubte ich schon, Belano und Lima hätten mich vergessen, denn sie redeten mit den verschrobensten Gestalten, die zu uns an den Tisch kamen, aber im Morgengrauen fragten sie mich, ob ich gern zur Bande gehören würde. Sie sagten nicht »Gruppe« oder »Bewegung«, sondern »Bande«, und das gefiel mir. Natürlich sagte ich ja. Es war herzergreifend. Einer der beiden, Belano, gab mir die Hand und meinte, jetzt sei ich einer von ihnen, und dann sangen wir gemeinsam ein Lied. Das war alles. Im Text des Liedes war die Rede von gottverlassenen Dörfern im Norden und den Augen einer Frau. Bevor ich mich auf offener Straße übergeben mußte, fragte ich, ob mit den Augen der Frau die von Cesárea Tinajero gemeint seien. Belano und Lima musterten mich und meinten, ich sei ein Realviszeralist, kein Zweifel, und gemeinsam würden wir die lateinamerikanische Dichtung verändern. Um sechs Uhr morgens nahm ich mir wieder ein Taxi, dieses Mal allein, das mich in den Stadtteil Lindavista brachte, wo ich wohne. Heute bin ich nicht zur Universität gegangen. Den ganzen Tag lang habe ich mich in mein Zimmer vergraben und Gedichte geschrieben.

4. November

Ich war wieder in der Bar in der Calle Bucareli, aber die Realviszeralisten sind nicht wiederaufgetaucht. Ich habe gewartet und dabei gelesen und geschrieben. Die Stammkunden der Bar, ein Haufen besoffener Galgenvögel, haben mich nicht aus den Augen gelassen.

Ergebnis von fünf Stunden Wartezeit: vier Bier, vier Tequilas, ein Teller vergammelte Bohnensuppe, die ich nach ein paar Löffeln stehengelassen habe, der letzte Gedichtband von Álamo, von vorn bis hinten gelesen (den ich eigentlich mitgebracht hatte, um mich mit meinen neuen Freunden darüber lustig zu machen), sieben Texte, geschrieben in der Manier von Ulises Lima (der erste über nach Särgen riechende Bohnensuppen, der zweite über die zerstörte Universität, der dritte auch über die Universität: ich nackt inmitten einer Menge von Zombies umherrennend, der vierte über den Mond über der Hauptstadt, der fünfte über einen toten Sänger, der sechste über eine Geheimgesellschaft, die ihr Unwesen in den Kloaken von Chapultepec treibt, der siebte über ein verlorengegangenes Buch und über die Freundschaft), oder genau gesagt, in der Manier des einzigen Gedichts, das ich von Ulises Lima kannte, nicht gelesen, sondern gehört, und schließlich ein körperliches und geistiges Gefühl von Einsamkeit.

Ein paar Betrunkene versuchten sich mit mir anzulegen, aber trotz meines jugendliches Alters habe ich genug Mumm, um es mit jedem aufzunehmen. Eine Kellnerin (sie hieß Brígida, soviel ich weiß, und behauptete, sie könne sich von der Nacht her an mich erinnern, die ich mit Belano und Lima dort verbrachte) strich mir über den Kopf. Eine fast achtlose Zärtlichkeit, während sie an einem anderen Tisch bediente. Dann setzte sie sich ein Weilchen zu mir an den Tisch und meinte, ich hätte zu lange Haare. Ich fand sie nett, mochte aber nichts sagen. Um drei Uhr morgens ging ich nach Hause. Die Realviszeralisten waren nicht aufgetaucht. Ob ich sie jemals wiedersehen werde?

5. November

Keine Nachricht von meinen Freunden. Seit zwei Tagen gehe ich nicht mehr in die Uni. Auch in die Werkstatt von Álamo mag ich nicht mehr gehen. Abends war ich wieder im Encrucijada Veracruzana (der Bar in der Calle Bucareli), aber von Realviszeralisten keine Spur. Es ist seltsam, wie sich so ein Etablissement verwandelt, je nachdem, ob man es am Abend, in der Nacht oder gar im Morgengrauen betritt. Man könnte meinen, es sei nicht dieselbe Bar. Heute abend wirkte das Lokal womöglich noch heruntergekommener als in Wirklichkeit. Die Nachtvögel sind noch nicht da, die Kundschaft wirkt verhuscht, durchsichtiger, friedlicher auch. Drei mickrige Bürohengste, Angestellte wahrscheinlich, jedenfalls vollständig betrunken, ein Mann, der Schildkröteneier verkaufte, mit leerem Korb, zwei Erstsemester, ein Herr mit grauen Haaren, der an einem Tisch sitzt und Enchiladas ißt. Auch die Kellnerinnen sind anders. Die drei, die heute Dienst hatten, kannte ich noch nicht, obwohl eine von ihnen zu mir kam und mir rundheraus ins Gesicht sagte: Du bist bestimmt ein Dichter. Ich war beunruhigt, aber doch auch geschmeichelt, das muß ich zugeben.

»Ja, Señorita, ich bin Poet, aber woher wußten Sie das?«

»Brígida hat mir von dir erzählt.«

Brígida, die Kellnerin!

»Und was hat sie Ihnen von mir erzählt?«

»Na, daß du sehr schöne Gedichte schreibst.«

»Woher will sie das wissen? Sie hat ja noch nie etwas von mir gelesen«, sagte ich, ein wenig rot geworden zwar, aber doch ganz zufrieden mit dem Verlauf, den das Gespräch nahm. Dann fiel mir ein, Brígida könnte vielleicht, hinter meinem Rücken sogar, einige meiner Verse gelesen haben. Das gefiel mir allerdings überhaupt nicht.

Die Kellnerin, sie hieß Rosario, fragte, ob ich ihr einen Gefallen tun könnte. Ich hätte antworten sollen, das komme darauf an, so wie es mir mein Onkel bis zur Erschöpfung eingeschärft hat, aber ich bin nun einmal anders, und so fragte ich, worum es sich denn handelte.

»Ich möchte, daß du mir ein Gedicht schreibst«, sagte sie.

»Schon erledigt. Irgendwann in den nächsten Tagen bekommst du es«, ich verfiel zum erstenmal ins Du und bat sie, schon leicht beschwipst, mir noch einen Tequila zu bringen.

»Der geht auf meine Rechnung«, sagte sie, »aber das Gedicht schreibst du mir auf der Stelle.«

Ich versuchte, ihr zu erklären, daß sich ein Gedicht nicht einfach mal so dahinschreiben läßt. »Warum so eilig?«

Ihre Begründung war etwas vage; anscheinend hatte sie der Jungfrau von Guadalupe ein Gelübde geleistet, es betraf die Gesundheit von irgend jemandem, ein geliebtes Familienmitglied, an dem sie sehr hing und das verschwunden und wiederaufgetaucht war. Aber was sollte ein Gedicht in so einem Fall ausrichten? Für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich hätte zuviel getrunken, lange nichts mehr gegessen, und Hunger und Alkohol hätten mich mit vereinten Kräften von der Wirklichkeit entfernt etc …. Dann aber fand ich, so schlimm sei das auch wieder nicht. Eine der vom viszeralen Realismus vorgesehenen Prämissen für das Verfassen von Gedichten nämlich besteht, wenn ich mich recht erinnere (obwohl ich dafür nicht die Hand ins Feuer lege), in der vorübergehenden Abkoppelung von einem bestimmten Typus der Wirklichkeit. Aber egal, jedenfalls verließen um diese Stunde die Gäste einer nach dem anderen die Bar, weshalb die anderen beiden Kellnerinnen eine nach der anderen zu uns an den Tisch kamen und ich mich plötzlich umzingelt sah, in einer offensichtlich harmlosen Situation (wirklich harmlos), die aber jedem beliebigen nicht eingeweihten Zuschauer, einem Polizisten zum Beispiel, nicht als solche erschienen wäre: ein am Tisch sitzender Student mit drei Frauen, die um ihn herumstehen, von denen die eine mit ihrer rechten Hüfte seine linke Schulter und seinen linken Arm zärtlich berührt, während die anderen beiden mit ihren Oberschenkeln die Tischkante berühren (die bestimmt einen Abdruck hinterließ) und sich mit mir über harmlose literarische Themen unterhielten, die aber, von der Tür aus gesehen, wer weiß was gewesen sein könnten, ein Mädchenhändler zum Beispiel im vertraulichen Gespräch mit seinen minderjährigen Schutzbefohlenen. Oder ein geiler Student, der sich gerade verführen läßt.

Also beschloß ich, den Knoten durchzuhauen, erhob mich schwankend, zahlte, hinterließ einen zärtlichen Gruß an Brígida und ging. Draußen wurde ich sekundenlang von der Sonne geblendet.

6. November

Auch heute bin ich nicht zur Uni gegangen. Ich stand früh auf, nahm den Bus Richtung UNAM, stieg aber vorher aus und verbrachte den größten Teil des Vormittags damit, durch die Innenstadt zu vagabundieren. Zuerst ging ich in eine Buchhandlung, die Librería del Sótano, und kaufte mir ein Buch von Pierre Louys; danach lief ich über die Avenida Juárez, kaufte mir eine Tortilla mit Schinken und ließ mich unter den Alleebäumen zum Lesen und Essen auf einer Bank nieder. Die Geschichten von Louys, vor allem aber die Illustrationen verursachten mir eine stiermäßige Erektion. Ich versuchte aufzustehen und wegzugehen, aber mit dem Schwanz in diesem Zustand war es unmöglich, herumzulaufen, ohne die Blicke und dann die Empörung nicht nur der Fußgänger, sondern ganz allgemein der Leute auf der Straße auf mich zu lenken. Also setzte ich mich wieder hin und strich mir die Krümel von Jacke und Hose. Eine Zeitlang sah ich einem Tier zu, das mir wie ein Eichhörnchen vorkam und sich vorsichtig durch die Äste der Bäume bewegte. Nach (ungefähr) zehn Minuten stellte ich fest, daß es sich nicht um ein Eichhörnchen, sondern um eine Ratte handelte. Eine riesengroße Ratte! Die Entdeckung erfüllte mich mit Trauer. Hier saß ich, unfähig, mich zu bewegen, und zwanzig Schritte weiter saß eine hungrige, unternehmungslustige Ratte, an einen Ast geklammert, auf der Suche nach Vogeleiern und (unwahrscheinlicherweise) in die Baumkronen hinaufgewehten Krümeln oder was auch immer. Beklemmung stieg in mir auf, und mir wurde schlecht. Fast hätte ich mich erbrochen. Ich stand auf und lief davon. Nach fünf Minuten rüstigen Fußmarsches war die Erektion verschwunden.

Abends ging ich in die Calle Corazón (Parallelstraße zu der, wo ich wohne) und sah ein paar Leuten beim Kicken zu. Die da spielten, waren meine Freunde aus der Kindheit, obwohl Freunde aus der Kindheit vielleicht ein wenig übertrieben ist. Die meisten sind noch im ersten Semester, andere haben das Studium an den Nagel gehängt und arbeiten für ihre Eltern oder tun einfach nichts. Seit ich auf der Universität bin, ist der Graben, der uns trennt, plötzlich sehr breit geworden, und wir leben wie Menschen von verschiedenen Sternen. Ich fragte, ob ich mitspielen dürfe. Die Calle Corazón ist nicht besonders gut beleuchtet, und der Ball war kaum zu sehen. Zweimal bekam ich einen Tritt, und einmal traf mich der Ball mitten ins Gesicht. Das reichte. Jetzt lese ich noch ein bißchen Pierre Louys, und dann mache ich das Licht aus.

7. November

Die Stadt Mexico, der Distrito Federal (DF), hat vierzehn Millionen Einwohner. Ich werde die Realviszeralisten nicht wiedersehen. Auch die Uni nicht und ebensowenig Álamos Literaturwerkstatt. Mit meinem Onkel werde ich schon fertig. Das Buch von Louys, Aphrodite, habe ich durch, jetzt lese ich tote mexikanische Dichter, meine künftigen Kollegen.

8. November

Ich habe ein wundervolles Gedicht gefunden. Über seinen Autor, Efrén Rebolledo (1877—1929), haben sie mir im Literaturunterricht nie ein Sterbenswort erzählt. Ich schreibe es hier auf:

Der Vampir

Deine traurigen dicken Locken umspielen

Deine unschuldigen Formen wie ein Fluß

Und ich streue in ihren gekräuselt dunklen Strom

Die entflammten Rosen meiner Küsse

Während ich die dichten Ringe entfalte,

Spür ich das sanfte, kalte Reiben

Deiner Hand, und ein langes Schaudern

Durchläuft mich und dringt mir in die Knochen.

Deine verqueren, ungeselligen Pupillen

Funkeln, während sie einem Seufzer lauschen,

Der die Eingeweide zerreißt,

Und während ich meinen Todeskampf kämpfe, spielst du durstig

Den schwarzen, nicht ablassenden Vampir,

Der mein brennendes Blut schlürft.

Als ich es das erstemal las, konnte ich nicht anders, ich mußte mich in meinem Zimmer einschließen und mir einen runterholen, während ich es ein-, zwei-, drei-, zehn-, ja fünfzehnmal rezitierte und mir Rosario, die Kellnerin, vorstellte, wie sie auf allen vieren über mir hockte und mich anflehte, ihr für dieses geliebte, herbeigesehnte Wesen ein Gedicht zu schreiben oder sie mit meinem glühenden Schwanz auf ihr Bett zu nageln.

Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, konnte ich über das Gedicht nachdenken.

Die Bedeutung des »gekräuselt dunklen Stroms« dürfte klar sein. Nicht aber die des ersten Verses der zweiten Strophe: »Während ich die dichten Ringe entfalte«, der sich gut und gerne auf den »gekräuselt dunklen Strom« beziehen könnte, wo einer nach dem anderen in die Länge gezogen oder entwirrt wird, das Verb »entfalten« jedoch einen möglicherweise verborgenen Sinn enthalten könnte.

Auch mit den »dichten Ringen« verhält es sich nicht eindeutig. Sind die Schamlöckchen gemeint, die Haarlocken des Vampirs, oder handelt es sich um verschiedene Körpereingänge? Mit einem Wort: Fickt er sie in den Arsch? Ich fürchte, mir dreht sich immer noch der Kopf von dem, was ich bei Pierre Louys gelesen habe.

9. November

Ich gehe wieder ins Encrucijada Veracruzana, nicht weil ich dort die Realviszeralisten zu finden hoffe, sondern um Rosario wiederzusehen. Ein paar Verslein habe ich für sie aufgeschrieben. Ich spreche von ihren Augen, vom unendlichen mexikanischen Horizont, von verlassenen Kirchen und den gespenstischen Straßen, die in Richtung Grenze führen. Irgendwie bin ich sicher, daß Rosario aus Veracruz oder Tabasco stammt, wahrscheinlich sogar aus Yucatán. Irgend so etwas hat sie gesagt. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Vielleicht hängt die Verwirrung mit dem Namen der Bar zusammen, und Rosario kommt weder aus Veracruz noch aus Yucatán, sondern aus der Stadt Mexico. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß ein paar Verse, die absolut andere Landschaften heraufbeschwören als die, wo sie herkommt (angenommen, sie kommt aus Veracruz, was ich immer mehr bezweifle), vielversprechender wirken dürften, wenigstens, was meine Absichten betrifft. Danach soll passieren, was will.

Heute vormittag bin ich in meinem Stadtviertel umhergewandert und habe über mein Leben nachgedacht. Die Zukunft sieht nicht besonders rosig aus, schon gar nicht, wenn ich weiterhin die Kurse schwänze. Trotzdem ist es meine sexuelle Entwicklung, die mir am meisten Sorgen macht. Ich kann doch nicht ewig wichsend meine Tage beschließen. (Auch meine poetische Entwicklung macht mir Sorgen, aber lieber alles zu seiner Zeit.) Hat Rosario einen Freund? Und wenn ja, ist er eifersüchtig und besitzergreifend? Um verheiratet zu sein, ist sie eigentlich noch zu jung, aber ausschließen läßt sich auch das nicht. Ich glaube, ich gefalle ihr, das liegt auf der Hand.

10. November

Ich habe die Realviszeralisten wiedergetroffen. Rosario kommt aus Veracruz. Alle Realviszeralisten haben mir ihre Adressen gegeben, und ich habe allen meine Adresse gegeben. Die Versammlungen finden im Café Quito in der Calle Bucareli statt, ein Stück oberhalb des Encrucijada Veracruzana, im Haus von María Font, im Stadtteil Condesa, oder im Haus der Malerin Catalina O’Hara, im Stadtteil Coyoacán (María Font, Catalina O’Hara — irgendwie sagen mir diese Namen etwas, aber was genau, weiß ich noch nicht).

Alles ist gut ausgegangen, obwohl fast eine Tragödie daraus geworden wäre.

Und so hat es sich zugetragen: Um acht Uhr abends betrat ich das Encrucijada. Es war voll, und die Kundschaft hätte nicht jämmerlicher und finsterer sein können. Irgendwo in einer Ecke sang sogar ein blinder Akkordeonspieler. Ich aber ließ mich nicht einschüchtern und schnappte mir den erstbesten Platz an der Bar, der frei wurde. Rosario war nicht da. Ich fragte die Kellnerin, die mich bediente und wie einen verrückten, eingebildeten Hallodri behandelte. Immerhin lächelte sie dabei, so als ob sie gar nichts gegen mich hätte. Ehrlich gesagt, ich verstand kein Wort. Ich fragte sie, woher Rosario käme, und sie sagte, aus Veracruz. Und woher sie käme, fragte ich danach. Aus der Hauptstadt, sagte sie. Und du? Ich bin der Reiter aus Sonora, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, ohne nachzudenken. In Wahrheit bin ich noch nie in Sonora gewesen. Sie lachte, und so hätte das Gespräch gut und gerne weitergehen können, aber sie mußte wieder bedienen. Brígida allerdings war da, und als ich meinen zweiten Tequila getrunken hatte, kam sie vorbei und fragte, was los sei. Brígida ist eine Frau mit verschatteter, melancholischer, verletzter Miene. Ich hatte ein anderes Bild von ihr, aber das letztemal war ich betrunken gewesen, jetzt aber nicht. Ich sagte, was war los, Brígida, wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Es sollte wie unbeteiligt, ja lustig klingen, aber lustig, das kann ich sagen, war mir nicht zumute. Brígida nahm meine Hand und legte sie sich aufs Herz. Ich zuckte zusammen, und mein erster Gedanke war, von der Theke zu verschwinden, aus der Bar zu flüchten, aber ich hielt still.

»Spürst du’s?« sagte sie.

»Was?«

»Mein Herz, du Idiot. Fühlst du nicht, wie es schlägt?«

Mit den Fingerspitzen erforschte ich die Oberfläche, die sich mir bot: die Leinenbluse und Brígidas Brüste, von einem Büstenhalter umrahmt, der mir für seinen Inhalt ziemlich klein vorkam. Von Herzschlag keine Spur.

»Ich spür nichts«, sagte ich und grinste.

»Mein Herz, du Ochse. Hörst du es nicht schlagen, daß es fast zerbricht?«

»Du, entschuldige, ich hör einfach nichts.«

»Wie willst du denn mit den Händen was hören, du Trottel, ich will doch nur, daß du was spürst. Spürst du nichts mit den Fingern?«

»Ehrlich gesagt … nein.«

»Du hast eine Hand aus Eis«, sagte Brígida. »Und so schöne Finger, man merkt gleich, daß du noch nie arbeiten mußtest.«

Ich fühlte, wie ich angestarrt, gemustert, durchschaut wurde. Die besoffenen Galgenvögel hatten Brígidas letzte Bemerkung interessiert zur Kenntnis genommen. Ich hatte im Moment wenig Lust, mit ihnen aneinanderzugeraten, weshalb ich verkündete, sie irre sich, ich müsse natürlich arbeiten, um mir mein Studium zu verdienen. Brígida hielt meine Hand eisern fest, als wolle sie meine Schicksalslinien deuten. Das interessierte mich auch, und ich vergaß die eventuellen Zuschauer.

»Komm, du kleine Klapperschlange«, sagte sie, »mir brauchst du nichts vorzumachen, ich kenne dich. Du bist ein Muttersöhnchen mit großen Plänen im Kopf. Und du hast Glück. Du wirst bekommen, was du willst. Obwohl ich hier sehe, daß du ein paarmal vom geraden Weg abkommst, durch eigene Schuld, weil du nicht genau weißt, was du willst. Du brauchst ein dickes Fell, für die guten Zeiten und für die schlechten. Stimmt’s?«

»Ja, ja, unbedingt. Erzähl weiter.«

»Hier nicht«, sagte Brígida. »Diese lächerlichen Scherzkekse geht doch nichts an, was aus dir wird, oder?«

Zum erstenmal riskierte ich einen Blick zur Seite. Vier, fünf besoffene Galgenvögel hörten Brígida aufmerksam zu, einer glotzte sogar mit unnatürlicher Beharrlichkeit auf meine Hand, als sei es seine eigene. Ich schenkte allen ein Lächeln, für den Fall, daß sie ungemütlich werden sollten, und gab ihnen auf diese Weise zu verstehen, daß mich die ganze Angelegenheit eigentlich nichts anging. Brígida kraulte mir inzwischen den Nacken. Ihre Augen blitzten, und es sah fast so aus, als würde sie im nächsten Augenblick Streit anfangen oder in Tränen ausbrechen.

»Hier können wir nicht reden. Komm mit.«

Ich hörte, wie sie einer der Kellnerinnen etwas zuflüsterte; dann machte sie mir ein Zeichen. Das Encrucijada Veracruzana war brechend voll, und über den Köpfen der Leute schwebte eine dichte Wolke aus Tabakqualm und der Musik des blinden Akkordeonspielers. Ich schaute auf die Uhr. Es war zwölf; die Zeit, so schien mir, verging wie im Fluge.

Ich folgte ihr.

Wir gingen in eine Art Keller, eigentlich eine enge Abstellkammer, wo neben Stapeln mit Getränkekästen die Utensilien zum Saubermachen der Bar herumstanden (Waschmittel, Besen und Schrubber, Reinigungsmilch, ein Gummiinstrument zum Fensterputzen und viele Gummihandschuhe). Ganz hinten befand sich ein Tisch mit zwei Stühlen. Brígida zeigte auf einen, und ich setzte mich. Der Tisch war rund, die Platte übersät mit eingekerbten Zeichen und Namen, die meisten davon unleserlich. Die Kellnerin stellte sich wenige Zentimeter vor mich hin und betrachtete mich wie eine Göttin oder wie ein Raubvogel. Vielleicht erwartete sie, daß ich sie bat, sich zu setzen. Das, was ich für ihre Schüchternheit hielt, rührte mich, und so tat ich es. Zu meiner Überraschung setzte sie sich daraufhin auf meine Knie. Und obwohl das Ganze äußerst unbequem war, merkte ich zu meinem Entsetzen, wie die von meinem Intellekt, meiner Seele, ja von meinen schlimmsten Wunschvorstellungen abgetrennte Natur auf der Stelle dafür sorgte, daß mein Glied auf eine Weise steif wurde, die zu verbergen unmöglich war. Brígida mußte meinen Zustand bemerkt haben, denn sie erhob sich, und nachdem sie mich noch einmal von oben gemustert hatte, schlug sie mir einen schönen Dauerlutscher vor.

»Hä …

»Einen Dauerlutscher. Magst du einen Dauerlutscher von mir?«

Ich starrte sie verständnislos an, obwohl die Wahrheit sich wie ein einsamer und erschöpfter Schwimmer langsam in die schwarze See meiner Ahnungslosigkeit vorarbeitete. Sie fraß mich fast auf mit ihren harten, flachen Augen. Etwas Charakteristisches unterschied sie von allen menschlichen Wesen, denen ich bis dahin begegnet war: Sie starrte mir immer (egal, wo, in welcher Situation und was auch gerade geschah) in die Augen. Brígidas Blick, das stand für mich fest, hatte etwas Unerträgliches.

»Wovon redest du?« stammelte ich.

»Davon, Schätzchen, daß ich dir einen blasen will.«

Mir blieb keine Zeit zu antworten, und vielleicht war das auch besser so. Brígida kniete sich, ohne mich aus den Augen zu lassen, vor mich hin, öffnete mir den Reißverschluß und steckte mein Glied in den Mund. Zuerst die Eichel, in die sie ein paarmal zärtlich hineinbiß, was sich deshalb nicht weniger beunruhigend anfühlte, und dann den ganzen Schwanz, offenbar ohne sich zu verschlucken. Gleichzeitig strich sie mit der rechten Hand über meinen Unterleib, meinen Bauch und meine Brust und versetzte mir in regelmäßigen Abständen Nackenschläge; die Spuren sind noch zu sehen. Der Schmerz trug wahrscheinlich kräftig zu meinem Wohlbefinden bei, aber er verhinderte zugleich, daß ich kam. Immer wieder blickte Brígida von ihrer Arbeit auf, ohne mein männliches Glied aus dem Mund fahren zu lassen, und suchte meine Augen. Ich machte sie zu und begann im Geiste unzusammenhängende Verse aus dem Gedicht »Der Vampir« zu rezitieren, die sich später, als ich den Vorfall noch einmal überdachte, keineswegs als unzusammenhängende Verse aus dem Gedicht »Der Vampir« herausstellten, sondern vielmehr als eine teuflische Mischung aus Poemen verschiedener Herkunft, prophetische Sätze meines Onkels, Kindheitserinnerungen, Gesichter von Schauspielerinnen, die ich in meiner Pubertät angebetet hatte (das Gesicht von Angélica María zum Beispiel, in Schwarzweiß), Landschaften, vorüberwirbelnde Landschaften. Zuerst versuchte ich mich gegen die Nackenschläge zu wehren, aber vergeblich, wie ich feststellen mußte; also widmete ich mich Brígidas Haarschopf (natürlich kastanienfarben und nicht besonders sauber, wie mir schien), ihren Ohren — klein und fleischig und doch von übernatürlicher Festigkeit, als sei in ihnen nicht ein Gramm Fleisch oder Fett, sondern nur Knorpel, Plastik, eine Art weiches Metall —, an denen zwei große Ringe aus falschem Silber baumelten.

Als ich kurz vorm Orgasmus war und, um nicht zu winseln, meine Fäuste hob und mich in ein unsichtbares Wesen zu verwandeln drohte, das die Kellerwände hochkroch, öffnete sich plötzlich (aber lautlos) die Tür, der Kopf einer Kellnerin erschien, und aus ihrem Mund erscholl die knappe Nachricht:

»Mineralwasser!«

Brígida unterbrach auf der Stelle ihre Verrichtung. Sie stand auf, und dann zerrte sie mich an den Eiern zu einer Tür, die mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war.

»Ein andermal, Süßer«, sagte sie mit ungewöhnlich rauher Stimme und stieß mich hinaus.

Und so stand ich unversehens in der Toilette des Encrucijada Veracruzana, einem finsteren, langgestreckten, rechteckigen Raum. Ich taumelte einige Schritte, wie benommen von den Ereignissen. Es roch nach Desinfektionsmittel. Die Beleuchtung war schwach, eigentlich kaum vorhanden. Über einem der abgewetzten Waschbecken entdeckte ich einen Spiegel. Ich betrachtete mich verstohlen aus den Augenwinkeln; was ich sah, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Wortlos und vorsichtig den Pfützen ausweichend, auf die sich, wie ich jetzt erkennen konnte, aus einem der Pissoirs ein dünnes Flüßchen zubewegte, näherte ich mein Gesicht noch einmal neugierig dem Spiegel. Mir blickte ein keilförmiges, dunkelrotes, verschwitztes Antlitz entgegen. Ich prallte zurück und wäre fast gefallen. In einem der WCs redete jemand. Ich hörte ihn knurren und fluchen. Garantiert einer der besoffenen Galgenvögel. Dann rief mich jemand bei meinem Namen:

»Dichter García Madero.«

Jetzt erblickte ich bei den Pissoirs zwei Schatten, in eine Rauchwolke gehüllt. Zwei Schwule, dachte ich, zwei Schwule, die meinen Namen kennen?

»Dichter García Madero, komm schon her, Mann.«

Der Logik und der Vorsicht folgend, hätte ich den Ausgang suchen und mich aus dem Encrucijada Veracruzana davonmachen sollen; statt dessen jedoch zogen mich meine Füße in Richtung Rauchwolke. Zwei blitzende Augenpaare wie von Wölfen in einem Sturm sahen mich an (dichterische Freiheit, denn ich bin noch nie einem Wolf begegnet, Stürme habe ich schon erlebt, und ich weiß auch, daß sie sich nicht lange von einer Stola aus Rauch aufhalten lassen, wie sie die beiden Typen umgab). Ich hörte Gekicher, und es duftete nach Marihuana. Langsam beruhigte ich mich.

»Dichter García Madero, dir hängt was aus der Hose.«

»Wie?«

»Hi, hi, hi.«

»Der Schwanz … dir hängt der Schwanz aus der Hose.«

Ich griff nach meinem Hosenstall. Und wahrhaftig. In der Eile und dem Schrecken hatte ich nicht daran gedacht, das Vögelchen wieder zu verstauen. Ich wurde rot, und ein Schwall von Schimpfwörtern fiel mir ein. Aber ich hielt mich zurück, rückte die Hose zurecht und ging auf sie zu. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor, und ich spähte angestrengt durch den dunklen Nebel, der sie umgab, um ihre Gesichter zu erkennen. Es war vergeblich.

Jetzt kam zuerst eine Hand und danach ein ganzer Arm aus der Rauchwolke, die uns einhüllte, und offerierte mir einen Joint.

»Ich rauche nicht«, sagte ich.

»Das ist Gras, Dichter García Madero. Golden Acapulco.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich mag nicht.«

Aus einem Zimmer, das anscheinend neben der Toilette lag, kamen plötzlich laute Geräusche, die mich zusammenfahren ließen. Jemand redete sehr laut. Ein Mann. Dann schrie eine Frau. Brígida. Ich stellte mir den Boß der Bar vor, wie er sie zusammenschlug, und mein erster Impuls war, zu ihrer Verteidigung davonzustürzen, obwohl mir Brígida ehrlicherweise ziemlich (eigentlich vollkommen) gleichgültig war. Als ich mich schon abwendete, packten mich jedoch die Unbekannten und hielten mich fest. Und dann tauchten ihre Gesichter aus der Wolke auf. Es waren Ulises Lima und Arturo Belano.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, fast hätte ich in die Hände geklatscht, ich erzählte, seit Tagen schon suchte ich nach ihnen, und dann machte ich wieder Anstalten, der schreienden Frau zu Hilfe zu eilen, aber sie ließen mich nicht los.

»Misch dich da nicht ein. Die sind so.«

»Wer, die?«

»Die Kellnerin und ihr Boß.«

»Aber er schlägt sie«, sagte ich, und tatsächlich, die Ohrfeigen waren klar und deutlich zu hören. »Das darf man doch nicht hinnehmen.«

»Herrje, ein richtiger Dichter, García Madero«, rief Ulises Lima.

»Sicher, das darf man nicht hinnehmen, aber Geräusche können uns auch täuschen. Tu mir den Gefallen und vertraue uns«, sagte Belano.

Anscheinend wußten sie über das Encrucijada Veracruzana bestens Bescheid; ich hätte sie gern noch mehr gefragt, aber ich wollte nicht aufdringlich erscheinen.

Als wir aus der Toilette kamen, taten mir vom Licht in der Bar die Augen weh. Einige sangen zu der Melodie des blinden Akkordeonspielers, ein Bolero, so schien mir, in dem von verzweifelter Liebe die Rede war, einer Liebe, die die Jahre nicht auslöschen konnten, obwohl sie mit der Zeit unwürdig, schmutzig, schrecklich wurde. Lima und Belano trugen jeder drei Bücher unter dem Arm und sahen wie Studenten aus, genau wie ich selbst. Bevor wir gingen, stellten wir uns nebeneinander an den Tresen, verlangten drei Tequilas, die wir in einem Zug austranken, und verließen danach unter Gelächter das Lokal. Draußen auf der Straße blickte ich mich ein letztes Mal um, in der vergeblichen Hoffnung, Brígida aus der Tür der Kneipe treten zu sehen, aber sie ließ sich nicht blicken.

Ulises Lima trug folgende Bücher:

Manifeste electrique aux paupières de jupes, von Michel Bulteau, Mathieu Messagier, Jean-Jacques Faussot, Jean-Jacques N’Guyen That, Gyl Bert-Ram-Soutrenom F.M. und anderen Dichtern aus der Elektrischen Bewegung, unseren Gesinnungsgenossen in Frankreich (wie ich annehme).

Sang de Satin, von Michel Bulteau.

Nord d’été naître opaque, von Mathieu Messagier.

Arturo Belanos Bücher waren:

Le parfait criminel, von Alain Jouffroy.

Le pays où tout est permis, von Sophie Podolski.

Cent mille milliards de poèmes, von Raymond Queneau (letzteres in einer Fotokopie, deren horizontale Einschnitte zusammen mit den völlig zerlesenen Blättern eine seltsame Papierblume daraus machten, mit in alle vier Himmelsrichtungen abstehenden Blütenblättern).

Später trafen wir uns mit Ernesto San Epifanio, der auch drei Bücher unter dem Arm trug. Ich bat ihn, sie mir zu zeigen. Es waren:

Little Johnny’s Confession, von Brian Patten.

Tonight at Noon, von Adrian Henri.

The Lost Fire Brigade, von Spike Hawkins.

11. November

Ulises Lima lebte in einer Dachkammer in der Calle Anáhuac, in der Nähe der Avenida de Insurgentes. Das Zimmerchen ist eng, drei Meter mal zwei Meter fünfzig, und überall stapeln sich die Bücher. Durch ein Fensterchen, klein wie ein Bullauge, hat man einen Ausblick auf die benachbarten Mansarden, wo, laut Carlos Monsiváis, wie Ulises Lima behauptet, immer noch Menschenopfer stattfinden. Im Zimmer gibt es nur eine Matratze, die Lima tagsüber oder wenn Besuch kommt zusammenrollt und als Sofa benutzt; außerdem gibt es noch einen winzigen Tisch, auf dem neben seiner Schreibmaschine nichts anderes Platz hat, und einen Stuhl. Die Besucher müssen offenbar entweder auf dem Sofa Platz nehmen oder auf dem Fußboden oder stehen bleiben. Heute waren wir zu fünft. Lima, Belano, Rafael Barrios und Jacinto Requena, und den Stuhl okkupierte Belano, auf der Matratze saßen Barrios und Requena, Lima stand die ganze Zeit (hin und wieder ging er sogar einige Schritte durch sein Zimmer), und ich nahm auf dem Fußboden Platz.