Über das Buch

In seinem Roman Zickzackkind - im Hanser Kinderbuchprogramm erschienen - greift Grossman das Thema des Erwachsenwerdens erneut auf: Bevor Nono seine Bar-Mizwa hat und erwachsen wird, muss er eine abenteuerliche Reise bestehen, auf der er seinen Großvater, einen langjährigen Ganoven, kennen lernt, die Wahrheit über die Liebesgeschichte seiner Eltern erfährt und langsam begreift, dass er von nun an sein Leben selbst in die Hand nehmen muß.

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David Grossman

Zickzackkind

Aus dem Hebräischen von

Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling

Carl Hanser Verlag

1

Der Zug blies sein Signal und setzte sich in Bewegung. Ein Junge stand in einem der Waggons am Fenster und sah den Mann und die Frau an, die ihm vom Bahnsteig winkten, der Mann mit einer Hand, knapp und verstohlen, die Frau mit beiden Armen und einem riesigen, roten Tuch. Der Mann war der Vater des Jungen, und die Frau war Gabriella, besser gesagt, sie war Gabi. Der Mann trug eine Polizeiuniform, denn er war Polizist. Die Frau trug ein schwarzes Kleid, denn Schwarz macht schlank. Auch Kleider mit Längsstreifen sind vorteilhaft. »Aber was die beste Figur macht«, pflegte Gabi zu lachen, »ist neben jemandem zu stehen, der dicker ist als ich, aber dem bin ich noch nicht begegnet.«

Der Junge am Zugfenster, der abfuhr und sich von den beiden entfernte, sie betrachtete wie ein Bild, das er niemals wiedersehen würde — war ich. Nun würden sie zwei Tage lang allein sein, dachte ich. Alles war verloren.

Der Gedanke daran verfing sich in meinem Haar und zog mich weiter und weiter aus dem Fenster. Vaters Mund begann sich zu jener Grimasse zu verzerren, die Gabi die letzte Verwarnung nannte. Was ging es mich an. Wenn er sich wirklich um mich sorgte, sollte er mich nicht für zwei Tage nach Haifa schicken, ganz davon zu schweigen, zu wem.

Auf dem Bahnsteig pfiff ein Mann in Eisenbahneruniform mit einer schrillen Trillerpfeife in meine Richtung, während er mir mit rudernden Armen Zeichen machte, den Kopf zurückzuziehen. Daß Männer mit Schirmmützen und Trillerpfeifen immer wieder gerade mich ausmachen mußten, sogar in einem besetzten Zug! Ich zog ihn nicht zurück. Im Gegenteil. Vater und Gabi sollten mich bis zum letzten Moment vor Augen haben. Sollte ihnen das Kind nur im Gedächtnis bleiben!

Der Zug rollte noch durch den Bahnhof. Langsam fuhr er durch Wellen heißer, schwerer Luft und den Geruch nach Diesel. Neue Gefühle stiegen in mir hoch. Der Duft der weiten Welt. Freiheit. Ich fahre weg! Ich bin allein! Ich hielt eine Wange hin, dann die andere, ließ mir vom warmen Wind das Gesicht streicheln, wollte seinen Kuß loswerden. Noch nie hatte er mich so vor allen Leuten umarmt. Was küßte er mich, um mich dann wegzuschicken?

Nun trillerten mir schon drei Pfeifen den Bahnsteig entlang hinterher. Ein Orchester hatte ich mir bestellt. Weil Vater und Gabi nicht mehr zu erkennen waren, zog ich meinen Oberkörper zurück, gleichgültig und ohne Eile, um klarzustellen, daß ich auf die Trillerpfeifen pfiff.

Ich ließ mich auf den Sitz fallen. Wenn wenigstens noch jemand im Abteil gewesen wäre. Was nun? Vier Stunden Fahrzeit von hier bis Haifa, und am Ende der Strecke Dr. Schmuel Schilhav, finster, händeringend und an mir verzweifelt, Lehrer und Pädagoge, Verfasser von sieben Werken zum Thema Erziehung und Staatsbürgerkunde und durch einen unglücklichen Umstand mein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters.

Ich stand auf. Untersuchte zweimal, wie man das Fenster öffnete und schloß. Klappte den Abfallbehälter auf und zu. Im Abteil gab es sonst nichts, was sich öffnen und schließen ließ. Alles war in einem ordnungsgemäßen Zustand. Ohne Zweifel, der Zug entsprach dem neuesten Stand der Technik.

Dann stieg ich auf die Sitzbank, streckte mich, schaffte es, mich in voller Länge auf die oberste Gepäckablage zu wuchten, ließ mich kopfüber hinunter auf den Boden des Abteils und prüfte, ob jemand zufällig etwas Geld unter den Sitzen verloren hatte. Er hatte nichts verloren, Jemand war gewissenhaft.

Zur Hölle mit Vater und Gabi, mich so an Onkel Schmuel auszuliefern, und das eine Woche vor der Bar Mizwa. Nun gut, Vater empfand Hochachtung vor seinem ältesten Bruder und bewunderte dessen Kompetenz in Sachen Erziehung. Aber Gabi? Die ihn hinter seinem Rücken Uhu nannte? War dies das einzigartige Geschenk, das sie mir versprochen hatte?

Das Lederpolster meines Sitzplatzes hatte ein kleines Loch. Ich steckte einen Finger hinein und machte daraus ein großes Loch. An solchen Stellen findet sich gelegentlich ein Geldstück. Ich fand jedoch nichts außer Schaumgummi und Sprungfedern. In vier Stunden vermochte ich mich mit dem Finger durch wenigstens drei Abteile zu arbeiten, einen Tunnel in die Freiheit zu bohren, zu verschwinden und nicht bei Schmuel Schilhav (ehemals Fejerberg) anzukommen, und dann würden wir ja sehen, ob sie mich abermals losschicken würden.

Mein Finger war erledigt, lange bevor die drei Abteile erledigt waren. Ich legte mich, Beine in die Höhe, auf die Sitzbank. Eingesperrt war ich. Ein mobiler Gefangener. Auf dem Transport zum Gericht. Mein Bargeld fiel mir aus der Tasche. Die Münzen rollten durch das Abteil. Einen Teil fand ich wieder, einen Teil nicht.

Jedes der jüngeren Familienmitglieder hatte einmal im Leben diese gnadenlose Behandlung durch Onkel Schilhav über sich ergehen lassen müssen, diese Folterzeremonie, die Gabi die Anfeuerung nannte. Für mich jedoch würde es das zweite Mal sein. In der Geschichte hat es kein Kind gegeben, das sie zweimal durchmachte, ohne daß die Seele dabei Schaden genommen hätte. Ich schwang mich auf die Bank und begann, an die Wand des Abteils zu trommeln. Später ging ich dazu über, einen Takt zu klopfen. Möglicherweise saß im Nachbarabteil ein ebenso elender Inhaftierter wie ich, der daran interessiert war, mit einem Leidensgenossen zu korrespondieren? Vielleicht war der Zug überhaupt besetzt mit jugendlichen Straftätern, die geschlossen zu meinem Onkel gebracht wurden? Ich hämmerte erneut, diesmal mit dem Fuß. Wer kam, war der Schaffner, der brüllte, ich solle stillsitzen. Ich saß still.

Die letzte Anfeuerung reichte mir für den Rest meines Lebens. Sie geschah, nachdem mir die Sache mit der Kuh Pesja Mautner unterlaufen war. Damals hatte sich Vaters Bruder mit mir in eine enge, stickige Kammer begeben und sich mir erbarmungslos zwei volle Stunden lang gewidmet. Er hatte seine Unterweisung wohlwollend und in gedämpftem Flüsterton begonnen und sogar meinen Namen gewußt, aber nach ein paar Minuten war ihm passiert, was ihm stets passierte, er vergaß ganz und gar, wo er sich befand und in wessen Begleitung, und er wähnte sich auf einer großen Bühne, am Versammlungsort der Stadt, vor einer großen Zuhörerschaft aus Schülern und Getreuen, die sich allesamt eingefunden hatten, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Und nun — das Ganze noch einmal. Einfach so. Ohne Verfehlung meinerseits. »Vor der Bar Mizwa mußt du dir anhören, was Onkel Schmuel dir zu sagen hat«, hatte Gabi gemeint. Auf einmal war er Onkel Schmuel.

Dabei wußte ich: Gabi wollte mich nur aus dem Weg räumen, um meinem Vater den Laufpaß geben zu können.

Ich stellte mich hin. Stand aufrecht. Taumelte. Setzte mich wieder. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich kannte sie. Wenn ich nicht in der Nähe war, würden sie streiten und sich schreckliche Dinge an den Kopf werfen, und nichts wäre wiedergutzumachen, und es war mein Los, über das dort zur Zeit bestimmt wurde.

»Warum sprechen wir nicht auf der Arbeit darüber?« fragt mein Vater Gabi gerade. »Ich bin spät dran.«

»Weil auf der Arbeit immer lauter Leute im Zimmer sind und ständig jemand dazwischen klingelt und man dort nicht miteinander reden kann. Komm, laß uns in ein Café gehen!«

»In ein Café?« wundert sich Vater. »Am hellichten Tag? So ernst ist die Lage?«

»Hör auf, dich über alles lustig zu machen!« wird sie ungehalten, und ihre gerötete Nasenspitze deutet bereits auf Tränen hin.

»Wenn es wieder um die Sache geht —«, sagt Vater und seine Stimme wird hart, »dann vergiß es. Bei mir hat sich, seit wir darüber gesprochen haben, nichts geändert. Ich bin noch nicht soweit.«

»Diesmal wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe«, sagt Gabi, »und du wirst mich ausreden lassen. Wenigstens zuhören wirst du mir!«

Sie steigen in den Streifenwagen, und Vater läßt den Motor an. Die Dienstgrade auf seinen Schultern glänzen warnend. Seine Miene ist verschlossen. Gabi ist in sich zusammengesunken. Obwohl sie ihre Aussprache nicht einmal begonnen haben, sind sie schon mitten im Gefecht. Gabi holt einen kleinen, runden Spiegel aus ihrer Tasche. Schaut für einen kurzen Moment in das Gesicht, das ihr entgegenblickt. Versucht, das Dickicht ihres gewellten Haares, den gekräuselten Hügel, an den Kopf zu drücken. Affenfratze, denkt sie bei sich.

»Falsch!« fuhr ich in dem fahrenden Zug hoch. Nie ließ ich zu, daß sie sich selbst beleidigte. »Du hast ein interessantes Gesicht.« Und wenn ich spürte, daß ich sie wenig überzeugte, fügte ich gewöhnlich hinzu: »Was zählt, ist allein deine innere Schönheit.«

»Das kennen wir schon«, antwortete sie dann sauertöpfisch. »Das Komische daran ist nur, daß es keinen Wettbewerb für die Wahl zur Miss Innere Schönheit gibt.«

Plötzlich fand ich mich neben dem kleinen, roten Hebel wieder, der in der Nähe des Fensters an der Wand befestigt war. In meiner Lage war dies kein guter Standort. Solch ein Hebel konnte, wenn man durch Zufall daran zog, einen ganzen Zug zum Stehen bringen. Ich las die Warnung der Bahndirektion. Nur im Notfall war es erlaubt, den Hebel zu bedienen. Hohes Bußgeld und eine Haftstrafe erwarteten den, der ohne Grund den Zug anhielt. Es begann, mir in den Fingern zu kribbeln. In jeder Fingerspitze und auch in den Zwischenräumen. Ich las nochmals, laut und deutlich, die ausdrückliche Warnung. Es half nichts. Auch meine Handflächen begannen zu schwitzen. Ich steckte sie in die Taschen. Aber unverzüglich schlüpften sie wieder heraus, und wer sie nicht kannte, hätte meinen können, unschuldige Gliedmaßen wünschten etwas frische Luft. Ich schwitzte aus sämtlichen Poren. Ich faßte an die Kette um meinen Hals. Eine Revolverkugel hing daran, schwer, kühl und beruhigend. Sie stammt aus dem Körper deines Vaters, sagte ich mir tonlos, aus seiner Schulter wurde sie geholt, sie bewahrt dich vor dem Unfug, aber mein ganzer Leib juckte bereits.

Ich kannte dieses Gefühl und wußte, worauf es hinauslief. In mir begann es zu arbeiten: Vielleicht würde der Lokomotivführer gar nicht wissen, in welchem Abteil man den Hebel bedient hatte? Aber was, wenn es in der Lok ein Instrument gab, das anzeigte, wo er betätigt worden war? Gut, ich konnte hier ziehen und schnell in ein anderes Abteil rennen. Aber was war, wenn man meine Fingerabdrücke auf dem Hebel fand? Vielleicht war es besser, sich vorher ein Tuch um die Hand zu wickeln?

Auf diese Art von Debatte durfte ich mich nicht einlassen. Wenn ich erst begann, so zu argumentieren, blieb ich stets auf der Strecke. Ich spannte die Rückenmuskeln und stand da wie Vater, breitschultrig und stämmig wie ein Bär, und befahl mir, Ruhe zu bewahren. Aber nichts wollte helfen. Zwischen den Augen hatte ich einen warmen Punkt, der sich in solchen Momenten noch mehr erhitzte, und da kam es auch schon, überwältigte mich, und im letzten Augenblick ging ich in die Knie, knotete meine Arme um die Beine und warf mich zusammengerollt auf den Sitz. Gabi nannte diese von mir entwickelte Technik Vorbeugehaft. Für alles hatte sie einen eigenen Namen.

»Ich bin kein Kind mehr«, sagt sie gerade in dem Café zu Vater, »und ich lebe nun schon zwölf Jahre mit dir und Nono.« Bis jetzt hat sie ihre Stimme unter Kontrolle, und sie redet ruhig und sachlich: »Zwölf Jahre lang ziehe ich ihn groß und sorge für euch beide und für euer Heim. Ich kenne dich wie niemand sonst auf der Welt, und trotzdem will ich richtig mit dir zusammenleben. Nicht nur bei der Arbeit für den Schreibkram dasein und daheim für die Küche und die Bügelwäsche. Ich will mit euch unter einem Dach wohnen. Will auch nachts Nonos Mutter sein. Sag mir, wovor hast du solche Angst?«

»Ich bin noch nicht soweit«, sagt Vater und klemmt die Kaffeetasse zwischen seine wuchtigen Pranken.

Gabi wartet einen Moment und atmet tief durch, bevor sie sagt: »Und ich kann so nicht mehr weitermachen.«

»Sieh mal, eh … Gabi«, sagt Vater, und sein Blick wandert nervös und voller Ungeduld über ihre Schulter, »woran fehlt es uns denn? Wir haben uns an dieses Leben gewöhnt, es ist gut für uns drei, auch für das Kind. Warum muß man es plötzlich ändern?«

»Weil ich schon vierzig bin, Jakob, und ein erfülltes Leben leben will, ein echtes Familienleben.« Nun fängt ihre Stimme an, sich zu überschlagen: »Und ich möchte, daß du und ich ein eigenes Kind haben. Eins von mir und von dir. Ich will wissen, was für ein neuer Mensch dabei herauskommt, wenn wir zwei uns verbinden. Und wenn wir noch ein Jahr warten — bin ich eventuell schon zu alt. Ich bin auch der Meinung, daß Nono eine Mutter verdient, die immer für ihn da ist, nicht nur eine Halbtagsmutter!«

Was sie da sagte, wußte ich auswendig. Sie hatte ihre Rede mit mir zusammen gepaukt. Ich war es, der den herzzerreißenden Satz »Will auch nachts Nonos Mutter sein« beigesteuert hatte. Ich hatte ihr auch einen praktischen Ratschlag erteilt: daß sie nicht weinen sollte. Daß sie ihm um Himmels willen bloß nichts vorheulen sollte! Denn wenn sie anfängt zu triefen — ist sie verloren. Vater kann ihre Tränen nicht ausstehen. Tränen im allgemeinen.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, Gabi«, seufzt er in diesem Moment und schaut verstohlen auf seine Uhr. »Gib mir noch ein wenig Zeit. Man kann eine derartige Entscheidung nicht unter Druck fällen.«

»Ich warte schon zwölf Jahre, und länger werde ich mich nicht gedulden.«

Schweigen. Er antwortet nicht. Und in ihren Augen steigt bereits die Flut. Wenn sie sich nur beherrscht. Reiß dich zusammen, hörst du?!

»Jakob, sag es mir jetzt offen ins Gesicht: ja oder nein?«

Schweigen. Ihr üppiges Doppelkinn zittert. Ihre Lippen verziehen sich. Wenn sie anfängt zu heulen, ist sie aufgeschmissen. Und ich mit ihr.

»Denn wenn deine Antwort nein ist, stehe ich auf und gehe. Und diesmal ist es endgültig. Nicht wie sonst. Diesmal-ist-es-endgültig!« Und sie haut außer sich auf den Tisch, die Tränen überschwemmen bereits ihr rundes Gesicht, und ihre Wimperntusche tropft auf die Sommersprossen, sammelt sich in den beiden tiefen Rinnen um ihren Mund, und Vater dreht den Kopf naserümpfend zum Fenster, denn er kann es nicht leiden, wenn sie weint, vermutlich mag er sie nicht ansehen, wenn sie in dieser Verfassung ist, mit den Tränen und den geschwollenen Augen und den speckigen, bebenden Wangen.

In diesem Augenblick sieht sie nicht gut aus. Es war ein himmelschreiendes Unrecht, denn wäre sie schön, und sei es nur ein klein wenig, hätte sie etwa einen zierlichen, süßen Mund oder eine Stupsnase, hätte Vater vielleicht plötzlich Zuneigung empfunden zu dem einen hübschen Ding an ihr. Manchmal kann ein winziger Schönheitsfleck der Grund dafür sein, daß jemand sich in jemanden verliebt, auch wenn es sich nicht um die äußere Schönheitskönigin handelt. Aber wenn Gabi weinte, hatte sie nicht mal einen solchen Schönheitsfleck vorzuweisen. Das mußte selbst ich bekümmert zugeben.

»In Ordnung, ich habe verstanden«, seufzt sie durch das rote Tuch, das vordem edleren Zwecken gedient hatte, »ich bin solch ein Esel, daß ich geglaubt habe, bei dir könnte sich überhaupt je etwas ändern.«

»Pst …«, bittet er und sieht sich beklommen um. Ich wünsche ihm, daß zu diesem Zeitpunkt alle Leute in dem Café ihn anstarren. Daß sämtliche Kellner und Köche und Kaffeekocher aus der Küche kommen und mit Schürzen und verschränkten Armen um ihn herumstehen und ihn mustern. Wenn es etwas gab, das ihm Angst einjagte — dann war es, so im Rampenlicht zu stehen. »Sieh mal, eh, Gabi«, versucht er, sie zu besänftigen. In diesem Moment ist er plötzlich sanft, sei es, weil Leute um sie herumstehen, sei es, weil er spürt, daß es ihr diesmal ernst ist: »Laß mir noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken, heh?«

»Wozu? Damit du, wenn ich fünfzig bin, noch ein wenig Bedenkzeit von mir erbitten kannst? Und wenn du mir dann sagst, daß ich verschwinden soll? Wer wird mich dann noch beachten? Außerdem möchte ich Mutter werden, Jakob!« Er würde sich wegen der Blicke der Leute am liebsten verkriechen, aber Gabi ist nicht mehr zu bremsen: »Ich kann einem Kind viel Liebe geben, und dir auch! Sieh nur, wie ich Nono die Mutter sein kann. Warum versuchst du nicht, auch mich zu verstehen?«

Auch wenn sie mir vortrug, was sie ihm mitteilen würde, pflegte Gabi sich im Nu zu vergessen und von ihrem Kummer mitreißen zu lassen, zu jammern und mich anzuflehen, als wäre ich er. Gewöhnlich hörte sie dann aus heiterem Himmel auf, wurde rot und redete sich heraus, es gäbe Dinge, die wahrlich noch nichts für mein Alter seien, wobei ich ohnehin schon alles wüßte.

Ich wußte nicht alles, aber einiges habe ich auf diesem Weg erfahren.

Sie sammelt die feuchten Papiertaschentücher auf und quetscht sie mit Nachdruck in den Aschenbecher. Sie wischt den Rest der Schminke aus ihren verquollenen Augen.

»Heute haben wir Montag«, sagt sie, und ihre Stimme kämpft dagegen an, zu kippen. »Die Bar Mizwa ist am Samstag. Ich gebe dir Zeit bis zum nächsten Sonntagvormittag. Du hast eine ganze Woche, um dich zu entscheiden.«

»Du stellst mir ein Ultimatum? Ich lasse mich nicht erpressen, Gabi! Ich hielt dich für gescheiter.« Er versprüht seine Worte gelassen, zwischen seinen Augen vertieft sich jedoch die furchtbare Zornesfalte.

»Mir fehlt die Kraft, länger zu warten, Jakob. Zwölf Jahre lang bin ich gescheit gewesen und bin allein geblieben. Vielleicht komme ich mit Dummheit weiter.«

Mein Vater schweigt. Sein rotes Gesicht ist jetzt noch roter.

»Komm, fahren wir zur Arbeit«, sagt sie mit heiserer Stimme. »Und im übrigen, wenn deine Antwort die ist, von der ich annehme, daß sie es sein wird, rate ich dir, auch nach einer neuen Schreibkraft zu suchen. Dann sehe ich mich nämlich gezwungen, sämtliche Beziehungen zu dir abzubrechen. Basta.«

»Sieh mal, eh … Gabi«, sagt Vater erneut. Das ist alles, was er fertigbringt: Sieh mal, eh … Gabi.

»Bis nächsten Sonntag«, bestimmt Gabi, steht auf und geht aus dem Café.

Sie verläßt uns.

Sie verläßt mich.

Im Zug sprengten meine Arme und Beine die Vorbeugehaft, Notfall. Notfall, kreischten die roten Worte neben dem kleinen Hebel. Der Zug brachte mich weg, und dort ging mein Leben in die Brüche. Ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu und schrie mich an, Amnon Fejerberg! Amnon Fejerberg! Als ob jemand von außen versuchte, mich zu warnen, den Hebel ja nicht anzufassen, mich vor mir selbst in Sicherheit zu bringen, jemand wie Vater oder ein Lehrer oder ein renommierter Pädagoge oder gar der Direktor der Jugendstrafvollzugsanstalt, Amnon Fejerberg! Amnon Fejerberg! Aber ich war schon nicht mehr zu retten. Ich war allein. Meinem Schicksal ausgeliefert. Ich hätte nicht fahren dürfen. Ich mußte augenblicklich umkehren. Auf der Stelle. Wankend steuerte ich auf den Hebel zu, streckte die Hand nach ihm aus, meine Finger berührten ihn bereits, denn dies war wahrhaftig ein Notfall.

Aber da, als ich gerade mit aller Kraft an dem Hebel reißen wollte, öffnete sich hinter mir die Tür, und das Abteil betraten ein Zuchthäusler und ein Polizist. Sie standen dort, sahen einander an und schienen ziemlich verstört.

2

Ein echter Polizist und ein waschechter Häftling. Der Polizist klein, schmalbrüstig und mit fahrigem Blick. Der Häftling groß und kräftig. Er lächelte mir zu und sagte liebenswürdig: »Guten Morgen, Kleiner! Na, fährst du zur Oma?«

Ich wußte nicht, ob ich nach dem Gesetz dazu berechtigt war, ihm Auskunft zu erteilen. Und überhaupt, wie kam er auf Oma? Sah ich etwa aus wie ein Kind auf dem Weg zur Großmutter? Etwa wie Rotkäppchen?

»Mit dem Häftling wird nicht gesprochen!« befahl der Polizist unwirsch und fuchtelte mit seinem mageren Arm ein paarmal kräftig zwischen mir und dem Häftling hin und her, als ob es darum ginge, Fäden zu zerreißen, die zwischen uns gesponnen wurden.

Unschlüssig setzte ich mich. Je mehr ich mich bemühte, nicht zu den beiden hinzusehen, desto schwerer fiel mir die Beherrschung. Sie schienen bekümmert. Irgend etwas bedrückte sie. Der Polizist überprüfte immer wieder die Fahrkarten und kratzte sich verlegen am Kopf. Auch der Häftling sah nach, und auch er kratzte sich den Kopf. Sie sahen aus wie zwei Schauspieler, die die Aufgabe hatten, »Hirnzermartern« darzustellen.

»Es will mir nicht in den Kopf, warum Sie separate Platzkarten genommen haben«, klagte der Strafgefangene, und der Polizist zuckte mit den Schultern und erklärte, der Schalterbeamte habe kein Wort darüber verloren, daß die Plätze nicht nebeneinanderlagen. Er, der Polizist, sei sich sicher gewesen, daß sie beisammen liegen würden. Er hatte gedacht, niemand würde auf die Idee kommen, an zwei wie sie separate Platzkarten auszustellen, und als er »zwei wie uns« sagte, hob er den rechten Arm, der durch eine Handschelle mit dem linken Arm des Häftlings verbunden war.

Es war ein seltsames Schauspiel. Sie nahmen sich aus wie die Gefängniswärter und Sträflinge in Karikaturen: Der Häftling trug einen gestreiften Kittel und eine gestreifte Kappe, der Polizist eine Schirmmütze, die zu groß war und ihm ständig in die Augen rutschte. Die beiden standen mitten im Abteil, schwankten gemeinsam im Takt des fahrenden Zuges und schienen ratlos. Aus irgendeinem Grund verursachten sie mir Unbehagen.

Vorerst trachteten sie, die Plätze zu belegen, die auf ihren Platzkarten angegeben waren. Der Häftling ließ sich neben mir nieder, der Polizist mir gegenüber, aber die gemeinschaftliche Handschelle zwang sie, sich tief aufeinander zu zu beugen. Sie standen miteinander auf, und wieder wiegten sie sich einträchtig im Rhythmus des Zuges, und als ob dieses Schaukeln sie einsäuselte, sank der Kopf des Häftlings ein wenig und ruhte nahezu auf der Schulter des Polizisten, der ebenfalls in Kürze einzunicken schien. Mir war, als müsse ich aufstehen, aus dem Abteil gehen und einen Erwachsenen um Beistand bitten, denn diese beiden kamen mir nicht wie wirkliche Erwachsene vor, auch nicht wie Kinder, sie waren etwas, das sich nicht genau bestimmen ließ.

Plötzlich schüttelte der Polizist den seltsamen Schlaf ab und flüsterte dem Häftling etwas ins Ohr, das ich nicht verstand. Sie sprachen über mich, denn der Häftling warf mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu, den Blick eines unzugänglichen Häftlings: »Auf keinen Fall!« zischte er lautlos. »Kommt nicht in Frage! Schließlich haben wir numerierte Platzkarten!«

Der Polizist versuchte, ihn zu besänftigen, und gab ihm zu verstehen, daß das Abteil ohnehin fast gähnend leer sei und sie in ihrer außergewöhnlichen Lage sicherlich auch Plätze belegen dürften, auf die sie keinen Rechtsanspruch hätten. Der Häftling wollte nichts davon hören. »Ordnung muß sein!« sagte er aufgebracht. »Wenn wir das Gesetz nicht achten, wer dann?« Als er wütend mit dem Fuß aufstampfte, sah ich, daß eine dicke Eisenkugel daran hing, wie man sie in Büchern Gefangenen anschweißt.

Ich muß raus, dachte ich. Das hier war nichts für mich.

»Niemand wird es merken, wenn wir für ein paar Minuten Plätze besetzen, die uns nicht zustehen!« raunte der Polizist ungehalten, während er mir einen anbiedernden Blick zuwarf, den Blick eines Gefängniswärters, an dem Gewissensbisse nagen, und mit einem schrägen Lächeln sagte er: »Du wirst doch nicht petzen, Süßer, oder?«

Ich nickte, denn ich brachte kein Wort über die Lippen. Aber in meinem Innern notierte ich: Den »Süßen« werde ich ihm so schnell nicht vergessen.

Die beiden nahmen zu meinen Seiten Platz.

Das ganze Abteil stand ihnen zur Verfügung, aber nein, sie setzten sich zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Ihre Hände, die mit einer doppelten Eisenschelle verbunden waren, ruhten um ein Haar auf meinen Beinen. Das Ganze war geradezu unheimlich. Als ob sie sich abgesprochen hätten, mich einzuschüchtern, ohne mir besondere Beachtung zu schenken. Für ein paar Minuten herrschte vollkommene Stille. Ich schielte fortwährend nach unten und war fassungslos: Über meinen Knien baumelten im Takt des fahrenden Zuges zwei Arme, der eine dürr und haarig, der andere glatt und feist, das Gesetz und die Missetat, wobei der Arm des Gesetzes entschieden schwächer und kürzer war.

Ich wußte nicht, wovor mir bang war. Schließlich hatte ich das Gesetz an meiner Seite, es lehnte sich förmlich an mich, gleichwohl hatte ich das Gefühl, daß eine rätselhafte Falle über mir zuschnappte: daß diese beiden mich zu ihrem Komplizen machten in einem zwielichtigen Komplott.

Die zwei an meinen Seiten hingegen waren verstummt. Der Polizist lehnte seinen Kopf an das Rückenpolster und summte eine verschnörkelte Melodie, und um bei den hohen Tönen nachzuhelfen, drehte er mit der freien Hand an den Spitzen seines gezwirbelten Schnurrbartes. Der Häftling sah aus dem Fenster auf die vorbeijagende Landschaft, die felsigen Berge von Jerusalem, während er abgrundtiefe Seufzer ausstieß.

»Wenn jemand deinen Verdacht erregt, wenn er dich argwöhnisch macht, warte gelassen. Kein überflüssiges Wort! Rühre dich nicht unnötig! Laß ihn reden und laß ihn machen! Locke ihn in einen stillen Hinterhalt! Warte, bis er seine Absichten verrät!« Das waren die Worte meines Vaters, meines Lehrmeisters in Sachen »Wie werde ich ein Profi«. Ich atmete tief durch. Hier war sie, die erste Gelegenheit, mich in einer realen Situation zu bewähren. Ich würde sie ignorieren. Ich würde so tun, als sei alles in Ordnung, bis sie den ersten Fehler machten.

Ein Blick nach rechts. Ein Blick nach links. Alles unverändert. Das Ganze mußte ein großer Irrtum sein, aber ich kam nicht dahinter, was es war.

Ich muß mich auf das Treffen mit Onkel Schmuel vorbereiten, redete ich mir ein. Beim letzten Mal, vor einem Jahr, hatte er mich zwei Stunden lang bearbeitet, das würde ich nicht noch einmal überstehen. Zwei volle Stunden lang hatte ich mir ansehen müssen, wie sich seine fleischigen Lippen vor mir bewegten, sich unter seinem kleinen Schnurrbart öffneten und schlossen, manchmal gar darüber. Ich wußte, daß die gesamte Forschungsarbeit und die Gesamtheit der Veröffentlichungen meines Onkels gegen mich oder Kinder meiner Sorte gerichtet waren. Da, in jenem kleinen Raum, saß er Jahr um Tag und faßte sie gegen mich ab. Möglicherweise besaß er überdies eine Farbvergrößerung von mir mit dem Aufdruck: Das Erziehungsministerium bittet um Mithilfe! Und nun war ich ihm in die Hände gefallen, ein Mann wie er würde sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen lassen. Mir wurde in der Kammer eng und schummrig, nach und nach füllte sie sich mit zahllosen wulstigen Lippenpaaren, die blitzartig auf- und zugingen und Onkel um Onkel aus der Familie der Lippenblütler ausspien. Bücher und Hefte um mich herum erzitterten und raschelten im Takt meinen Namen. Ich fühlte, daß ich mir jeden Moment eine Erziehungsvergiftung einhandeln würde.

Es gelang mir nicht mehr, seine Worte auseinanderzuhalten. Mir schien, daß er mir unterstellte, mit den Propheten Baal und Astarte gemeinsame Sache gemacht oder an den Pogromen irgendeines Chmielnicki beteiligt gewesen zu sein. Die ganze Geschichte hatte er auf seiner Seite, und ich war schon bereit, alles zu gestehen.

Endlich, nach zwei schnurrbärtigen Stunden, fiel mir ein, was Gabi mir geraten hatte: »Weine«, hatte sie mir in der Nacht vor der Abfahrt zugeflüstert, »wenn es unerträglich wird, weine bittere Tränen und warte ab, was geschieht.«

Ein Blick nach links. Ein Blick nach rechts. Nichts. Polizist und Häftling saßen regungslos da. Jeder einer anderen Richtung zugewandt. Vielleicht war wirklich nichts dabei. Womöglich war ich ein wenig nervös, weil ich ohne Begleitung unterwegs war. Aber vielleicht waren auch sie in psychologischer Kriegsführung geschult.

Ich rief mir wieder Onkel Schmuel in Erinnerung und wie es mir das letzte Mal ergangen war.

Gewöhnlich fiel es mir nicht schwer, mich aus freien Stücken zum Weinen zu bringen, und angesichts des tobenden Onkels war ich tatsächlich zutiefst betrübt. Mit Leichtigkeit vermochte ich meinen Hals zusammenzupressen und jenen Kloß hochzuwürgen, der konzentriert und bitter all das enthielt, was mir geschehen war, was man mir gesagt hatte und was ich vermißte.

Ich begann, ein kleines, gedämpftes Winseln hören zu lassen. Um noch kummervoller zu werden, rief ich mir in Erinnerung, wie Vater gesagt hatte, daß er nicht mehr wüßte, was er mit einem Kind wie mir anstellen solle. Immer wenn ich scheinbar Anstalten machte, erwachsen und stetig zu werden, würde ich auf der Stelle rückfällig und rutschte ab, und überhaupt, wie war es möglich, daß aus einem Mann wie ihm ein Kind meines Kalibers herausgekommen war. Ich wußte, er hatte recht, aber konnte er sich nicht vorstellen, daß auch mir daran gelegen war, mich zu bessern? Und dann weinte ich wirklich, weil mir die Dinge stets mißlangen und anders aus mir herauskamen als geplant, selbst in diesem bewußten Augenblick war meine Trauer nicht so ausgefallen, wie ich es vorgesehen hatte, denn auf ihrem Weg nach draußen war sie, meine Trauer, auf den Anblick der zierlichen Füße meines Onkels gestoßen, mit den kleinen Sandalen und den grauen Wollsocken, auf die Krawatte im Sommer und die Trevirahose, die zerschlissen war von den Generationen von Schülern, die über seinen Knien großgezogen worden waren, und darauf, wie traurig und witzig das Ganze doch war.

Und so weinte ich und lachte ich, bitterlich und erstickt, halb echt, halb künstlich, was eine merkwürdige Mischung abgab, die einen eigenen Reiz in sich barg, so wie der Genuß von Schokolade hinter dem Rücken des Zahnarztes, und mein Körper wurde geschüttelt von Schluchzen aus Reue und Selbstmitleid und aus Dankbarkeit gegenüber diesem Menschen, der einsam und allein für meine sündige, frevelhafte Seele kämpfte …

Onkel Schmuel wurde still. Er sah mich voller Erstaunen an, und sein Gesicht wurde weich und strahlend. In der Dunkelheit des Zimmers nahm ich den Lichthof eines verblüfften und zufriedenen Lächelns wahr, der um seinen Schnauzbart schwebte. »Na, na«, murmelte er, und seine Hand huschte zaghaft über meinen Kopf. »Ich wußte nicht, daß meine Erläuterungen dazu führen … Was habe ich schon groß gesagt … Nichts als ein paar simple Worte, die einem sehnenden Herzen entspringen … Jempa!« donnerte er plötzlich mit gewaltiger Stimme, und für einen Moment unterlag ich dem Irrtum, daß es sich dabei um den prähistorischen Siegesschrei renommierter Pädagogen handelte, nachdem sie die Mächte der Finsternis bezwungen haben. Geschwind rieb er sich die Hände, und ohne mich noch einmal anzusehen, verließ er das Zimmer. Draußen hörte ich, in einem Tonfall seltsamer Beschwingtheit, nochmals seinen Ruf nach Frau Jempa, die ihm reinemachte und ihn bekochte, daß sie kommen und mich beruhigen möge.

Das Weinen hatte ich jedoch bereits bei meiner letzten Anfeuerung eingesetzt. Und was konnte ich diesmal tun? Gabi hatte mir gestern abend keinen erlösenden Geheimcode eingegeben, der mich retten würde, wenn ich allein dem vollständigen Onkel gegenüberstünde.

Sie ist allein mit meinem Vater. Und sie wird wahrhaftig weggehen.

Auf einmal hielt ich es nicht mehr aus, so zwischen den beiden wunderlichen, schweigsamen Fremden stillzusitzen. Ich stand auf oder machte wenigstens den Versuch, sie schraken zusammen und sprangen miteinander hoch, erhoben einmütig ihre unzertrennlichen Arme, damit ich vorbei konnte, postierten sich mir vis-à-vis und nahmen unverzüglich ihr rhythmisches Schaukeln wieder auf, vorwärts, rückwärts, mit fallenden Augenlidern, wie entschlummernde Küken, und ich schrie in meiner Not: »Vielleicht tauschen wir die Plätze, damit Sie nebeneinandersitzen können?«

Meine Stimme klang gleichermaßen dumpf und schrill, sie schenkten mir jedoch ein breites Lächeln und begannen geschwind um mich herum zu kreisen, versuchten, an mir vorbeizukommen, ohne daß ich an die gemeinsame Handschelle stieß, und so tanzten wir mit rudernden Armen ein paar Augenblicke vor uns hin, bis die beiden den Weg fanden und nebeneinander Platz nahmen. Ich ließ mich auf den gegenüberliegenden Sitz fallen.

»Aber sieh mich nicht an!« knurrte der Polizist und drohte dem Häftling mit dem Finger.

»Bei Gott, ich habe Sie nicht angesehen«, schwor der Häftling und legte die Hand aufs Herz.

»Ich habe gesehen, daß dein Auge mich direkt angepeilt hat!« grummelte der Polizist.

»Beim Leben meiner Tochter, ich habe Sie nicht angesehen! Hast du etwa gesehen, daß ich ihn angeschaut habe?«

Diese Frage ging an mich. Wieso an mich? Was hatte ich mit ihnen zu tun? Auch der Polizist beugte sich über mich und wartete auf eine Antwort. Er war so gespannt, daß er begann, an der Spitze seines Schnurrbarts zu nagen. Jede Bewegung dieser beiden war übertrieben und eine Zumutung, wenn auch auf sonderbare Weise gleichermaßen packend. Ich wollte mich auf- und davonmachen, aber ich vermochte mich nicht zu rühren.

»Ich … es scheint mir, daß Sie ihn ein wenig angesehen haben«, brachte ich heraus.

»Aha!« hob der Polizist den siegreichen Finger. »Noch einmal ansehen, und es ist Schluß mit dem Verzeihen!«

Wieder hüllten wir uns in Schweigen. Der Häftling ließ kein Auge von dem Fenster. Wir durchkreuzten einen Steineichenhain. Eine Ziegenherde weidete an den niedrigen Büschen, und eine der Ziegen stand auf den Hinterbeinen und äste in einer Baumkrone. Der Polizist stierte in die entgegengesetzte Richtung, zur Gangtür. Ich traute mich weder nach hier noch nach dort zu schauen und hatte sogar Angst, die Augen zu schließen. Ich wollte bloß weg von hier.

»Jetzt! Jetzt hast du mich angesehen!« brüllte der Polizist und sprang energisch auf. Wegen der gemeinsamen Handschellen fiel er jedoch auf den Sitz zurück. »Du hast geschaut!«

»Beim Leben meiner Tochter, nein!« rief der Häftling, und auch er schnellte hoch, wütend den Arm schwingend, allein die Handschelle zwang ihn zurück auf den Sitz.

»Du glotzt ja immer noch!« schimpfte der Polizist. »Du siehst mir direkt in die Augen! Schluß damit! Auge runter!«

Diesmal allerdings gab der Häftling sich nicht geschlagen. Er kam mit seinem breiten Schädel auf den Polizisten zu. Was ging hier vor? Was veranstalteten die beiden da? Ein bizarrer Kampf von Blicken: Augen wurden geworfen, Augen versuchten zu entkommen. Der Häftling bückte sich tief und tiefer zu dem Polizisten, und je mehr dieser versuchte, seinem Blick auszuweichen, desto mehr wand sich der Häftling, um seinen Blick zu erhaschen. Fast lag er auf ihm!

»Hören Sie mal … Lassen Sie mich gehen …«, ließ sich der Häftling plötzlich kaum hörbar vernehmen.

»Schweig!« stöhnte der Polizist mit kehliger Stimme. »Schweig und schau aus dem Fenster! Nicht in meine Augen! Nur aus dem Fenster sollst du gucken!«

»Lassen Sie mich laufen …«, flüsterte der Häftling mit einer neuen Stimme, die sich geschmeidig und schlängelnd zu dem erschrockenen Polizisten vortastete. »Ich bin unschuldig … Sie wissen, daß ich keine Wahl hatte …«

»Das kannst du dem Richter sagen!« zischte der Polizist durch sein zusammengepreßtes Gebiß.

»Ich flehe Sie an. Ich habe daheim eine kleine Tochter …«

»Ich auch! Zum Fenster!«

Und siehe da, der Häftling richtete seinen Blick mit magischen Kräften auf den Polizisten, als ob er ihn zwänge, ihm ganz allmählich das Gesicht zuzuwenden. Es war ein bestürzender, auf unerklärliche Weise furchterregender Anblick: Der Polizist versuchte, sich zu widersetzen. Ich sah, wie er darum kämpfte, das Gesicht von seinem Gefangenen loszureißen, wie seine Schultern sich vor lauter Anstrengung, dem Blick des anderen auszuweichen, verbogen. Aber die jenseitigen Augen bezwangen ihn. Ein kühner, ungebrochener Blick. Die Augen des Häftlings bohrten sich in den Kopf des Polizisten, der sich allmählich geschlagen gab: Seine Atemzüge wurden tief, seine Schultern fielen ein wenig ab, er warf dem Häftling stumpfe Blicke zu, stieß zwei, drei unbeschwerte, kindliche Lacher aus, und seine Augen wurden bleiern, müde und abwesend …

»Sie hatten einen schweren Tag, Avigdor …«, säuselte der Häftling süßlich, samtig und ruhig, »hinter mir herzujagen, durch alle Gassen zu rennen, Schüsse auf mich abzugeben und mich anzubrüllen und die ganze Zeit derart legal zu sein …«

Der Mund des Polizisten klaffte ein wenig auf. Seine Pupillen rollten nach oben.

»Es ist hart, der Vertreter des Gesetzes zu sein …«, flüsterte ihm der Häftling zärtlich zu. »Man hat keine Minute Ruhe … Die ganze Zeit die große Verantwortung …«

Ich spürte, wie auch mein Mund sich öffnete. Das waren haargenau die Worte meines Vaters! Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam und sich müde in den Sessel fallen ließ, pflegte er eben diese Worte auszusprechen, sich mal bei mir, mal zu sich selbst über die Probleme und die Verantwortung zu beklagen und zu seufzen, daß ihm keine, nein, überhaupt keine Ruhe vergönnt sei. Wenn wir eine Mutter hätten, dachte ich dann stets, würde sie jetzt zu ihm gehen und ihm den verkrampften Nacken massieren. Aber wir hatten nur Gabi, und die traute sich nicht.

Vorsichtig streckte der Häftling die Hand nach dem Gürtel des schlafenden Polizisten aus und zog einen großen Schlüsselbund heraus, an dem etwa zehn Schlüssel hingen. Er entschied sich für ein Exemplar, steckte es in das Schloß der Handschellen und öffnete sie. Die so befreite Hand ließ er vergnügt vorwärts, rückwärts und im Kreis herum tänzeln. Auf seinem Handgelenk war ein tiefer, roter Abdruck zurückgeblieben.

»Allein für diesen Augenblick lohnt es sich, Handschellen zu tragen«, sagte er zu mir.

Dann streifte er seinen Sträflingskittel ab und legte seine Kappe neben mich auf den Sitz. Ich saß da wie gelähmt. Es bestand kein Zweifel, daß er dabei war, die Flucht zu ergreifen, und daß ich Zeuge eines Falls von Haftentziehung par excellence wurde, und ich, gerade ich, mit dieser Erfahrung, dieser Ausbildung und diesem Vater, erwies mich als unfähig, auch nur einen Finger zu krümmen.

»Kannst du ihn mal kurz für mich halten?« richtete der Häftling liebenswürdig das Wort an mich und legte den schwarzen Revolver, den er vom Gürtel des Polizisten abgeschnallt hatte, in meine Hand.

Ich identifizierte ihn unverzüglich: eine Dienstwaffe der Marke Wambly. Vater besaß solch eine Waffe, und tausendmal hatte ich sie schon in Händen gehalten. Ich hatte sogar mit ihr auf dem Schießstand der Polizei mit Platzpatronen herumgeballert. Aber nie zuvor war ich in die Situation geraten, mich mit einer Pistole in der Hand einem echten Verbrecher gegenüberzusehen. Welche Möglichkeiten hatte ich? Sollte ich ihn kaltmachen? Mein Finger zitterte, berührte den Abzug und fuhr zurück. Wie kam ich dazu, ihn zu erschießen? Was hatte er mir getan? In diesem Augenblick betete ich darum, das rundliche Gesicht von Onkel Schmuel möglichst bald vor mir zu sehen. Selig würde ich mich ihm in die Arme werfen und mich für den Rest meines Lebens in ein pädagogisches Musterexemplar verwandeln.

»Vielen Dank«, sagte der Häftling, nahm mir die Pistole ab und steckte sie in seinen Gürtel. Dann knöpfte er behutsam, als entkleide er einen schlafenden Säugling, das Hemd des Polizisten auf und zog es ihm aus. Der Polizist, bewußter Avigdor, setzte seinen Schlaf im Unterhemd fort, und aufzuwachen fiel ihm im Traum nicht ein. Man änderte seine Stellung, man schubste ihn hin und her, er wurde von einer Seite auf die andere gedreht — und schlief! Ich kochte vor Zorn über ihn: Ich dachte an meinen Vater, der sich in seiner zwanzigjährigen Dienstzeit nicht ein einziges Mal verspätet und selbst fiebernd an allen gefährlichen Einsätzen teilgenommen hatte. Und der da …

Verantwortungslos.

Behend zog der Häftling ihm den gestreiften Kittel über und setzte ihm die Sträflingskappe auf. Dann befreite er sich von der Eisenkugel, die er an den Knöchel des Polizisten kettete. Nur mit Mühe gelang es ihm, das schmale Uniformhemd des Polizisten über seinen gedrungenen Leib zu ziehen, er setzte die polizeiliche Schirmmütze auf und bewegte sich auf das Fenster zu.

»Ein guter Ermittler kann sich in den Verbrecher hineinversetzen.« Auch das wußte ich und hatte bereits vor Augen, was geschehen würde, wie er nun die Scheibe anheben, aus dem fahrenden Zug springen und in seinen falschen Kleidern ausbrechen würde, und ich sagte mir »Handle!« und befahl mir: »Los, auf ihn!«

Und — nichts.

Noch einen langen Augenblick blickte der Häftling auf das vorbeiwehende, gebirgige Land, sog die aufgeplusterte Brust voll mit der Luft der Freiheit, seufzte und ließ sich wieder neben dem schlummernden Polizisten nieder. Betrübt brachte er seine Hand in die geöffnete Handschelle zurück, die vom Arm des Schläfers hing, und verschloß sie mit leichtem Druck über seinem Handgelenk. Abermals waren die beiden aneinandergefesselt.

»Steh auf! Du hast geschlafen!« sagte er plötzlich barsch und rempelte den Polizisten mit der Schulter an.

Dieser fuhr zusammen, erwachte und sah sich verwirrt um.

»Was ist passiert?« fragte er. »Was habe ich getan? Ich habe doch nichts getan!«

»Gepennt hast du!« rief der Häftling a. D. vorwurfsvoll und preßte sein Gesicht, das unter der Schirmmütze steckte, an das Gesicht des Polizisten.

»Ich habe nicht geschlafen …«, murmelte der Polizist und wurde stumm, während seine Hand kraftlos die Handschelle befühlte, sein Bein hinunterkletterte und an die Eisenkette faßte. Seine Finger schlenderten wehmütig die Kette entlang, bis sie an die dicke Kugel gelangten, wo sie verdutzt innehielten. Er schwieg. Seine Stirn runzelte sich, als versuche er, sich etwas in Erinnerung zu rufen. Schließlich gab er auf. Er saß da, schlaff und haltlos wie ein Sack. Ein paar entsetzliche Momente verstrichen. Der entlassene Polizist sah den Mann, der in Uniform neben ihm saß, unterwürfig an:

»Lassen Sie mich laufen!« sagte er tonlos.

»Schnauze!« schnauzte der Sträfling.

»Ich bin unschuldig …«, flehte der Ex-Polizist. »Sie wissen, daß ich nicht …«

»Das kannst du dem Richter sagen«, erwiderte der Lange gleichgültig.

»Dem Richter …?« Der Polizist verstummte. Er saß zusammengekauert da, und sein Schnurrbart wies demütig nach unten. Seltsam, die Rolle des Häftlings ist ihm auf den Leib geschrieben, dachte ich. Es war der tiefschürfendste Gedanke, zu dem ich in jener Minute fähig war.

»Ich flehe Sie an …«, begann er erneut kümmerlich lächelnd. »Ich habe eine kleine Tochter daheim …«