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Kurzbeschreibung:

Was tun, wenn die Welt völlig aus den Fugen gerät?

Das Leben der Zwillinge Malte und Niklas ändert sich von einem Tag auf den anderen schlagartig: In dem beschaulichen Touristenort Kyllbenden sollen sie im Haus ihrer Tante den Tod der Mutter verarbeiten. Doch nur wenige Tage nach ihrer Ankunft ereignen sich seltsame Dinge im örtlichen Museum: Die kleine Annie wird bewusstlos aufgefunden – direkt vor dem großen Spiegel im hintersten Ausstellungsraum. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel.

Zusammen mit Annies Schwester Sarah gehen Malte und Niklas den Ereignissen auf den Grund und müssen feststellen, dass nicht alles in Kyllbenden so ist, wie es scheint. Die Geister der Vergangenheit scheinen die Menschen im Ort heimzusuchen … und schon bald befinden sich nicht nur die Zwillinge in akuter Gefahr.

Jana Engels

Der Seelenspiegel



Roman


Edel Elements

Malte stieß unter dem Tisch gegen das Schienbein seines Bruders und bedeutete ihm damit, dass sie unter diesen Umständen mit Ludwiga über den Vorfall im Museum sprechen sollten. Während sie erzählten, wurde Tante Ludwiga immer stiller und blasser.

„Was ist?“, wollte Malte wissen, der den betroffenen Ausdruck in ihren Augen bemerkte. „Keine Sorge, wir kriegen schon raus, was dahintersteckt.“

Ludwiga winkte ab und schüttelte den Kopf. „Das ist es ja, was mich beunruhigt. Als ich noch klein war, gab es nämlich ein Schauermärchen, das uns die großen Kinder immer erzählt haben. Sie hatten ihre helle Freude daran, uns zu erschrecken.“

Malte kaute nicht mehr und hörte aufmerksam zu.

„Es war die Joseph-Geschichte.“

„Und was soll es damit auf sich haben?“ Er wurde unruhig.

„Es geht um einen Spiegel, der magische Kräfte besitzt und den Tod bringt. Die Kinder erzählten sich, dass ein Junge, den ich selbst nie gesehen habe, eines Tages in seinem Zimmer gefunden wurde, einfach so umgefallen und nie wieder aufgewacht ist. Die Älteren haben immer behauptet, die Geister, die in seinem Spiegel wohnten, haben Joseph umgebracht. Die Geschichte hat mir damals große Angst gemacht, aber als ich älter wurde, habe ich das alles als Unfug abgetan. Und jetzt bin ich ratlos. Es wäre doch ein Unding, wenn wirklich etwas dran ist, und wenn das, was der kleinen Annie passiert ist, irgendwie damit zusammenhängt? Kaum vorstellbar, aber sie ist ja auch vor einem Spiegel zusammengebrochen.“ Ludwiga, die normalerweise nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen war, biss sich nervös auf die Unterlippe. Die Erinnerung an diese lang vergessene und gruselige Geschichte aus Kindertagen bereitete ihr offensichtliches Unbehagen.

„Wir werden schon rauskriegen, was es damit auf sich hat“, sagte Niklas und warf einen Blick auf die Uhr. „Dafür sollten wir uns jetzt schleunigst auf den Weg machen, wenn wir die alte Frau Resch nicht unnötig warten lassen wollen. Sie wollte uns auch noch etwas erzählen und hat uns in den Buchladen bestellt.“ „Komisch, davon hat sie mir vorhin gar nichts gesagt“. Ludwiga runzelte besorgt die Stirn, und Malte versuchte sie zu beruhigen.

„Sie hat es bestimmt einfach nur vergessen. Sie ist eben nicht mehr die Jüngste.“

Ludwiga nickte. „Wie auch immer. Stellt was Sinnvolles mit eurer Zeit an und seht zu, dass ihr nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geratet.“

Als die Brüder das Haus verließen, sah Malte seine Tante immer noch gedankenversunken am Tisch sitzen. Miez Miez lag zu ihren Füßen.

Niklas schlug vor, einen kleinen Umweg zu nehmen und am Museum vorbeizugehen. Der verrückte Jockelhatte sich tatsächlich durchgesetzt, und nun zierte ein auffälliges, rotweißes Absperrband den Zaun um das Anwesen der Familie Pütz. Dieses Aufgebot lockte eine Menge Schaulustiger an, die in einiger Entfernung auf dem Gehweg standen und miteinander tuschelten. Die Zwillinge nahmen die Situation zur Kenntnis, ließen sich davon jedoch nicht aufhalten und betraten um kurz nach zehn den Buchkeller, in dem Elisabeth Resch bereits auf sie wartete.

Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht, verschloss die Ladentür und drehte das Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ nach außen. „Gut, dass ihr da seid. Kommt, ihr müsst mit mir in den Keller und suchen helfen“, erklärte die Alte entschieden und ging nicht auf die fragenden Gesichter der beiden ein. Mit einer alten Öllampe in der Hand verschwand sie in dem schmalen Durchgang.

„Ich dachte, wir sind bereits im Keller, Frau Resch“, rief Malte der alten Frau hinterher.

„Ach Jungchen, du hast ja keine Ahnung. Kommt jetzt, ich schaffe das nicht allein.“ Ihre Stimme klang gedämpft. Elisabeth Resch führte die Brüder durch einen dunklen, schmalen Gang einige Steinstufen hinunter in einen weiteren, tiefer gelegenen Keller. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. „Vorsicht, Kopf einziehen, die Decke ist sehr niedrig“, forderte Elisabeth. Durch eine schwere, offenbar uralte Holztür betraten sie einen kleinen Raum. Elisabeth stellte die Lampe auf einen Vorsprung in der Mauer.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Niklas, dass sie sich in einem Gewölbekeller zwischen alten Truhen und Kisten befanden, die hier, soweit es die Räumlichkeiten zuließen, übereinandergestapelt worden waren.

„Wie ihr seht, war schon lange niemand mehr hier“, sagte Elisabeth leise und wischte mit der flachen Hand den Staub von einer der Kisten.

„Was ist das?“, wollte Niklas wissen.

„Das ist das Archiv meines Großvaters.“ Elisabeth verkündete es mit Stolz. „Er hat viele alte und kuriose Geschichten gesammelt. Manchmal waren es Zeitungsausschnitte, manchmal nur handschriftliche Notizen, die er sich zu den Geistergeschichten gemacht hat, die sich die Leute in der Umgebung erzählt haben. Mir ist gestern Abend bereits eine Geschichte eingefallen, in der es, wie bei Annie, um einen Spiegel geht. Ich kriege sie aber nicht mehr zusammen und will nichts Falsches erzählen. Ich bin mir aber sehr sicher, dass ihr hier unten etwas finden werdet, falls ich richtig liege, und mir meine Erinnerung keinen Streich spielt.“

Niklas öffnete eine der Truhen und staunte. „Wenn Ihr Großvater so lange so viel gesammelt und aufgeschrieben hat, wären die Papiere dann nicht in einem Museum am besten aufgehoben?“

„Mein Großvater hatte in den letzten Jahren seines Lebens Schwierigkeiten, die Wahrheit und die Phantasie auseinanderzuhalten“, sagte Elisabeth bitter. „Manchmal haben sich die Menschen einen Spaß daraus gemacht und ihm absichtlich Unfug erzählt. Der Rest unserer Familie musste vieles ausbaden und Gemeinheiten erdulden. Es war vor allem nicht schön zu sehen, wie mein Großvater zum Spaß vorgeführt wurde. Seine letzten Jahre waren sehr anstrengend für uns alle, und er wurde richtig garstig zu uns. Ich glaube, er hat irgendwann den Glauben an das Gute in den Menschen verloren. Aus diesem Grund habe ich die Geschichten bisher ruhen lassen. Ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie ich ihn in den vielen Jahren davor erlebt habe.“

„Umso besser, wenn wir jetzt etwas finden und helfen können. Wo fangen wir an?“ Niklas hatte die Ungeduld gepackt.

Alle drei standen eine Weile schweigend zwischen den Kisten und sahen sich um, dann holte Elisabeth zwei kleine Taschenlampen mit Ladekurbel aus ihrer Strickjacke. „Hier, hätte ich fast vergessen. Die sind für euch. Ich bin zu alt, um mich durch die Papiere zu wühlen, und außerdem muss ich wieder zurück nach Hause. Jemand muss Sarahs Eltern informieren. Die werden wenig erfreut sein, wenn sie mitbekommen, was um ihr Haus herum passiert, und wer weiß, auf welche Ideen Jockelnoch kommt. In zwei oder drei Stunden bin ich zurück. Keine Sorge, ich schließe das Geschäft wieder ab, damit ihr euch ungestört umsehen könnt. Ich hoffe inständig, ihr findet etwas Brauchbares.“ Damit überließ sie die Zwillinge sich selbst. Niklas sah ihr nach, als sie durch die Tür in der Dunkelheit verschwand.

„Dass ich mal so die Ferien verbringen würde, hätte ich mir auch niemals träumen lassen“, durchbrach er die Stille und war erstaunt, wie laut seine Stimme in dem kleinen Raum klang. „Hat sie uns jetzt wirklich hier unten eingesperrt, damit wir alte Dokumente nach Geistergeschichten durchstöbern? Im Ernst, glaubt sie, wir könnten hier herausfinden, was es mit den lebendigen Puppen und dem leuchtenden Spiegel im Museum auf sich hat?“

„Was ist, wenn sie nicht wiederkommt? Ey, überleg mal, die ist uralt. Sie ist zwar nett, aber vielleicht ist sie senil und vergisst uns hier?“

„Jetzt wo du es sagst“, erwiderte Niklas. „Vielleicht ist es ja noch schlimmer als du denkst, und sie ist wahnsinnig. Sie hat gesagt, dass ihr Großvater verrückt gewesen ist, vielleicht ist sie es ja ebenfalls. Oder sie will uns aus dem Weg schaffen, damit du nie wieder ein Wort mit Sarah wechseln kannst.“

„Haha, sehr witzig“, entgegnete Malte genervt. „Keine Sorge“, beruhigte sein Bruder ihn. „Sie hat ja recht. Besser, wenn wir hier unten alles auf den Kopf stellen und nach Hinweisen suchen, und sie sich um die Familie kümmert. Außerdem steht oben im Laden ein Telefon, und die Tür ist auch kein unüberwindbares Hindernis.“

„Ist ja schon gut. Dann solltest du jetzt aber endlich aufhören zu quatschen und mir helfen, die erste Kiste zu öffnen. Wer weiß, was uns hier unten erwartet“, gab Malte ihm das Startzeichen, sich an die Arbeit zu machen.

Sie lasen alte Zeitungsberichte, sahen sich Fotos und Skizzen an und fanden jede Menge Briefe an einen gewissen Johann Benedikt, bei dem es sich allem Anschein nach um den Großvater von Elisabeth Resch handelte. Die Menschen schienen damals keine Hemmungen gehabt zu haben, ihre unglaublichen Geschichten an ihn heranzutragen. Begebenheiten über Wehrwölfe und Hexen fanden sich zuhauf, auch Dramatisches über angeblich von Geistern besessene Kinder und weitere zahlreiche Erzählungen zu übersinnlichen Ereignissen, die sich alle in der Nähe von Kyllbenden ereignet haben sollten. Vorsichtig wühlten sie sich durch die Papiere, und gerade, als sie eine Pause einlegen wollten, zog Malte ein sorgfältig mit Pergament umwickeltes und mit einem Faden zusammengebundenes Bündel heraus. „Joseph“, entzifferte er die Aufschrift. „Sag mal, wie hieß noch gleich der Junge aus der Geschichte, die Tante Ludwiga vorhin erwähnt hat? Joseph?“

„Keine Ahnung, kann sein? Hast du was gefunden?“ Niklas betrachtete gerade eine alte Fotografie, auf der eine mysteriöse Hand in einer Gruppe von Kindern mit einem Kringel markiert war. So wie es aussah, war diese Hand keinem der abgebildeten Kinder zuzuordnen. Sie lag auf der Schulter eines Jungen in der zweiten Reihe und sah aus wie eine Geisterhand. „Ich weiß nicht genau“, antwortete Malte. Er wickelte das Joseph-Päckchen vorsichtig aus und fand darin einige Briefe, Arztberichte, einen Familienstammbaum, der mehrere Jahrhunderte zurückreichte, diverse Skizzen von Gebäuden und eine Fotografie von einem kleinen Jungen im Alter von etwa neun oder zehn Jahren. Malte betrachtete das Bild. Es zeigte den Knaben mit sehr ernstem Gesicht in kurzer Hose und hellem Hemd vor einem großen, schweren Schrank. Auf dem Kopf trug er eine altertümliche Schirmmütze, und in der rechten Hand hielt er ein dickes Buch. Ganz offensichtlich hatte er bei der Entstehung dieses Bildes keinen Spaß gehabt. Der Ärmste, ging es Malte durch den Kopf, und er besah sich die Fotografie noch etwas genauer. Dann plötzlich durchfuhr es ihn, als hätte er einen Stromschlag erhalten. „Ich werde verrückt“, flüsterte er entsetzt. „Hier, sag mir, dass du das auch siehst“, forderte er und hielt die Fotografie so, dass Niklas sie ansehen konnte.

Doch der runzelte nur die Stirn. „Ich weiß nicht, was du meinst. Da steht ein kleiner Junge vor einem Schrank“, sagte er und beleuchtete das Bild mit der Taschenlampe, so als könnte er damit noch etwas anderes sichtbar machen.

„Ja, ich habe es auch erst nicht bemerkt“, gab Malte zu, „aber sieh mal da rechts neben dem Schrank. Was, denkst du wohl, steht daneben?“

„Ach du Scheiße, ich werde verrückt“, entfuhr es Niklas. „Das ist so ein Spiegel wie der im Museum!“

„Nein“, gab Malte mit fester Stimme zurück. „Nicht wie im Museum. Das ist genau der Spiegel aus dem Museum, und das hier ist die Joseph-Geschichte, die von dem Jungen, den die Geister aus dem Spiegel umgebracht haben. Ich denke, wir haben hier etwas gefunden.“

„Also, viel schlauer als vorher bin ich nicht. Wir sollten die restlichen Unterlagen durchsehen. Vielleicht finden wir dann weitere Hinweise, ob es das ist, wonach wir gesucht haben.“

„Na dann bin ich ja gerade zur rechten Zeit gekommen“, erklang so plötzlich und unerwartet Elisabeths Stimme hinter ihnen, dass die Brüder vor Schreck zusammenfuhren.

„Frau Resch, Sie dürfen sich doch nicht so anschleichen.“ Malte ließ erleichtert die Schultern sinken.

„Sarah ist jetzt bei ihrer Schwester. So allein zuhause hat mich die Neugier zu euch getrieben. Ich habe das Mittagessen bereits fertig. Kommt doch mit und erzählt mir, was ihr gefunden habt.“

„Mittagessen ist eine hervorragende Idee. Einen halben Herzinfarkt habe ich bekommen. Von dem muss ich mich erst einmal erholen. Wir waren eindeutig zu lange hier unten und haben uns mit dem ganzen Geisterhokuspokus beschäftigt“, stieß Niklas hervor.

„Das tut mir leid. Es war natürlich nicht meine Absicht. Dennoch scheint sich der Aufwand gelohnt zu haben. Dann bin ich doch noch nicht senil, oder? Gefunden habt ihr ja etwas, wie ich mitbekommen habe. Packt doch den Rest bitte wieder vorsichtig zusammen? Ich warte oben im Geschäft, und dann gehen wir zu mir nach Hause. Da ist es wärmer und bequemer als hier unten, und wie gesagt, habe ich euch etwas gekocht“, bestimmte Frau Resch und machte sich auf den Weg.

Malte wickelte alles wieder in das Pergament und schob das Bündel vorsichtig in seine Jacke. Dann folgte er seinem Bruder nach oben. Das Tageslicht blendete für einige Minuten seine Augen, als sie endlich wieder an der frischen Luft waren. Malte blinzelte, bis sie nicht mehr tränten. Das Päckchen unter seiner Jacke presste er fest an sich.

„Auf in die gute Stube“, gab Elisabeth wenig später den Befehl zum Aufbruch.

Das Mittagessen schmeckte hervorragend, und während die Brüder ihren Hunger stillten, hörte Elisabeth sich interessiert an, was sie gefunden und zu berichten hatten. Sie erzählten in groben Zügen, und Malte wollte ihr auch das Bündel zeigen, aber Elisabeth wehrte ab.

„Das schaut erst einmal in Ruhe durch und gebt mir dann Bescheid. Vielleicht fällt euch ein, was wir mit den gefundenen Informationen anfangen können. Aber seid vorsichtig, und überlegt euch gut, in welcher Form ihr weitere Personen zu Rate zieht.“

Frau Resch gab sich mit dem, was sie hörte, zufrieden. Sie selbst war seit vielen Jahren nicht mehr in diesem Keller gewesen - nur zu gut erinnerte sie sich an die vielen Bösartigkeiten, die sie sich über ihren geliebten Großvater hatte anhören müssen. Die Erinnerung daran, wie er in seinen letzten Lebensjahren immer versessener auf die Geistergeschichten geworden war, und die Leute ihn mehr und mehr ausgegrenzt und verhöhnt hatten, war keine schöne.

„Die Joseph-Geschichte ängstigt mich doch", sagte sie etwas später, als alle drei vor ihren leeren Tellern saßen. „Ich zweifle daran, ob ich das Richtige getan habe, als ich euch ins Vertrauen gezogen und in den Keller gebracht habe. Wenn all diese Ereignisse tatsächlich mit dem Spiegel zusammenhängen, ist er höchstwahrscheinlich gefährlich. Ich war wohl so mit mir selbst beschäftigt, dass ich nicht an euch gedacht habe. Entschuldigt, dass ich euch da hineingezogen habe.“ Sie seufzte und betrachtete gedankenversunken die alte Fotografie des kleinen Joseph. „Vielleicht übergeben wir einfach alles der Polizei, soll die sich drum kümmern", schlug sie den Brüdern vor, doch Malte widersprach heftig.

„Nein! Die machen doch sowieso nichts. Selbst wenn sie uns glauben, sind denen die Hände gebunden. Die würden sich doch lächerlich machen. Außerdem haben Sie uns nirgendwo hineingezogen. Wir steckten doch schon mittendrin. Ich schlage vor, dass wir alle Fundstücke erst einmal in Ruhe sortieren und auswerten, dann können wir immer noch entscheiden, wie es weitergeht, und bei wem wir uns Hilfe holen. Wichtig ist doch, dass wir das alles tun, um die Vorkommnisse im Museum aufzuklären und im besten Fall Annie zu helfen.“

Elisabeth Resch schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt wo ich drüber nachgedacht habe, kann ich das nicht verantworten. Nicht auszudenken, wenn euch etwas passiert. Abgesehen davon, dass ich mit dieser Schuld nicht leben könnte, was soll ich denn eurer Tante sagen? Es reicht doch, dass möglicherweise schon zwei Kinder im Zusammenhang mit diesem Spiegel ins Unglück gestürzt worden sind."

„Frau Resch, ehrlich, wir sind keine Kinder mehr“, versuchte Niklas sie zu besänftigen. „Aber Sie haben durchaus recht mit Ihrer Skepsis. Auch ich bin immer noch dafür, dass wir Ruhe bewahren und nichts überstürzen. Wir sortieren, werten aus, und dann besprechen wir alles Weitere mit Tante Ludwiga oder Ihnen. Vielleicht stellt sich ja auch heraus, dass das eine mit dem anderen gar nichts zu tun hat.“ Seine Worte verfehlten die beruhigende Wirkung auf die alte Frau nicht, und sie verblieben mit der Abmachung, dass Elisabeth weiterhin Sarah und ihre Eltern unterstützte und die Zwillinge den Fall Joseph detailliert untersuchen sollten. Höchstwahrscheinlich, so hofften sie, konnte Tante Ludwiga hilfreiche Informationen aus ihrer Erinnerung beisteuern. Erst, wenn alle Fakten offenlagen, würden sie entscheiden, wie es weiterging.

Mit dieser Vereinbarung verließen die Zwillinge Sarahs Tante und machten sich auf den Heimweg. „Du legst aber ein Tempo vor. Kannst es wohl kaum erwarten“, fragte Malte, als sie bereits einige hundert Meter von Frau Reschs Haus entfernt waren.

„Klar, bist du denn nicht gespannt? Es kribbelt mir regelrecht in den Fingern, diese Geschichte genauer zu analysieren.“

„Ja, mir auch. Sag mal, nur um sicherzugehen: Wir erzählen den alten Tanten einen Haufen Zeug zur Beruhigung, damit sie sich nicht aufregen und uns ins Handwerk pfuschen. Aber wir ziehen unser eigenes Ding durch und kriegen raus, was da los ist, oder?“

„Klar, wir erzählen ihnen einfach, dass die Papiere doch unbrauchbar sind und wir nicht weiterkommen! Aber wir müssen uns ordentlich abstimmen. Alles muss glaubhaft sein, sonst haben wir nicht genug Freiraum, damit wir uns um den Rest kümmern können.“

„Ich bin sehr zufrieden, dass du die Sache ebenfalls so siehst.“

Niklas beschleunigte seine Schritte noch weiter. Malte blieb mit sorgenvoller Miene etwas hinter ihm zurück.

„Was ist, hast du jetzt doch Schiss?“

„Naja, ein bisschen nervös darf man ja wohl sein. Wenn dieser ganze Spiegel-Geister-Hokuspokus nur im Ansatz stimmt, haben wir ganz andere Sorgen als eine ergebnislose Ermittlung vorzutäuschen.“

„Jetzt komm mal wieder runter. Wenn die Joseph-Geschichte eine Sackgasse ist und wir auf dem Holzweg sind, müssen wir trotzdem rauskriegen, was da gestern passiert ist. Ignorieren ist nicht“, argumentierte Niklas. „Was wir gesehen haben, haben wir gesehen. Das im Museum war kein Theater, wir müssen auf das Schlimmste gefasst sein. Sollte es aber nur die geringste Möglichkeit geben, dass es sich um ein übernatürliches Phänomen handelt, und wir die Chance haben, durch unsere Erkenntnisse bei der Rettung der kleinen Annie zu helfen, dann werden wir es tun. Im Notfall mache ich es allein.“

„Nein, musst du nicht, ich bin dabei. Ich mache mir nur meine Gedanken, das wird ja wohl noch erlaubt sein. Ich lass die Mädchen nicht hängen“, versicherte Malte.

Niklas quittierte es mit einem kräftigen Schlag auf seine Schulter. „Hoffentlich entgeht Sarah nicht, was für einen Traumtypen sie mit dir haben kann.“

Malte ging nicht darauf ein. Das Thema Sarah war ihm sichtlich unangenehm. Er war der Ansicht, dass sich sein Bruder ruhig etwas zurückhalten könnte. Er hatte doch gesagt, er würde schon mit ihr sprechen, wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen war. Maltes entnervter Gesichtsausdruck verfehlte seine Wirkung nicht: Niklas lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. „Los, wir gehen noch einmal am Museum vorbei. Vielleicht ist Sarahs Vater da und lässt uns rein. Dann könnten wir uns noch mal in Ruhe umsehen.“

„Und was willst du ihm sagen? Oh, Entschuldigung bitte, wir wollen mal eben eine Geisterstudie durchführen?“, fragte Malte, der sich keinen Grund vorstellen konnte, warum Herr Pütz sie allein in seinen Heiligtümern stöbern lassen sollte.

„Lass uns doch wenigstens erst einmal hingehen. Dann können wir ja immer noch sehen, ob wir reinkommen oder nicht.“

„Du gibst ja sowieso keine Ruhe“, gab sich Malte geschlagen. Sie bogen um die nächste Straßenecke und nahmen Kurs auf das Museum.

Doch auch die Kyllbendener waren in den vergangenen Stunden nicht untätig gewesen. Malte und Niklas kamen gerade an Sarahs Elternhaus an, alsJockel, der Wirt vom Feuerfass, eine Bürgerwehr aufstellte und Wachposten einteilte, die das Geistermuseum, wie er es reißerisch getauft hatte, stündlich wechselnd beobachten sollten. Vom Dorfpolizisten fehlte jede Spur. Die Mitglieder der Bürgerwehr bekamen Trillerpfeifen und Walkie-Talkies. Es wirkte, als hätte Jockelseit Jahr und Tag auf diese Möglichkeit gewartet, sich in die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung einzubringen. Er schien auf alles vorbereitet, und als der erste Wachposten Stellung bezogen hatte, lotste er den Rest der aufgeregt tratschenden Meute ins Feuerfass. Dabei verkündete er, dass er die Kneipe bereits am Nachmittag öffnen würde, damit man gemeinschaftlich Stellung beziehen und besser beobachten könne, ob etwas im Museum passiere, sowie im Ernstfall dem diensthabenden Wachposten zur Hilfe eilen.

Alle Mitglieder der jungen Bürgerwehr waren einverstanden und erhoben keinerlei Einwände gegen Jockels Vorschlag. Unter den aufmerksamen Blicken der Zwillinge liefen sie, einer schneller als der andere, ins Feuerfass und stritten schon draußen um die besten Plätze. „Solch eine gelungene Abwechslung zum Alltag und noch dazu so gute Gelegenheit, schon am Nachmittag einen zu heben, ohne schief angeschaut zu werden, bietet sich denen wohl nicht so oft“, kommentierte Malte das Geschehen.

„Ernste Situationen erfordern ernste Maßnahmen“, tönte Jockellautstark, und Malte sah ihn irritiert an.

„Nein, der hat dich nicht gemeint.“ Niklas grinste. Die Zwillinge sahen dem Trupp eine Weile durch das Fenster zu und gingen weiter zum Museum, als die Tür vom Feuerfass geschlossen wurde. Sie kletterten über die Absperrung, doch vor dem Haus stand weder das Auto von Sarahs Eltern, noch öffnete jemand die Tür, obwohl sie mehrfach läuteten. Sie mussten unverrichteter Dinge nach Hause gehen.

Hermanns Traktor stand in Ludwigas Hofeinfahrt. Zu sehen waren weder die Tante noch der brummige Bauer, aber aus dem Schuppen kamen klopfende Geräusche.

„Lass uns nur kurz Hallo sagen, dann gehen wir hoch und sehen endlich die Papiere durch“, schlug Malte vor, dem der Blick seines Bruders nicht entgangen war.

„Wir sollten die Zahl der Mitwisser und Zeugen möglichst gering halten“, protestierte Niklas. „Dir ist schon klar, dass es später Fragen aufwerfen wird, wenn wir uns ohne Begrüßung in die Zimmer verkrümeln?“

„Na gut, aber wir sagen ihnen nur Hallo. Kein Wort zu den beiden über unseren Fund!“

„Schon klar, Mann. Versteht sich wohl von selbst“, bekräftigte Malte.

„Was würdest du eigentlich machen, wenn du mich nicht hättest und ich nicht ständig bei dir nach dem Rechten sehen würde?“, fragte Hermann und war offenbar darauf aus, ein dickes Lob dafür zu kassieren. Malte betrat den Schuppen zuerst und sah, wie Ludwiga schelmisch grinste. „Ach Hermann, hätte ich dich nicht, dann hätte ich einen anderen.“

Das war bestimmt nicht das, was Hermann hatte hören wollen.

„Aber kein anderer hat das Herz auf dem rechten Fleck, so wie ich, und kein anderer kann die Regale so anbringen wie ich. Du musst zugeben, ich wäre ein guter Fang.“ Hermann lachte herzlich und wollte noch etwas hinzufügen, als er die Zwillinge im Eingang des Schuppens erblickte. „Na sieh einer an, wen haben wir denn da?“ Er verfiel sofort wieder in seinen mürrischen Brummton. Fast schien es, als wäre es ihm unangenehm, dass jemand ihn in solch gelöster Stimmung erwischt hatte. „Alles im Lot bei euch? Ich habe gehört, ihr habt euch anstecken lassen von dieser Geisterhysterie.“

„Hallo ihr zwei“, rief Ludwiga und trat aus dem Schuppen. Auf Hermanns Bemerkung ging sie nicht weiter ein. „Wie war es bei Frau Resch?“

„Ganz gut, wir haben in ihren alten Büchern gelesen und einige Papiere mitgenommen. Wir wollen jetzt in Ruhe durchgehen, ob überhaupt irgendetwas dabei ist, was sich mit den Vorgängen im Museum in Verbindung bringen lässt“, gab sich Malte gelassen.

„Im Moment sieht es aus, als wäre nichts Verwertbares dabei. Und wenn hier irgendeiner der Geisterhysterie verfallen ist, dann doch wohl der verrückte Jockelund seine Gefolgsleute“, lenkte Niklas das Gespräch auf die Vorgänge im Feuerfass. Es wirkte.

„Ach, gib dem Verrückten einen Furz zum Anlass und er macht ein Riesenaufriss daraus.“

„Was sind das denn für Papiere, die ihr mitgenommen habt? Dürfen wir sie uns nachher einmal bei einer Tasse Kaffee ansehen?“ Ludwiga war neugierig. „Du bleibst doch noch ein Weilchen, Hermann?“

„Ludwiga, ich würde, wenn ich könnte, aber die Arbeit erledigt sich nicht von allein.“ Hermann räumte sein Werkzeug zusammen.

„Vielleicht können die beiden dir ja morgen als kleines Dankeschön für mein neues Regal helfen kommen“, schlug Ludwiga des lieben Friedens willen vor und kassierte empörte Blicke.

Während die Brüder ihre Tante anstarrten, grinste Hermann. „Wer sie zur Tante hat, braucht keine Feinde, was Jungs? Was haltet ihr denn von ihrem selbstlosen Vorschlag? Steht ihr morgen auf der Matte oder habt ihr noch mehr Wissen zusammenzutragen?“

„Ja, wir kommen“, sagte Malte, um die Diskussion abzukürzen.

„Aber nicht vor sieben“, setzte Niklas hinterher. Dann waren sie entlassen und begaben sich ins Haus. „Nicht vor sieben“, hörten sie Hermann, „da ist ja bald Mittag.“ Da er eine Seele von Mensch war, nahmen sie ihm die Bemerkung nicht übel. Die Aussicht auf ein paar Stunden Arbeit auf dem Hof war auch nicht dramatisch, sie mussten nur aufpassen, dass sie nicht verpassten, was im Museum vor sich ging. Warum sind Ludwiga und Hermann eigentlich nicht zusammen, dachte sich Malte. Sie würden ein nettes Paar abgeben. Er nahm sich vor, seine Tante bei Gelegenheit noch einmal ernsthaft darauf anzusprechen.

Die nächsten Stunden in Niklas’ Zimmer hielten einige Überraschungen bereit. Die Dokumente aus dem unscheinbaren Joseph-Päckchen waren gut sortiert und ausführlich beschriftet, Geschehnisse waren detailliert aufgeschrieben, Skizzen und noch weitere alte Fotografien zusammengetragen und fast schon mundgerecht aufbereitet. All das handelte tatsächlich von dem Jungen, der eines Tages in tiefer Bewusstlosigkeit vor einem alten Spiegel aufgefunden worden war.

Als sie einen sehr langen Brief von Josephs Vater lasen, den er an Elisabeth Reschs Großvater geschrieben hatte, fanden sie die Bestätigung: Josephs Vater, Christoph, berichtete, dass er die Ursache für den krankhaften Zustand seines Sohnes herausgefunden hatte und glaubte, ihn retten zu können. „Ich werde meinen Sohn schon bald wieder auf irdischem Boden gesund und munter in die Arme schließen, oder aber mich wird das gleiche Schicksal ereilen, das ihm beschert ist. Doch diese Aussicht schreckt mich nicht, denn das Leben getrennt von meinem geliebten Jungen ist für mich nicht mehr lebenswert“, las Malte vor. An einer anderen Stelle ging es weiter: „Mein Lieber, ich wende mich an dich, weil ich weiß, dass ich dir trauen kann und du meine Erkenntnisse ernst nehmen wirst. Du wirst nicht mit dem Finger auf mich zeigen und mich der Lüge bezichtigen. Du bist ein guter Mensch, und ich setze all meine Hoffnungen in dich, dass du mir meine nachstehende Bitte nicht abschlagen wirst.“

Niklas saß im Schneidersitz auf dem Boden, während er seinem Bruder zuhörte. Er rutschte unruhig auf seinem Hintern hin und her. Als Malte eine Pause machte und sich räusperte, sah er zu seinem Bruder hinüber. Er fühlte sich wie eine Gitarrensaite, die man zu fest aufgezogen hatte und die jeden Moment reißen konnte. „Was ist? Lies weiter! Wir stehen kurz vor der Lösung! Oder willst du die gar nicht mehr wissen?“

„Na klar“, erwiderte Malte ruppig. „Ich wollte vorher nur noch mal kurz durchatmen.“ Er nahm den Brief wieder auf und las weiter. „Ich habe herausgefunden, dass dieser Spiegel eine besondere Funktion hat. Er verbindet zwei Welten, er ist ein Durchgang. Du musst mir glauben, es gibt so viel mehr als unser Leben hier! Ich versuche, es dir zu erklären.“

Nun erfuhren die beiden, dass der betreffende Spiegel Christophs Ansicht nach die Welt der Menschen mit der Welt der Seelen verband, und dass er vor fast vierhundert Jahren gebaut worden war. Der Erfinder und Bastler, Lorenz Blankenheim, hatte es sich zum Ziel gesetzt und fertiggebracht, einen Durchgang in die Seelenwelt zu schaffen. Einen Durchgang, der wirklich funktionierte. Er, Christoph, habe es selbst bereits einmal geschafft, auf die andere Seite zu gelangen, und er würde es noch einmal machen, um seinen Sohn zurückzuholen. Dieser Spiegel sei lebensverändernd, er eröffne ganz neue Dimensionen. Das Wissen um ihn sei unsagbar wichtig und dürfe nicht länger totgeschwiegen werden. Menschen, die zu früh aus dem Leben geschieden waren, könnten damit sogar wieder zurückgeholt werden. Es müsse Schluss damit sein, ihn immer wieder in Kellern oder auf Dachböden zu verstecken. Dass der Spiegel eine unheimliche Ausstrahlung habe, sei verständlich, denn stets seien Seelen ungeplant hindurchgewandert und hätten ihre menschlichen Körper zurückgelassen. Die Unwissenheit der Menschen habe diese letztlich in den Tod gestürzt. Doch ein solches Wunderwerk, eine Tür in eine andere Welt, müsse öffentlich gemacht und genutzt werden.

Malte setzte ab und schüttelte den Kopf. „Das klingt ja total irre! Glaubst du etwa, was hier steht?“

Niklas überlegte eine Weile, ehe er antwortete. „Dass Annie so plötzlich und unerwartet vor dem Spiegel gelegen hat und niemand sagen kann, an welcher rätselhaften Krankheit sie leidet, da es keinerlei Symptome gibt, außer dass sich ihr Körper in einem komatösen Zustand befindet, deckt sich meiner Meinung nach damit“, sprach er seine Gedanken aus. „Es bleibt uns wohl nichts weiter übrig, als dieser Geschichte weiter auf den Grund zu gehen. Auch wenn alles so seltsam klingt, haben wir möglicherweise das gefunden, was Annies Zustand erklärt. Ist sie wirklich in eine andere Welt gegangen?“

Malte schauderte, als er seine eigenen Worte hörte.