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Eine Ordnung versucht seit vierzig Jahren, ihr eigenes Ende hinauszuzögern. Für diesen Aufschub entschleunigt sie sich ständig durch immer mehr Sicherheit und Kontrolle, durch den Verzicht auf Fortschritt und den aggressiven Ausbau einer leerlaufenden Kommunikation. Mit kybernetischer List hat sie jede Vorstellung von der Zukunft abgeschafft.

Nach seinem viel beachteten Essay Morgen werde ich Idiot, in dem er als Ausweg aus der kybernetischen Kontrollgesellschaft die Verweigerung vorschlug, richtet sich Hans-Christian Danys Hoffnung in diesem Buch auf die Wiederbelebung eines Imaginären, das sich auf das Unbekannte einlässt. Kann in der besseren Welt vielleicht nur ankommen, wer die Annahme aufgibt zu wissen, wie diese bessere Welt aussehen wird?

HANS-CHRISTIAN DANY, geboren 1966, lebt als Künstler in Hamburg schon lange im Urlaub von dem, was er tun soll. Wie viele, die nicht wissen, wohin mit sich, schreibt er. Manchmal werden daraus Bücher. Bei Edition Nautilus erschienen zuletzt Speed. Eine Gesellschaft auf Droge (2008, Neuauflage 2012) und Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft (2013).

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Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49 a · D- 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte Rechte vorbehalten orbehalten · ©Edition Nautilus 2015
Originalveröffentlichung · Erstausgabe Oktober 2015
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Autorenporträt Seite 2: Fabienne Mueller
ePub ISBN 978-3-86438-188-1

Ich wollte Dir am Ende des Winters schreiben, aber es ging nicht. Als ich endlich anfing, war mir nicht klar, ob ich schrieb oder nur vor mich hinmurmelte. Was in die Sprache fand, las sich wie der Bericht einer Reise, die nicht beginnen wollte. Schreibend versuchte ich eine Abreise zu formulieren, ging immer wieder zum Bahnhof, stieg aber in keinen Zug.

Warum ich geblieben bin? Ich glaube, wegen der Luft. Sie gefällt mir hier, ihr Geruch und wie sie sich die ganze Zeit bewegt. Aber jetzt möchte ich nur noch weg aus dem Vorausberechnen leicht verschobener Wiederholungen.

Du fragst, wie das gehen soll, zu sagen, was man möchte, umgeben von Apparaturen, die einen ständig bedrängen, seine Wünsche mitzuteilen und sich zu ihnen zu bekennen. Deren psycho-mathematischen Mechanismen es immer wieder gelingt, einen nach dem ausgesprochenen Wunsch an die Orte zurückzubringen, die man kennt.

Es fühlt sich bedrohlich an, auf das Unbekannte zuzugehen. Beim Tasten ins Dunkel bin ich ständig in Versuchung, das Weitergehen aufzuschieben, um zum Vertrauten zurückzukehren. Ich schiebe den Abschied auf, statt mich in das Geheimnis des Unbekannten fallen zu lassen.

Die Vorstellung dieser Reise phantasiere ich nicht allein. Ich bin einer von vielen, die den Spalt zwischen gerade eben und noch nicht verlassen wollen. In dessen ewiger Gegenwart gibt es als Ersatz mathematische Fiktionen. Ihre Entwürfe des Künftigen reduzieren sich auf ein noch nicht, das sich aus dem bis gerade eben Vergangenen errechnen lässt.

Ein Ausweg aus dieser in Schlaufen gelegten Wirklichkeit schien lange, wie Helmut Berger zu sagen, »Ich bin ein Ufo und sehe zu, wie wenig mich der Quatsch angeht«. Es nicht nur zu sagen, sondern es zu werden: ein loses Bündel von Punkten am Firmament, das sich so schnell bewegt, dass es alles hinter sich lässt.

Ein unbekanntes Flugobjekt zu werden, scheint der erste Schritt.

Du sagst, jeder Flug muss wieder landen.

Aber ich habe mich in die Luft gehoben, einen Moment geschwebt. Ich mag gefallen sein, will aber wieder starten.

Ich schreibe Dir, weil Du Dich schon lange mit solchen Bewegungen beschäftigst: mit Flugobjekten, die den Horizont der Vorstellung überschritten haben und dem Unbekannten Zeit widmen, als hätten wir nichts zu verlieren. Du bist Fluglinien gefolgt, die sich ins Nichts bewegen. Du kennst die Triebwerke der Paradoxien des Zufalls und verstehst Dich auf den Blindflug. Ich frage mich, ob Du ahnst, wie der Gleiter gebaut werden könnte, mit dem sich in die Zukunft ausbrechen ließe, um von dort aus die Gegenwart anzugreifen.

Aber geht es um Widerstand? Oder verlangsamt der nur die Abreise? Was widersteht, hält sich zu oft fest an dem, was nie wirklich gut war. Der Körper bremst, bleibt sitzen, bleibt besetzt, bewegt sich nicht mehr, wird Punkt anstatt Strahl und als dieser erfassbar für die Berechnungen, die den Widerstand deuten als Teilhaber an ihrer Struktur.

Ich frage mich, ob sich die Bewegungen, denen widerstanden wird, selbst nur noch mit Mühe am Laufen halten? Widerstand geht von einem festen Gegenüber aus, dem Körper, dem widerstanden wird. Aber gibt es diesen Körper überhaupt? Handelt es sich nicht um eine Atmosphäre, die sich im Kreis dreht? Ein körperloses Etwas, das im ständigen Rückgriff auf die Vergangenheit zu verhindern versucht, dass die Zukunft betreten wird. In dieser Atmosphäre gibt es Dinge, Räume, Passagen, Flüssigkeiten, Gase, Daten und Zahlen, ganz viele Zahlen, sie stellen die Faktoren, mit denen die Mathematik der Bewegung ihr Kreisen multipliziert.

Ich frage mich, was zu dieser in sich kreisenden Atmosphäre geführt hat und wie sie sich stabilisiert? Warum es so bedrohlich scheint, sie zu verlassen? Was in ihrem Nicht-Körper darauf beharrt, dass es bleibt, wie es war? Warum die Zukunft in ihr auf einen Pessimismus zusammengeschrumpft ist?

Zwar ändert sich ständig etwas, bleibt aber im Grunde, wie es war. Alles, was Veränderung bewirken könnte, soll, bevor es sich entfaltet, in seiner Wirksamkeit transparent sein. Jede undurchsichtige Möglichkeit scheint bedrohlich.

Die Hoffnungen auf Veränderung werden von einer aufgeblähten Erzählung von einer hungrigen Macht ausgebremst. Als Gebiss trägt der ängstlich bewunderte Allesfresser die rasante Entwicklung des industriell Technologischen. Aber gibt es diese Macht, die laufend beschworen wird, überhaupt? Verliert diese technologisch gestützte Kontrolle nicht die ganze Zeit an Potenz, mögen ihr noch so viele Heldentaten angedichtet werden? Entwickelt sich die Technologie überhaupt weiter und beschleunigt sie sich?

Ließe sich nicht auch und näher an der Wahrheit sagen: Bei der Erzählung handelt es sich um eine geschickte Täuschung und geschürten Glauben. Und was als Fortschritt beschworen wird, findet gar nicht mehr statt. Alles wird nur immer langsamer und zirkuliert in noch kleineren Kreisen.

Zeitung ohne Zeit

Vor ein paar Monaten trat ich im Traum auf der Stelle und verspätete mich, bis es zu einem Drama kam. Ich träumte buchstäblich: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Am Tag zuvor hatte ich in der Zeitung gelesen, der Schlaf sei das letzte verbliebene nicht besetzte Gebiet, der Rest des Seins, der noch nicht von der Allgegenwart der Verwertung erfasst sei. Was da über die Freiheit im Schlaf neben einer Anzeige für teure Uhren stand, kam mir seltsam vor. In meinen Träumen treten oft Leute auf, die meine Fehler mit roter Tinte markieren und mich darauf hinweisen, wie tief ich in ihrer Schuld stünde. Im Wachzustand kann ich Abstand halten, entdecke Schlupflöcher, im Schlaf liegt mein Leben aber oft in ihren Händen.

Da es mir nicht zum ersten Mal so vorkommt, als wolle die Zeitung mit ihrem Lob des Schlafes die Drehbücher meiner Träume ruinieren, schiebe ich sie wütend vom Tisch. Als sie so geknickt am Boden liegt, denke ich, es wäre das Beste, mich von ihr zu trennen. Ihre Kritik befördert nur meine Kapitulation und nimmt sich nicht einmal selber ernst. Ich wende mich ab und gehe weg.

Wochen vergehen, und sie fehlt mir gar nicht. Statt ihr lese ich jetzt den Himmel, die Muster der Tische, oder sehe den Handwerkern zu, die das Dach des Nachbarhauses reparieren. Überall gibt es etwas zu schauen, es stellt die Welt nicht auf den Kopf, aber mir wird dabei nicht langweilig.

Nach einigen Monaten kaufe ich aus Neugier aber doch wieder eine Zeitung, setze mich auf die Treppenstufen vor unserem Haus und beginne zu lesen. Ich wundere mich, was da steht, und kann es kaum glauben. Die Nachrichten lesen sich, als wäre nichts geschehen. Meist sind es Ankündigungen von etwas, über das später berichtet werden soll. Nahtlos schließen sie sich an die Zeit vor meiner Abwesenheit an. Nirgendwo kann ich eine Lücke entdecken. Oft kommt es mir so vor, als hätte ich die Artikel schon gelesen. Ein Krieg bewegt sich noch durch die gleichen Straßen, und die vor meiner Abwesenheit angekündigte Katastrophe hat nicht stattgefunden.

War nichts passiert?

In einem Roman lassen sich keine zweihundert Seiten überschlagen, ohne dass einem die Anschlüsse fehlen. Mit der Zeitung scheint das nun möglich. Sollte sich die Wirklichkeit in ein Karussell verwandelt haben, das man jederzeit besteigen und wieder verlassen kann?

Ich versuche mir vorzustellen, wie sich die Schreibenden in den Zeitungsredaktionen nach dem Eintritt in das kreisende Stehenbleiben auf dem Trockenen wiederfanden. Zeitungen sollen das Vergehen der Zeit mitschreiben. Aber was geschieht, wenn nichts weitergeht? Ich male mir aus, wie sie nach einer Phase der Ratlosigkeit beschlossen, einfach die alten Texte umzuschreiben, um die Herausforderung zu bewältigen. Das wirkte zuerst angestrengt. Aber was sollten sie tun, wenn es keine unverbrauchte Wirklichkeit mehr gab?

Was geschehen sein konnte, setzt sich in meinem Kopf feinteiliger zusammen. Kleine Verschiebungen, die mir schon längere Zeit aufgefallen waren, die ich aber als bedeutungslos übergangen hatte, fügen sich jetzt zu einem Bild.

Aber was soll ich mit dem Karussell anfangen? Es gefällt mir nicht. Es führt in eine Bewegung ohne Körper. Die Bewegungen in diesem körperlos Drehenden wirken nur gespielt, scheinen kaum mehr als eine Koketterie.

Veränderung geht vom Körper aus, dem Aufbegehren des Wunsches, der sich als das materiell Mögliche erkennt. Im Körper formt sich der Wunsch, in das Unbekannte einzutreten.

Leerlauf in der Alphaphase

Die Uhr zeigt fünf vor zwölf, und ich habe schon zu Mittag gegessen. Nach Tisch nimmt mir das Radio mein Unbehagen aus dem Mund und lässt es in geraden Sätzen aufmarschieren. Ich schreibe Dir heute, weil es mich an die Situation erinnert, an den Winter vor einem Jahr, als die Stadt unser Viertel zum »Gefahrengebiet« erklärte. Der Begriff und seine Darstellung durch zweitausend Polizisten sorgten für Wut. Wie in einem besetzten Land fühlten wir uns in unserer Würde beleidigt. Die Beleidigung erzeugte ein Wir. Im selben Moment gefielen wir uns in der Nähe zu einer Gefahr, die vorher aus unserer Wirklichkeit verschwunden zu sein schien.

Die Spannung hielt aber nur ein paar Tage, bis begonnen wurde, darüber zu sprechen. Der Angriff auf die Würde entspannte sich in einem Sumpf aus Anekdoten der Empörung, die sich der Deeskalation unterwarf, bis der Rest an Beunruhigung lärmend in einem Kalauer implodierte, der von einer Klobürste handelte. Sie wurde zum Symbol einer Beschwörung der herrschenden Ordnung. Nachdem alle gelacht hatten, gingen die Dinge wieder ihren gewohnten Lauf.

Die Ordnung bezahlt auch gerne für die Kritik. Sie gehört zum guten Ton, den sie Demokratie nennen. Auch gibt es viel zu reparieren, und die Kritik zeigt, wo das dringend getan werden müsste. Die Kritik darf sich viele Freiheiten erlauben, damit kein Defekt übersehen wird und sich zu einem Problem ausweiten könnte.

Gelingt es mir, frei und schnell zu sein, gebe ich damit an, mein Leben liefe rasant geradeaus. Ich täusche manchmal sogar meine besten Freunde und spiegle ihnen vor, ich würde ein schnelles Leben führen. Ich tue das nicht, um sie anzuspornen. Nein, ich will einfach nur keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Gegen die laufende drohende Blamage meiner Langsamkeit stapele ich meine Geschwindigkeit in die Höhe. Ich versuche, mit dem, was mich als Vorschläge eines gelebten Lebens umgibt, auf Deckung zu kommen.

Wenn ich wieder allein bin, schäme ich mich. Die Scham erlebe ich als eines meiner stärksten Gefühle. Sie hilft mir bei einer weiteren Spaltung meiner selbst. Ein Teil von mir läuft den Fiktionen hinterher, während der andere Teil vor ihnen wegläuft. Der Zickzack aus Hinund Abwendung hält mich beschäftigt. Ich drehe mich weiter, erhalte mich in immer enger werdenden Kreisen. Das Einkreisen der leeren Mitte bedeutet eine Anstrengung, der es nicht gelingt, die Kraft zur Veränderung zu bündeln. Während es sich weiter im Kreis dreht, ahne ich: Würde ich mich von der Selbstdisziplinierung verabschieden, stünde ich schon auf der Schwelle nach Draußen.

Du fragst, von welchem Gefängnis ich spreche?

Schlafen mit den toten Dingen

In den Kreisläufen mehren sich seit einiger Zeit die Versuche, die Abwesenheit der Veränderung zu erklären. In einer Art Buch mit dem Titel Futurzwei Zukunftsalmanach las ich vor ein paar Tagen, die Sache mit dem verschwundenen Fortschritt sei ein alter Hut. Die Zeit der Innovationen sei seit Henry Fords Einfall vorbei, dass ein »Auto kein Luxusgut, sondern ein Massenprodukt sein kann. Alles, was danach kam, ist eine endlose Variation des immer Gleichen, und das heißt des immer gleichen Prinzips der Vermehrung von etwas«.

Die Nachkommen derer, die vor hundert Jahren um das Recht auf einen handgeschraubten Selbstfahrwagen gebracht wurden, fordern ihr Recht. Zum Ausgleich wollen sie dieses Mal ein besonders originelles Fahrrad-Unikat, dazu handgeschöpfte Schokolade und ganz viele Dinge, mit denen ihr Selbst und die Welt geschont werden können. Der achtsame Konsum formt eine konservative Repolitisierung der gesättigten Zonen, deren Ziel in der Stabilisierung einer überkommenen Ordnung zu liegen scheint.

Wissen zu wollen, wie man gelebt haben wird, macht müde. Deshalb versprechen viele Vorhersagen im Futurzwei Zukunftsalmanach Möglichkeiten, sich auszuruhen. Eine der Vorhersagen für das Jahr 2041/42 entwirft gleich eine ganze Wohnung als Schlafmaschine: »Der folgende Morgen beginnt wie jeder Morgen, das digitale Vogelgezwitscher in Kombination mit dem Licht, das sehr langsam hochfährt, bis es den Wohnraum flutet wie ein Sonnenaufgang, der keiner ist, weckt die Frau behutsam und zur richtigen Zeit, in der richtigen Schlafphase. Draußen ist es noch dunkel. Ihre Ruhezeit ist exakt berechnet. Um den maximalen Erholungseffekt zu erzielen, ist nur der Zeitpunkt des Aufwachens entscheidend. Ihr kurzer Schwebezustand zwischen Wachen und Schlaf wird von der Erinnerung an Bilder begleitet, die keine Traumbilder sein können, weil sie sich nie an ihre Träume erinnern kann.«

In einer Zukunft, in der jeder Morgen gleich sein soll und alle vorhersehbar ausgeschlafen sind, fällt vielleicht kaum noch auf, wie wenig sich die Visionen des Kommenden von der Warenwirklichkeit der Vergangenheit unterscheiden. Seit das Kommende im Nebel des Bedrohlichen liegt, bewegen sich die Wünsche rückwärts auf der Zeitachse. Die Kaufenden wandern zu den guten alten Dingen aus sorgloser Zeit. Ihre Sorglosigkeit wird aber selten benötigt. Es reicht das Dekor ihrer Zeichen, mit denen die Wohnungen der Wünsche eingerichtet werden können, um in Räumen zu überleben, die vollgeschrieben wurden von fremder Hand. Verstockt liest das Auge die Geschichten von den vergessenen Kräutern, die eine andere wiedergefunden hat; dem melancholischen Jungen mit der Elektrogitarre; dem Gemüse der Region; original echtem Handwerk; einer von der Sozialdemokratie ausgehaltenen Subkultur; stabilen Dingen, die ein Leben lang halten; wahrer Liebe, die bleibt; fundierter Kritik und kreativer Gartenarbeit.