8. Der Ritt auf dem großen Bären

Was für ein Ritt! Der große Bär raste so schnell über den Himmel, dass es ringsum sauste und brauste wie bei einem mächtigen Sturm. Helle Funken stoben aus dem Bärenrachen und verglühten als schimmernde Lichtbahn am pechdunklen Himmel.
Dicht schmiegten sich die vier Reiter im weichen Bärenfell aneinander.
Blitzschnell jagten sie über den weiten, stillen Nachthimmel.
Auf einmal näherte sich ihnen ein mächtig großer, leuchtender Komet mit langem wehenden Bart. Er ähnelte einem grausigen Fratzengesicht. Nah und näher kam er auf sie zu, so, als gehörte ihm der Himmel alleine.
Achtung! Gefahr!
Vor Zorn über diesen dreisten Störenfried brüllte der Bär dröhnend laut los. Er schnaubte riesige Funkenströme vor sich her und zeigte drohend seine Zähne. Unheimlich sah das aus. So unheimlich, dass sich der Komet im letzten Moment zur Seite wandte und direkt neben ihnen vorbei sauste.
Glück gehabt!
Peterchen und Anneliese atmeten erst einmal tief durch.
Weiter ging es auf den Mond zu, der immer größer vor ihnen stand. Bald bedeckte er den halben Himmel, und die Kinder stellten fest, dass er der Erde ähnelte, die sie weit in der Ferne nur noch als kleines rundes Pünktchen im All sehen konnten.
Noch ein paar Minuten, und schon landete der Bär mit einem kühnen Satz auf dem Mond.
Seltsam sah es hier aus. Alles ringsum war in ein fahles Licht getaucht, und überall wuchsen fremdartige Pflanzen. Die Berge waren silbrig weiß, die Täler und Ebenen goldgelb.
Noch ehe sich Peterchen und Anneliese aber genauer umsehen konnten, erreichten sie ein großes Felsentor.
“Halt! Stopp!“, rief der Sandmann dem Bären zu. “Alles absteigen! Wir machen hier eine kleine Pause.”
Und während der große Bär an den porzellanblauen Mondblumen schnupperte, trat der Sandmann mit den Kindern vor das Tor.
"Eingang zur Weihnachtswiese“,
stand da in grüner Edelsteinschrift geschrieben und rechts daneben: "Klingel zum Weihnachtsmann"
Weihnachtswiese? Weihnachtsmann? Wie aufregend!
“Gehen wir jetzt da hinein?”, fragte Peterchen ungläubig.
“Aber ja, aber klar”, brummte der Sandmann mit einem Schmunzeln im Gesicht. “Warum sonst, glaubt ihr, haben wir hier angehalten?”
“Au fein!” Peterchen und Anneliese freuten sich.
Nur der Sumsemann schmollte. Was soll ich auf dieser komischen Wiese? Hoppalapopp aber auch!, grübelte er.
Der Sandmann strich sich den Schlafrock glatt und drückte mit feierlichem Gesicht auf den Klingelknopf am Tor.
Glöckchen bimmelten hell, und lautlos, wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich das Tor.
Mit klopfenden Herzen traten Peterchen und Anneliese an der Hand des Sandmanns über die Schwelle zur Weihnachtswiese.

 

  13. Das Beinchen

“Wir müssen das Beinchen holen! Schnell!”
Die Kinder eilten zur Birke, und Peterchen kletterte bis zu dem Nagel, an dem das Beinchen nun schon so lange Zeit auf sie gewartet hatte, hinauf. Behutsam und feierlich reichte er es Anneliese herunter.
“Das Beinchen! Hurra!” Anneliese jubelte. “So ein Glück!”
Peterchen strahlte. “Da wird sich der Sumsemann aber freuen.”
“Und wie!” sagte Anneliese. „Herr Sumsemann, hörst du? Dein Beinchen ist wieder da.“
„Herr Sumsemann, sieh doch! Wir haben es vom Baum herunter geholt“, ergänzte Peterchen.
Wo aber war er nur wieder, der tapfere Maikäfer Sumsemann?
Jubelnd sahen sich Peterchen und Anneliese nach ihm um.
“Herr Suuuummmmseeemaaaannnnn!!! Wo steckst du?”
“Eigentlich,” meinte Anneliese nachdenklich, “habe ich ihn seit unserer Begegnung mit dem Mondmann nicht mehr gesehen. Du vielleicht?”
Peterchen musste grinsen. “Bestimmt hat er es wieder mit der Angst zu tun gekriegt. Wetten?”
“Gewonnen”, lachte Anneliese. “Lass ihn uns suchen!”
“Ja, aber wir müssen uns beeilen!”
Schon bald entdeckten sie den Sumsemann, der sich tatsächlich beim Anblick des Mondmannes sogleich zwischen Giftpilzen und Schimmelsteinen versteckt tot gestellt hatte.
Grinsend bauten sich Peterchen und Anneliese mit ihrer Trophäe vor dem scheintoten ´Helden´ auf.
“Hier muss es  hinein, das Bein!”, sagte Peterchen und zeigte auf ein kleines Loch unter dem dritten schwarz-weißen Westenstreifen des Sumsemann-Panzers.
“Mit Spucke sollen wir es ankleben, hat der Sandmann gesagt.”
Anneliese spuckte auf das obere Urgroßvater-Beinchenende. Dann drückten die beiden das Bein fest in das Loch hinein. Anstrengend war das, doch nun saß das Bein so fest, dass es nicht so leicht wieder abgerissen oder abgehauen werden konnte.
“Na, der wird vielleicht ein Gesicht machen, wenn er aufwacht!?”, lachte Anneliese glücklich.
“Wenn er den Mut dazu hat!”, murrte Peterchen und rüttelte am Panzer des ´größten Maikäferhelden aller Zeiten´.
Der aber graulte sich so sehr, dass er bloß "Ich bin tot, ganz tot bin ich, toter kann ich gar nicht sein und niemand kann nicht mehr tot machen, weil ich es schon bin!" heulte.
“So ein Blödmann!” Irgendwann riss Peterchen der Geduldsfaden, und er schrie dem Maikäfer dröhnend laut in die Ohren:
"Mannomann, Herr Sumsemann! Sieh dir endlich dein Beinchen an!"
Da, endlich, fuhr der arme, ängstliche Kerl in die Höhe und glotzte die Kinder verdutzt an.
“D-das Beinchen?”, stotterte er. “H-hopalapopp! I-ich d-denke, d-das böse Mondmonster hat euch aufgefressen?”
“Mann, du bist vielleicht doof!”, knurrte Peterchen.
Anneliese aber lachte sich über den ulkigen Maikäfer halbtot, während der dicke Sumsemann zögernd an sich heruntersah.
Da! Hoppalapopp! Wie vom Blitz getroffen, kapierte er endlich, dass das so lange erhoffte Wunder geschehen war. Er sprang auf, tanzte um die Kinder herum und sang:

„Summ, summ, hurra! Summ, summ, hurra!
Mein Beinchen ist da, mein Beinchen ist da!
Ich dank´ euch, ich dank´ euch viel tausendmal!
Nun hat sie ein Ende, die alte Qual.
Von der Sumsemänner fünfbeinigem Leid
haben zwei Kinder uns nun befreit.
Der Fluch ist vorbei! Hurra! Hurra!
Das sechste Beinchen, es ist wieder da!
Summ, summ, hurra! Summ, summ, hurra!
Mein Beinchen ist endlich, ja endlich wieder da!
Hoppalapopp aber auch!!!“

Der Sumsemann sang und fidelte und tanzte auf seinen sechs Beinchen fröhlich und ausgelassen wie nie zuvor im Kreise. Lieb sah das aus, so lieb, dass Peterchen und Anneliese nicht anders konnten als mitzutanzen und mitzujubeln. Fröhlich tobten sie über den aschegrau toten Boden des Mondberges.
Da, plötzlich, blinkerte es hell auf. Ganz kurz nur.
“Kinder, es wird Zeit zu gehen!”, hallte es von weitem. “Ihr müsst vor Sonnenaufgang zur Erde zurückkehren! Und aufgepasst: Der Tag bricht an! Hört ihr, Kinder? Es kommt der Tag!!!”

„Ein neuer Tag bricht an.
Vorbei ist die dunkle Nacht.
Die Sterne machen der Sonne Platz.
Die Erde erwacht. Die Erde erwacht.“

Zaghaft erleuchtete ein zarter Schimmer den Mondberg. Der Boden erglänzte wie grünrot verschleiertes Silber, der Mondstaub auf Bäumen und Pflanzen funkelte hellrosa wie Blütenschnee, und über der höchsten Bergzinne tauchte am nachtschwarzen Himmel die Morgenröte auf. Sie hielt die Arme erhoben, von ihren Händen tropften Rubinfunken, aus ihrem Haar wallten hellrote Nebel. Mit heller, jubelnder Stimme sang sie:

„Der Sonne goldener Wagen naht.
Von der Erde weichen die Träume.
Es kränzen des Himmels heiligen Raum
des Tages silberne Säume.
Ich fliege ü̈ber die Welt dahin,
mit dem Bruder, dem Morgensterne;
Frü̈hwolken wie blitzende Blumen blühn
über der duftenden Ferne.
Schon weckt der Tag den schlafenden Hain
zu des Frü̈hlings leuchtendem Glück.“

Die Morgenröte lächelte, strich den Kindern mit einem rosigen Lichtstrahl über die Gesichter und sagte mit sanfter Singsangstimme:
"Beeilt euch, Kinder! Es ist höchste Zeit. Macht euch zum Rückflug zur Erde bereit!”
Sprach’s und verschwand. Der Himmel hinter ihr aber blieb wie von Purpur übergossen, und das blasse Mondland erglühte mehr und mehr wie eine rosarote Rosenwiese.
“Toll!”, stammelte Anneliese wie erstarrt.
“Und wie schön sie ist, die Morgenröte!”, schwärmte Peterchen.
“Toll? Schön?” Herr Sumsemann wurde nun ungeduldig. “Wollt ihr hier etwa festwachsen”, quengelte er und zupfte an den Hosenbeinen der Kinder. “He, hört ihr? Wir müssen los.”
Und weil Peterchen und Anneliese ihn nicht zu hören schienen, fasste er sie an den Händen und sagte mit feierlicher Stimme:

"Nun ist sie vorüber, die seltsame Fahrt,
bei der ihr mir treue Begleiter wart.
Mein Beinchen habe ich endlich wieder,
so wollen wir schnell zur Erde nieder!
Fasst euch bei den Händen und, hört ihr den Spruch,
so schließt eure Augen! In sausendem Fall
geht es nieder in unser Heimattal."

So ernst klang die Stimme des Sumsemanns, dass sich Peterchen und Anneliese folgsam an den Händen fassten. Im gleichen Moment öffnete sich vor ihnen der Boden, und die drei sanken eng umschlungen hinab in die Tiefe.

 

  10. Das Osternest

Hoppalapopp-ho-hopp! Wild und stürmisch war die Fahrt über die geisterhafte Mondlandschaft, dass nur so die Fetzen flogen.
Schlug der Bär mit seinen Tatzen ein Stück Mondkruste ab, so schwirrten Mondsteinchen klirrend wie Glasscherben um die Köpfe der Reisenden. Dann wieder knisterte das Mondgestein wie Sand und staubte die Reiter so sehr ein, dass sie die Augen schließen mussten. Ehe sie sich jedoch an diesen eigenartigen Staub gewöhnen konnten, war der Boden schon wieder gummiweich, und es wippte bei jedem Tritt unter den Bärentatzen so gewaltig hin und her, dass sich die Reiter festhalten mussten, um nicht vom Rücken des Bären herunterpurzelten.
Zum Glück kannte der Sandmann die Mondlandschaft gut, und er warnte die Kinder immer rechtzeitig.
"Achtung! Kopf beugen!“ rief er, wenn der Ritt über eines der Krustengebirge ging. Hier klang jeder Tritt, als klirrten tausend und mehr Glasscherben auf einmal. Dann wieder befahl er "Augen zu!" wenn eine staubende Mondwüste vor ihnen lag. Am schönsten aber war es, wenn der Sandmann "Festhalten! Gummiteich!" rief. Dann nämlich torkelte der Bär über den Gummiboden, und das ging auf und nieder, wipp und wapp, so dass man glaubte, er sei betrunken. Hier machte die Fahrt am meisten Spaß, weil es auf diesem Gummi-Schwabbel-Labbel-Land so toll schaukelte.
So erreichten sie kichernd und fröhlich das Osternest, das in einem weiten Tal lag und für alle Ostereier und -süßigkeiten zuständig war. Groß wie ein Berg war es, fanden die Kinder.
“Es muss ja auch so riesig groß sein”, meinte Peterchen. “Wo doch so viele Kinder an Ostern auf Eiersuche gehen!”
“Stimmt”, sagte Anneliese. “Aber komisch aussehen tut es trotzdem.”
Da hatte Anneliese Recht. Sehr witzig sah das Osternest aus, auf dessen Rand ringsum ein Huhn neben dem anderen saß. In allen Farben hockten Hühner da, grüne, blaue, weiße, gelbe, rote, schwarze, kunterbunte, sogar gestreifte, getupfte und gesprenkelte, eines dicht neben dem anderen, fein ordentlich die Hinterteile nach innen, Schnäbel nach außen gerichtet. Über der Nestmitte hing ein Strick vom Himmel, an dem ein gelber Ring befestigt war. Darauf saß ein prächtig bunter Hahn, der alle zwei bis drei Sekunden aufs Neue heftig mit den Flügeln schlug und "Kikeriki-i-i-ieh!“, krähte. Und bei jedem "Kikeriki-i-i-ieh!" legte - klack! - jedes Huhn ein Ei aus Zucker, Schokolade oder Marzipan, das der Farbe und dem Muster seines Federkleid glich, in das Nest. Dort wurde es von weißen, braunen und gelben Osterhäschen aufgesammelt, fein säuberlich in Körbe und Taschen gepackt und ordentlich aufgestapelt.