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Reinhard Schultze

Schneefeuerball

Roman

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Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: info@himmelstuermer.de

Originalausgabe, Februar 2018

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt. Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Cover: Luca Giaccio, Ensemble-Mitglied des Bayerischen Staatsballetts, als Feuergott Prometheus. Fotograf Philipp Posovszky, München
Kostümleihgabe mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatsoper

Außenaufnahme vor der Ruhmeshalle, München mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print  978-3-86361-669-4

ISBN e-pub  978-3-86361-670-0

ISBN pdf  978-3-86361-671-7

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

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Reinhard Schultze wurde in Aachen geboren und wuchs im Rheinland und in Genf (französische Schweiz) auf. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, Auslandsaufenthalten unter anderem in New York und Abschluss seiner Promotion arbeitete er als Anwalt und Justiziar einer Landesfilmförderung in Potsdam-Babelsberg, bevor er 2000 nach München wechselte, wo er seither lebt und arbeitet.

Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Product Placement im Spielfilm, C.H. Beck) ist dies sein sein literarisches Debut. Reinhard Schultze – ein seit Kindestagen leidenschaftlicher Reisender, Leser und Theaterfan – sieht sein Erstlingswerk ganz in der Tradition jener Universalromane, die Gesellschaftliches, Politisches und Geschichtliches miteinander verweben, um auf diesem Boden dann die individuelle Geschichte ihrer Helden zu erzählen. Zu seinen Vorbildern gehören neben deutschen Autoren wie Thomas Mann viele amerikanische Schriftsteller wie Michael Cunningham und Annie Proulx, in deren Werken auch gleichgeschlechtliche Liebe und die sich hierzu wandelnde Sicht Thema sind.

 

„Wenn Du eine Person auf der Bühne hast, ist es ein Solo.

Sind es zwei Personen, ist es eine Geschichte.“

 

Hans van Manen

Für Ingrid Ernest,

die in unserer Familie einfach nur Ünne hieß

 

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I.E. als Isabelle in „Intermezzo“ von J. Giraudoux, 1961, Schauspielhaus Düsseldorf,

Fotografin Liselotte Strelow, Bildverwendung mit freundlicher Genehmigung des Theatermuseums Düsseldorf

Prolog

„Wollen wir etwas trinken gehen?“

Die Frage war unter ihren Mützen und wärmenden Ohrenschützern kaum zu verstehen gewesen.

Lukas hatte in den in alle Himmelsrichtungen stiebenden Schnee hinein gefragt. Er fror fest, kaum dass man stehenblieb. So wie jetzt auf Lukas’ Nasenspitze. Eben hatte sich dort eine weitere Flocke auf die erste gesetzt. Zusammen bildeten sie einen winzigen Turm.

Leon und Lukas hatten oben am Ausgang des Sessellifts auf die anderen gewartet. Dann kam das elliptische Ei mit der Oberschale aus blindem Plexiglas in Sicht. Es schaukelte leicht im Wind und passierte den letzten Mast. Attilio, Ricky und Niklas. Viel war von ihren Gesichtern hinter den Schneebrillen nicht zu sehen. Ihre dicken Schals verbargen die Münder.

Sie sammelten sich und stützten sich auf ihre Stöcke. Mit ihrer Vermummung erinnerte die Truppe Leon an eine Bergexpedition. Eine von jenen eigensinnigen Unternehmungen, bei denen sich der Fernsehzuschauer zuhause fragte, was man bei diesem Wetter da draußen eigentlich machte. Man konnte sich Schöneres vorstellen.

Da hatte Lukas sie gefragt.

Jetzt, da mittlerweile so viel schwer messbare Zeit seit jener Frage verstrichen war, schien es Leon, dass der winzige Turm aus jenen zwei Schneeflocken auf Lukas’ Nase der Moment gewesen war, der den Kern ihres Schneeballs gebildet hatte. Dieser nur wenige Sekunden dauernde Moment, bevor sie alle genickt hatten und danach im Schüttelglaswald den verschneiten Waldweg zur Pinzgauer Hütte hinuntergefahren waren.

Stand nicht am Anfang immer etwas mikroskopisch Kleines? Eine winzige Schneeflocke. Etwas so Banales wie die Frage, ob man etwas trinken wollte. Jetzt, da Lukas seinerseits nickte, stob der winzige Schneeflockenturm von seiner Nase hinunter zu Boden.

 

Später, wenn der Himmel aufriss, trat immer offen zu Tage, wo die Lawine gestartet war. Die Männer mit den orangeroten Jacken von der Bergwacht zückten dann ihre Messgeräte, stapften den Hang hinauf und bestimmten zentimetergenau den Ausgangspunkt. Mit dem Stock auf das schmale Dreieck zeigend berichteten sie in die Kamera.

Was hatte die Wettervorhersage an jenem Morgen gemeldet? Heftigen Schneefall und Lawinengefahr.

Er hatte auf seiner Fahrt bei Attilio im Wagen nicht sonderlich hingehört. Das Wetter war, wie es war, und sie würden ausschließlich auf markierten Pisten fahren. Er musste sich keine allzu großen Gedanken machen.

 

Lawinengefahr.

 

Die, die er aus dem Fernsehen kannte, waren aus Schnee.

Er hatte sich nie gefragt, was in ihrem Innersten war. Was das Innerste bewogen hatte, eine Lawine zu werden. Aber so war das immer, dachte Leon. Dann, wenn man zurückblickte.

Diese Mühelosigkeit, mit der man ihn erkannte.

Den Ort und Moment, mit dem alles begann.

I. Leon

Eine Buchung

Es war ein grauer Tag im November, an dem Leon nach Büroschluss auf das Herbstwetter im Innenhof seines Bürogebäudes schaute. Der Hof war frisch renoviert und Leons Blick blieb kurz auf den schlammgrün beschichteten Metallplatten hängen, für die man sich bei der Fassadenrenovierung entschieden hatte. Die Fenster waren wechselnd rechts- und linksbündig durch eine Dreierreihe von Chromleisten gegürtet. Durch diese Renovierung war dem Einheitsbrei-Gebäude der Abriss erspart geblieben. Groß war der Unterschied zu vorher nicht, fand Leon, angesichts der meterhohen Transparente, die das Haus während des einjährigen Umbaus geziert hatten. Arbeiten und Leben in den Athena-Höfen. Leons Blick schweifte über die Holzplanken der neuen Restaurantterrasse mit ihren riesigen, blütenkelchhaften Sonnenschirmen. Dieses Design war immerhin gelungen. Nun arbeitete er also in diesem ökologisch auf die Höhe der Zeit gebrachten Office-Center im Zentrum Münchens und vermisste noch immer das Knarren der Stiegen in dem Gründerzeithaus seiner Heimatstadt Berlin. Beim Aufblicken von seinem früheren Arbeitsplatz hatte er auf den mit weißer Farbe unzählige Male zugeklecksten, rundlich gewordenen Stuck geschaut. Mit seinen fehlenden Exzessen der Leidenschaft schien München das Leben am liebsten in genau solche Räume verbannen zu wollen, in denen er nun saß. Freilich war ihr Credo, die Dinge normen zu wollen, seinem unförmig gewordenen Stuck weit überlegen und leider gaben Powerpointpräsentationen dem Recht. Wenn er sie vorstellte, besaßen sie eine Vorliebe für ein bestimmtes Dimmen der Deckenbeleuchtung. Sie waren darin ebenso kompromisslos wie er mit seinem Wunsch nach einem Kaffee vorher. Dafür bedankten sie sich mit gutem Teamplay und wirkten am Ende alternativlos. Bis auf weiteres also Unternehmensberatung von München aus. Was dann kam – mal schauen, vielleicht Osteuropa. Oder Asien. Nein, lieber Osteuropa. Abends würde er in einem alten Restaurant sitzen, mit rundlichem Stuck. Ja, Prag war gut vorstellbar.

Na denn, bis es soweit war, war er in München bei seinen Bergen. Unter anderem deswegen war er schließlich hergekommen. Bald musste Schnee fallen.

Leons Blick wanderte über die vom Herbstwetter unfreundlich zerzausten Bäume zurück auf seinen Bildschirm. Sein Outlook-Programm war heruntergefahren, aber der PC noch eingeschaltet.

Man sollte buchen. Nach der Erfahrung, die ihm seine Kollegen berichtet hatten, bekam man kein vernünftiges Zimmer mehr, sobald die ersten Flocken es schafften, den morgendlichen Berufsverkehr zu überleben. Dann würden alle Münchner Radiomoderatoren nur noch von Einem reden, nämlich vom Skifahren. Wenn auch die letzten Deppen beim Warten an der Ampel mitbekommen hatten, dass die Saison eröffnet war, sprachen die jungen Damen sehr gedehnt, wenn man sich am Telefon nach einem freien Zimmer für das Wochenende erkundigte.

„Das kannst du dann gleich knicken. Da kannst du geradezu zusehen, wie ihre Motivationskurve abfällt.“

Christian, sein Teamkollege, mimte mit der Hand einen Flieger im Sinkflug. „Zuuh-hm“, machte er dazu. „Einen schönen guten Tag, hier spricht Sonja vom Sonn-Hof am Arlberg!“, näselte er, seinem „Zuuh-hm“-Flieger nachschauend. Dann drehte er sich zu Leon um.

„Weißt du, total freundlich! Und dann fragst du: Hätten Sie noch ein Zimmer frei? Am Samstag, für eine Nacht. Und gleich wird sie pampig. Weil du nur nach einem Wochenende gefragt hast.“

Er konnte es sich gut vorstellen – Sonjas Liebenswürdigkeit, ausgebremst im Schneematsch der Landebahn seines Zuuh-hm Fliegers. Er würde es zunächst mit den Internetseiten probieren. Er glich die Smart-Deals mit den Kritiken auf Tripadvisor ab. Die Enttäuschung kam meistens dann, wenn man die von Besuchern auf Tripadvisor eingestellten Fotos anklickte. Hatte er eben bei den Bildern des Hotelfotografen noch davon geträumt, die erinnerungswürdigen Momente des Wochenendes würden sich vor der Schieferverkleidung der Lobby abspielen – dort würden sie mit lärmenden Skischuhen hereinlatschen und sich zu dem fantastischen Skitag beglückwünschen –, so sah er nun auf die hässliche Duschkabinen-Verkleidung, die Kalkspuren aufwies, fast wie daheim. Man las, der „Kasten“ sei doch etwas unpersönlich und das Personal ortsfremd; die preisgünstigeren Zimmer zur Waldseite dunkel. Das Frühstücksbuffet sei im Übrigen wenig originell und der WLAN-Hotspot habe erst im dritten Anlauf funktioniert. Manchmal stand da auch: „OK für eine Nacht“ oder „Wir waren auf Durchreise und fanden um 22 Uhrspontan dieses Hotel – keine Beanstandungen “. Er hatte vor, in einem Bett zu schlafen, in dem immer weiterzuschlafen eine Versuchung war. Also bitte nichts für die Durchreise.

Wenn er die Suche jetzt abbrach, würde er wohl oder übel zuhause bleiben müssen, wenn der erste Schnee fiel. Es galt, die Erkenntnisse über die Wirklichkeit fein zu dosieren.

Er wechselte zu den Webseiten der Skiorte. Kleine Bilder in grober Körnung öffnend, sah er ein verschneites Haus in der Ferne; die Textzeile darunter unterrichtete darüber, dass das Zimmer TV und ein Bad mit WC hatte.

Aber dann hatte er Glück. Er entdeckte eine Jausenstation, die kürzlich umfassend renoviert worden war, mit Holzböden und Fußbodenheizung. Es gab sogar eine Deckentäfelung, die atemfreundlich sein sollte. Die Jausenstation lag etwas abgelegen, verfügte dafür aber über einen phänomenalen Blick auf den See des nach ihm benannten Orts. Die – wie sympathisch – familienbetriebene Jausenstation ließ sich auch für nur zwei Nächte buchen. Die Kritiken auf Tripadvisor flossen über vor Finderstolz, dieses Juwel namens „Pfefferbauer“ entdeckt zu haben („absoluter Geheimtipp!!“), ganz zu schweigen von dem Birchermüsli am nächsten Morgen („unbeschreiblich!“). Eine Stornierung war bis zu einer Woche vor Anreise kostenfrei möglich. Eine rote Zeile unterhalb der Zwei-Zimmer-Ferienwohnung unterm Dach für bis zu vier Personen blinkte ungeduldig: „Letzte verfügbare Zimmer in diesem Haus für die gesuchten Daten!“

Leon klickte jetzt buchen, füllte die Maske aus und tippte seine Kreditkartennummer. Endlich blinkte das Feld auf: verbindlich buchen. Er klickte, der Kreis rotierte und dann poppte die Bestätigung auf. Da war sie nun.

Eine Buchung.

Bei den Daten hatte er ein Winterwochenende fast aufs Geratewohl eingegeben. Jemand würde schon mitkommen.

War das Wetter gut, würde es traumhaft. War es weniger gut, würde er immerhin an der frischen Luft sein, sich immer noch mehr bewegen als zuhause und dann in einer gemütlichen Hütte zur Belohnung Apfelstrudel essen. Er würde mal wieder Zeit mit Freunden verbringen. Vielleicht konnten sie abends beim Pfefferbauern Wild bestellen, vermutlich zu fairen Preisen.

Wer auch immer mitkam – er würde einfach den vorgefertigten Lebensräumen des Office-Centers für kurze Zeit entkommen und wieder einmal das Gefühl haben, richtig zu leben.

Und der Ort, dies zu tun, hieß Zell am See.

Inntal–Dreieck

Der Anreisetag erwies sich als schwierig.

 

Die Wettervorhersage war entsetzlich, und zwar für das gesamte Wochenende. Die Gruppe, die sich nach einigen SMS herausgebildet hatte, bestand neben Leon aus drei Freunden, zwei guten und einem etwas ferneren. Der fernere war Ricky, ein echter Kölner mit goldener Laune laut Niklas, der ihn im Schlepptau haben würde. Niklas, ehemaliger Münchner, arbeitete mittlerweile in Frankfurt. Dass die beiden am Freitag zu einer halbwegs vernünftigen Zeit aufstehen würden, war angesichts Niklas’ Gepflogenheiten ausgeschlossen; angesichts des angekündigten Wetters war erst zum Abendessen mit ihnen zu rechnen. Drei gemeinsame Tage an der frischen Luft schmolzen so auf zwei zusammen, was Leon schade fand, aber bei guten Freunden war es wichtig, Toleranz zu zeigen.

Der vierte im Bunde war Attilio – ein Inbegriff von Sportlichkeit. Er joggte schon um fünf Uhr. Auch in Zell würde er jede erdenkliche Pause für Job-E-Mails nutzen. In der Regel erlebte man Attilio mit mindestens zwei online geschalteten Mobilgeräten, die dann neben den E-Mails die aktuelle Schneehöhe anzeigten und zugleich bandwurmhaft lange Play-Listen abspielten. Das Multitasking bewirkte mitunter, dass man Fragen, die man an Attilio richtete, wiederholen musste. Attilio war okay. Sie beide würden in Attilios neuem Range Rover fahren, was Leon die Autofahrt im eigenen BMW ersparte. Dagegen war angesichts des Schlechtwetters nichts zu sagen. Sein BMW sah gut aus, fand Leon; jedenfalls hatte er das, bevor er ein bisschen in die Jahre kam. Auf glitschigen Serpentinenstraßen erinnerte er Leon an eine Frau auf dem Rückweg von der Après-Ski-Bar zum Skihotel. Du konntest sicher sein, dass die Balance irgendwann echten Gefährdungen ausgesetzt war.

Attilio hatte am Freitagmorgen noch einen Geschäftstermin, den er nicht verschieben konnte –Attilio hatte nur Termine, die er nicht verschieben konnte –, so dass sie allemal nicht vor 13 Uhrin Zell eintreffen würden. Nach Zimmerbezug und Weiterfahrt zur Liftstation würden ihnen gerade noch zwei Stunden bleiben, bis die Lifte schlossen; dafür einen Urlaubstag zu nehmen, war Unsinn. Sie hatten sich so auf eine 17-Uhr-Abfahrt geeinigt. Ob er Attilios Play Listen trauen sollte, wusste er nicht – sie waren endlos, wurden aber meistens nicht besser –, und so hatte er ein paar CDs mitgenommen. Die meisten waren auf (oder in) Französisch oder Italienisch, darunter eine neue von Patrick Fiori. Der hatte einmal beim Eurovision Song Contest mitgemacht – in den Jahren, als dieser noch Grand Prix Eurovision hieß und die Lieder einfach besser gewesen waren, wie Leon fand.

 

Als er zu Attilio ins Auto stieg, führte dieser ein längeres Gespräch, auf das sofort ein Anruf von zuhause folgte. Sein Neffe war gerade weggelaufen. Attilio redete Dialekt, wenn er mit zuhause telefonierte: „Da kannscht nix machen, wenn er weg will, will er weg. Hey, der ist alt genug; der kommt schon wieder zurück!“

Attilio wechselte bei 160 Stundenkilometer und miserabler Sicht die Spur, hinein in eine minimale Lücke zwischen zwei PKW. Die Stimme seiner Schwester über die Freisprechanlage war so klar, als säße sie auf der Rückbank. Das Hauptmerkmal ihrer Argumentation war ein lang gezogenes, wiederholtes „Du…”, auf das eine Pause folgte. Mit halb zugekniffenen Augen achtete Attilio auf die minimalen Unterschiede ihrer „Dus“. Leon hatte das Gefühl, Attilio würde am liebsten alles, was danach kam, vehement abkürzen, aber er blieb geduldig. Dann wiederholte er, was er soeben erklärt hatte. „Ja... nee, kannscht nix machen … Hey, warte ab. Der taucht auf! So blöd isser nich. … Ja, weiß ich. – Hey, sag Mama … Karin, stopp – STOPP! Sag Mama, sie soll sich jetzt nicht verrückt machen. Polizei bringt nichts. Wir warten ab bis morgen …“

Die Freisprechanlage schwieg. Sie konnten förmlich fühlen, wie Karin auf ihrer Rückbank hin und her rutschte. Attilio sah zu Leon hinüber und formte mit seinen Lippen still ein Wort des Unwillens; seine Hand tippte fragend in Richtung der Freisprechanlage. Die schien sich daran zu erinnern, dass der Ball in ihrem Spielfeld lag, zog es aber vor zu schweigen.

„Nochmal … Karin, mach dich jetzt nicht verrückt, hörscht? Und schlaf jetzt erst mal. Ja? Okay … Wir sind etwa in ´ner guten Stunde da. Ich meld mich morgen früh noch mal. Bis morgen dann. Tschüss!“

Attilio dreht sich halb zu Leon um. „Ah! Dreizehnjährige! Da kannst nix machen! Hast ja gehört.“ Er schaltete das Radio ein und sie lauschten der Wettervorhersage; sie klang noch immer grauenvoll. „Ihr seid mir die Richtigen. Mein Neffe büchst aus und du bist auch nicht besser. Skifahren bei Schneesturm. Schöne Ideen, die ihr da habt.“

„Erinnere mich, dass ich Niklas dran erinnere. Nur ausgeschilderte Pisten. Ich hoffe, keiner ist aus Zucker.“

„Ach, das wird prima, Leon! Ich mach mir da gar keine Sorgen …“

Sie fuhren weiter und Leon legte die neue CD ein. Er studierte die Rückseite der CD. Der Song hieß L’instinct masculin.

„Leon, ich kann kein Französisch!“

„Ach, natürlich kannst du das. Außerdem ein tolles Lied – schon wie das losgeht! Hör mal rein!“

Juste un homme qui grandit – un moment dans sa vie – juste un homme qui fait tomber les à priori – comme un homme sans abri – s’ abandonne, se confie – et qui donne tout ce qu’ il a en lui.

Die Melodie war eingängig. Ab dem zweiten Refrain hatten sie sie drauf und ersetzten die Liedzeilen durch Na-na-na.

„Was heißt’n das jetzt genau, was dein französischer Fritze da singt?“

„´S geht um einen Mann im Aufbruch. Um den Moment, in dem er alles hinter sich lässt. Er vertraut nur noch seinem Instinkt! Und gibt dabei alles …“

„Hm. Klingt gut. Ein schönes Lied.“

„Siehst du.“

Als es zu Ende war, sagten sie beide eine Weile lang nichts. Leon musste an die Freisprechanlage denken. Wenn Männer alles hinter sich ließen, lag ein gut bekanntes Thema auf der Hand – und der Ball in Attilios Feld.

„Und wie läuft’s mit Marc?“, fragte Leon schließlich. Attilio starrte weiter durch die schwarze Windschutzscheibe.

„Eigentlich nichts Neues.“ Er lachte das typische, starke Attilio–Lachen. Es klang abgeklärt, aber schoß jedesmal mit solcher Wucht aus ihm heraus – wie aus einem Krater, dachte Leon. Einem Krater mit hohen Temperaturen unten.

„Wir telefonieren jeden Tag. Und … nun ja, Marc ist halt in Bangkok.“

Marc arbeitete seit wenigen Monaten als Ex-Pad bei einem großen Konzern in dessen Asien-Niederlassung. Er und Attilio hatten sich zuletzt zu Weihnachten gesehen, als Attilio mit Marcs Eltern zu einem Weihnachtsbesuch dort aufgekreuzt war. Leon erinnerte sich gut an die Hoffnungen, die Attilio im Vorfeld an diesen Besuch geknüpft hatte.

„Wie war’s zu Weihnachten?“

„Och … eigentlich … gut. Ja … gut.“ Attilio wechselte wieder die Spur, in Zentimeterabstand zur nächsten Stoßstange. Ein Wahnsinn, dachte Leon.

„Also das Hotel – Leon, du hättest die Krise bekommen! Das war … Kitsch! Stell dir Weihnachten als Karaoke-Abend in Disneyland vor. Ich kann dir Bilder zeigen …“ Attilio tippte auf seinen Laptop, der auf der Ablage zwischen den Sitzen lag.

„Ich kann’s mir schon vorstellen …“

„Naja, dass seine Eltern da waren, war natürlich super für Marc.“ Eine Erinnerung spielte um Attilios Mund. „Wir sind mit ihnen in Bangkok in einer von diesen Thai-Moped-Rikschas gefahren. Die kennst du, oder? Diese winzigen, offenen Dinger. Brettern da rum … Und du hältst dich an so ´ner klapprigen Metallstange fest. Witzig.“

„Und Marc und du? Habt ihr euch gut verstanden?“

„Was willst du denn hören?“ Attilios Blick folgte der Beschilderung der Ausfahrten. Als nächstes kam der Chiemsee. „Ich glaube, er fühlt sich wohl. Seinen Job macht er jedenfalls gern. Und, Leon, er muss da nichts mehr selbst machen! Für alles und jedes hat er jemanden. Wenn du frühstücken willst, gehst du ins Hotel. Wenn du duschen willst, gehst du zum Pool. Marc wäscht kein einziges Handtuch selbst.“

„Scheint ja ein Paradies für Workaholics zu sein … aber du arbeitest ja auch immerzu.“

Attilio zog bei dieser Bemerkung einen Flunsch.

Der Satz waberte im Fahrgastraum: Komm, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Stattdessen fragte Leon: „Hast du ihm denn jetzt einen Heiratsantrag gemacht?“

Das war der Plan gewesen, von dem ihm Attilio erzählt hatte – im vorigen November, als sie eine einwöchige Tour durch Marokko unternommen hatten:

 

„Ich frag ihn!“

„Ja, dann frag ihn doch!“

„Aber er wird nein sagen!“

„Warum denn?“

„Weil wir darüber gesprochen haben. `Wenn du mich fragst, Attilio, sag ich nein.’“

„Aber warum willst du ihn dann noch fragen?“

„Warum denn NICHT, Leon?! Menschen, die straight sind, heiraten. Menschen, die schwul sind, auch. Leute bekommen Kinder. Warum sollten wir keine Kinder haben?“

Leon hatte geschwiegen. Sie wussten beide, was Marc davon hielt.

„Das ist doch heute alles überhaupt kein Problem mehr! Du suchst dir eine Frau, mit der so etwas geht, und wenn das Kind erst da ist, arrangieren sich alle und freuen sich. First things first, oder? Man muss es nur tun, Leon! Nur wir Schwulen machen aus Allem ein solches Drama.“

Nur Marc machte aus Allem ein solches Drama. `Wenn ich schwul bin, hat sich die Natur doch etwas dabei gedacht, nicht?’, hatte Marc einmal zu Leon gesagt, mit einem selbstironischen, gleichzeitig entschlossenen Lächeln.

„Meine Güte, Leon! Weißt du, immer diese Angst, mit den eigenen drei Bedürfnissen zu kurz zu kommen – dabei: Einfach tun!“

 

Das war im November gewesen. Zu Weihnachten war Attilio also hingefahren, aber die Frage, von der er so vehement bemerkt hatte, warum er sie denn bitteschön nicht hätte stellen sollen, war dann offenbar nicht gestellt worden. Dabei konnten Alpha-Männer doch eigentlich alles. Sie konnten tausende Kilometer zwischen Bayern und Bangkok überwinden, als wären die nichts, allenfalls ein paar Stunden, in denen man aß und döste. Schon die Frage danach, ob solche Reisen aufwändig waren, hätten sie komisch gefunden – sie packten einen Koffer und fuhren zum Flughafen. Ticketpreise waren nebensächlich. Wenn sich die Strecke MUC-BKK en passant erledigen ließ und lange darüber zu reden so überflüssig war wie ein Kropf, verlor auch das Wort Fernbeziehung seinen Schrecken. Jedenfalls für zwei Männer, dachte Leon, wie Marc und Attilio, die beide noch nicht zu alt waren, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Warum schaltete ihre Ampel dann nur so oft auf Rot, während die Boarding now-Anzeigen auf den Schalttafeln ihrer Abflug-Gates doch immer grün waren …

Niklas meinte ja, das Beste sei gar keine Beziehung. Lieber klare Verhältnisse als dieses ständige Suchen nach der Anwort auf die Frage, die ihm schon zum Halse raushing, kaum dass die Dinge in seinem Leben einmal etwas verbindlicher wurden. Die Frage: Wo sind wir denn ein Wir.

Leon hatte damals Niklas’ Bemerkung unkommentiert gelassen und sich vorgenommen, an der Überzeugung festzuhalten, dass das Beste eine Beziehung mit überschaubaren Problemen sei, im Grunde also genau eine solche, wie Marc und Attilio sie führten. Wenn Attilio von den Bildschirmen seiner Mobilgeräte aufsah, würde Marc gerade schlafen. Zeitverschiebung. Derjenige von beiden, der gerade noch wach war, würde zum Kühlschrank laufen und die verbleibende Zeit fernsehen. Nicht ideal, aber wo gab es das schon. Vielleicht würde sein Blick irgendwann doch wieder zum Laptop wandern, hin zu den Internetseiten – diesmal zu denen der Kontaktbörsen, auf denen Torsobilder schlaflos Chattende dazu einluden, „hi“ zu schreiben und zu warten, ob der Besitzer des schönen Torsos dann mit „hallo :-)“ antwortete. Das war zwar wirklich alles andere als perfekt, aber noch immer überschaubar. Leon hatte die Erfahrung gemacht, dass schwule Paare, die von sich sagten, dass sie sich treu seien, damit etwas anderes meinten. Was sie sagen wollten, war, dass man in bestimmten Phasen einer Beziehung lieber nicht zu viele Fragen stellte.

Am Ende war Attilios Heiratswunsch also nichts anderes gewesen als der Versuch, den gordischen Knoten zu zerschneiden, den ihre Karrieren in ihr Leben gebunden hatten. Der Wunsch, einfach die beiden Enden neu zu fassen und die Schleife zu binden, als ob es ihren Erfolg nicht gäbe. Für Marc musste das nach Schauspielerei ausgesehen haben. Leon sah ihn vor sich – zu Weihnachten, in Bangkok. Wollte Attilio gerade etwas sagen, etwas Wichtiges? Attilio, der kurz auf sein Weinglas starrte und dann alle abwechselnd anschaute. Warum hatte er wohl – doch sicher nicht ganz zufällig – den Weihnachtsabend dafür ausgewählt, um sich plötzlich so bedeutsam zu sammeln. Einen Abend, an dem prompt Marcs Eltern daneben saßen – beide ebenso festlich gestimmt wie sie. Leon sah Marc vor sich, wie er unruhig wurde. Wer sagte schon gerne „nein“, wenn die eigenen Eltern daneben saßen; Eltern, die Attilio seit so Langem kannten und mochten. Er sah ihn vor sich, wie Marc jetzt die entstandene minimale Pause dazu nutzte aufzustehen, sich zu entschuldigen und die Toilette aufzusuchen.

„Guck dich doch um, Leon. Willst du mit ihnen tauschen?“, hatte Niklas damals gesagt, als sie über Marc gesprochen hatten. Noch während Leon überlegt hatte, ob er widersprechen sollte, hatte Niklas eine wischende Handbewegung gemacht, etliche Paare streifend und das, was sie über sie wussten oder vermuteten. Niklas hatte nur die Augenbrauen hochgezogen. „Ich nicht.“ Na schön, hatte Leon gedacht. Also tauschten sie nicht. Und hoffentlich fragte keiner. Denn im Ernst, was sollte man darauf antworten. Auf die Frage: Wo seid ihr denn ein Wir. Er musste an das Lied eben denken; schade, dass er das Lied noch nicht gekannt hatte, als Niklas und er dieses Gespräch geführt hatten. Als Single, hätte er gesagt – und also doch widersprochen –, droht uns Patrick Fiori in Dauerschleife. Du weißt längst, was du willst, und bleibst doch immer in der Rille des Neuanfangs hängen. Ja, manchmal hatte er tatsächlich das Gefühl, dass sich sein Neuanfang zerfaserte … Was für düstere Gedanken du heute hast, ermahnte er sich. Hinterm Horizont liegt noch immer Arkadien.

„Kennst du“, fragte Leon Attilio, und er drehte die Musik von Attilios Playlist leiser, „kennst du Brideshead Revisited von Evelyn Waugh? Auf Deutsch heißt es Wiedersehen mit Brideshead …

„Nein. Warum?“

„Na, ich musste eben daran denken. Das Arkadien, das wir suchen. Brideshead habe ich damals als Teenager gelesen. Übrigens während eines Skiurlaubes. Ich habe ihn immer im Rucksack dabeigehabt und an den Liftstationen dann ausgepackt, bis die nächste Gondel kam. – Ja, schon gut, ich komme zum Punkt. – Also, der Roman ist zwei Mal verfilmt worden. Wenn du mich fragst, ist der Mehrteiler mit Jeremy Irons noch immer ungeschlagen – damals, als er noch so jung war – so sexy. Kurz, ich musste eben daran denken, weil wir Schwulen doch immer im Aufbruch sind, oder? Wie auf diesen ersten Seiten des Romans, wenn Charles diesen umwerfend charmanten Sebastian kennen lernt. Waugh nennt das Kapitel Et in Arcadia ego. Ein im Grunde sehr schwules Thema, wenn du mich fragst. Wie in diesem ungarischen Song beim ESC in Düsseldorf, erinnerst du dich noch? Vor Jahren. Kati Wolf und ihr: What about my dreams, what about my life – I can’t go back, I – won’t go back … Das ist doch so eine klassische Gay-Hymne …

Attilio nickte und sie wippten leise mit dem Kopf im Takt zu „I can’t go back – I won’t go back.“

„Und so ist das auch bei Wiedersehen mit Brideshead. Das ist auch so eine Reise und Charles immer auf der Suche. What about my dreams. Er ist so hungrig – er lässt das spröde Einerlei der Tage bei seinem Vater hinter sich, in denen er sich so schrecklich gelangweilt hat! Und jetzt lernt er plötzlich Sebastian kennen, diesen Schmetterling! Noch halb verpuppt. Ein Sebastian mit bunten Flügeln, wo dann kein Halten mehr ist.“ Leon rollte belustigt die Augen und Attilio musste grinsen.

„Und in Sebastians Welt“, fuhr Leon fort, „ist alles so glanzvoll, weißt du? Wie bei Gatsby. Es ist Alles da, was Charles früher vermisst hat. Und er kann endlich eintauchen in sein neues Schwanen-Ich. Er glaubt sich in Arkadien – wie auf einer Pride-Parade. Da singt einer What about my life! Mit so bunten Federn wie Dana International damals, in dem Kleid, das Jean Paul Gaultier für sie geschneidert hat. Federn in allen Regenbogenfarben – und alle johlen vor Vergnügen. Darin sind wir Schwulen doch immer gut! Immer Aufbruch!“

Attilio wandte den Kopf. „Will heißen?“

„Will heißen – wie bei Patrick Fiori! Immer lassen wir alles Dagewesene hinter uns. Immerzu erfinden wir uns neu, ein Neuanfang in Dauerschleife. Aber wir zahlen auch einen Preis dafür.“

Attilio schaute neugierig, wie immer, wenn er leise zu ahnen begann, von welchen Gedanken sich Leon gerade mitreißen ließ. „Einen Preis, meinst du …?“

„Ja! Und das heißt, dass ihr vielleicht gar nicht heiraten müsst. Vielleicht seid ihr schon in Arkadien! Vielleicht brauchst du gar keinen Neuanfang – das Leben ist halt so. Alltag! Keine Federn von Dana International. Stattdessen Zeitverschiebung. München-Bangkok. Überschaubare Probleme.“

„Hm.“

„Wir wollen immer die Steigerung, die Highlights, und glauben, am Ziel zu sein, wenn – immer gibt es ein Wenn! Du willst ja im Grunde gar nicht die Heirat mit Marc; du willst vor allem ein Kind. Und du glaubst, dann wird alles neu. Kann denn nicht das, was schon ist, einmal das Wahre sein? Deine Firma! Ein gemeinsames Weihnachten in Bangkok! Dass ihr überhaupt zusammen seid! Wir benehmen uns wie Gäste, die sehnsüchtig am Tor der Gatsby-Villa stehen. Dabei seid ihr doch schon längst drin!“

„Ach Leon.“ Attilio lachte kurz, aber diesmal schien die Lava nicht den Weg bis oben zu schaffen. „Mal im Ernst. What about my life! Weißt du, wie es ist, wenn man kämpft, jeden Tag, ohne Pause? Erst kämpfst du für die Firmengründung. Dann kämpfst du um den ersten Auftrag. Dann sprichst du mit den Banken und wartest auf die Zusage. Dann laufen die Dinge plötzlich an und schon weißt du nicht mehr, wie du das alles unter einen Hut bringen sollst. Stattdessen buchst du einen Flug nach Bangkok und lässt deinen Schreibtisch mit lauter E-Mails zurück, die du noch nicht einmal gelesen hast. Du hast ein megaschlechtes Gewissen, dann kommst du in Bangkok an und kämpfst dort wieder, diesmal für etwas, das es offenbar schon gar nicht mehr gibt. Für ein Wir. Und in dem Moment, wo du glaubst, du hast es, merkst du – Marc hört dir gar nicht zu. Und bei allem, was dann noch kommt, denkst du: Ach, was soll’ s. Am Ende hat’s halt nicht gereicht.“

Sie schwiegen einen Moment.

„Und wie geht es jetzt weiter mit Marc und dir?“

Attilio setzte den Winker. Nun würde es auf der deutschen Alpenstraße weitergehen, über Inzell, Lofer und Saalfelden bis Zell am See.

„Kann ich hellsehen, Leon? Wir werden sehen …“

 

Als der Wagen die letzte Etappe nach Zell am See in Angriff nahm, merkte Leon, wie sehr er sich freute. Aufs Skifahren und die Zeit mit Attilio, Niklas und Ricky und darauf, dass sie wenigstens für zwei Tage alles Dagewesene hinter sich lassen konnten. Natürlich war er selbst nicht einen Deut besser, was ihre bedenkliche Sucht nach Highlights betraf. Aber er brauchte schließlich auch keinen Antrag auszuschlagen.

Er legte die Hand auf Attilios Schulter und fühlte sich wie Charles in Brideshead Revisited; durch das Fenster sahen sie auf die über ihnen ragenden Bergwände. Wahrscheinlich, dachte er und musste grinsen, ja, wahrscheinlich gucke ich gerade tatsächlich gar nicht so viel anders als Charles – damals, als dieser die Auffahrt nahm, die Augen in die Höhe schweifen lassend, vor sich die erleuchteten Fenster von Brideshead.

Highlights hatten etwas, das sich so schwer in Worte fassen ließ. Man ahnte es, wenn man darauf zufuhr. Dieses Wow.

Beim Pfefferbauern

Die Serpentinenstraße führte steil bergan und es war dunkel. Einmal mussten sie umdrehen, weil sie unverhofft in einer Sackgasse landeten; doch dann leuchteten die Lichter des einsamen Berghofes, und auf einmal waren sie da. Was für ein Haus, dachte Leon. Mit seiner neuen, festen, großvolumigen Holzverkleidung vom Scheitel bis zur Sohle war der Pfefferbauer ein kraftstrotzendes Bollwerk gegen Nacht und Schnee.

Niklas hatte schon vor wenigen Minuten getextet: „Super hier!! Wann kommt ihr? Wir STERBEN vor Hunger!!!“ Jetzt kamen sie ihnen am Eingang entgegen; Niklas in Bergtracht, wie immer, wenn man ihn in den Alpen antraf (kariertes Hemd, Joppe) und natürlich mit seinem unvermeidlichen Baseballcap. Ricky erinnerte Leon an einen schwarzhaarigen Struwwelpeter. Er steckte in einem schlammfarbenen Pulli mitsamt passendem Schal dazu, als habe ihn eine Freizeitmarke in ihrer Winterkollektion auf Reisen geschickt. Nach dem, was Leon über ihn wusste, musste er Mitte dreißig sein, wirkte jedoch deutlich jünger. Ein sympathischer gay Peter Pan.

„Da seid ihr ja endlich!“ Er spürte den Druck von Niklas’ kurzer, kräftiger Umarmung. „Macht bitte schnell, die Küche wartet schon auf uns.“

Sie ließen die Koffer im Wagen und Niklas und Ricky brachten sie nach oben. „Ihr werdet sehen – die Bude ist einfach grandios! Hast du super ausgesucht, Leon!“ Wie ein Showmaster präsentierte ihnen Niklas mit ausgestrecktem Arm ihr Zwei-Zimmer-Appartement – sie blickten auf den holzverkleideten Dachstuhl, schneeweiß gekalkte Wände und warmen Holzfußboden. Fenster und eine Balkontür rahmten das Wohnzimmer auf drei Seiten. Durch eine Tür sah man ins Bad, mit viel Natursandstein und viel Platz.

„Der Hammer!“, nickte Attilio anerkennend.

„Ja, das ist Alpen at its best”, bestätigte Niklas, den Showmaster-Arm auf Rickys Schulter legend. Er klickte ein Selfie vor dem Dachstuhl. „Aber das Beste habt ihr noch gar nicht gesehen. Schaut euch mal den Blick vom Balkon an. Das ist der Brokeback Mountain vom Salzkammergut.“

 

Als sie in die urgemütliche Jausenstube kamen, lagen die Menüs schon aufgedeckt. „Schwarzwurzelsuppe? Klingt gut.“ Attilio studierte die Speisekarte. „Unbedingt Schwarzwurzelsuppe! Und dann das Wiener Schnitzel mit Gurkenkartoffelsalat – wenn man in Österreich ist, ein must, oder?“ Ricky winkte dem Kellner. Sie bestellten und drei Smartphones wurden hervorgeholt, die nun neben den Tellern lagen.

Leon schaute aus den Panoramascheiben auf die weißen Berghänge; es war der Anblick, von dem er sich schon eben auf dem Balkon kaum hatte losreißen können. Der See glitzerte wie ein dunkler Kristall, der das Mondlicht zurückstrahlte; das war tatsächlich Österreich at its best.

Ricky war seinem Blick gefolgt. „Und du kannst dir gar nicht vorstellen, Leon, wie viel Brokeback es hier gibt …”, grinste er, mit dem Kinn in Richtung seines Smartphones nickend. Auf dem Display erkannte Leon die Portalfarben einer ihm gut bekannten Internetplattform. Er hatte als einziger sein Mobiltelefon auf dem Zimmer gelassen.

„Es ist unglaublich! Die sind hier alle so ausgehungert! Wir haben schon mit acht Typen gechattet! Echte Schnuckel dabei!“

„Jungs, wir sind zum Skifahren da“, erinnerte Leon. Er bereute es im gleichen Moment. Angesichts des Wetters würde er die Steilvorlage sofort büßen müssen.

„Leon …“ Niklas hielt kurz inne, um seiner Bemerkung den richtigen Nachdruck zu verleihen. Bei aller Süffisanz signalisierten seine Züge, dass er das Folgende völlig ernst meinte, darin lag der Witz… „Also DU kannst hier gern bei Sturm und Graupelschauern deine vollen acht Stunden Ski fahren.“ Seine Hände spreizten sich zu einem It’s all up to you. „Was MICH betrifft, so werde ich morgen erst einmal ausschlafen. Gegen elf Uhrfindet ihr mich dann auf der Hütte. – Und“, fügte er hinzu und guckte auf das Display seines Smartphones, das gerade geblinkt hatte, „wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, nicht allein.“ In Beantwortung des Blinkens tippte er zwei Wörter und drückte auf Senden. Still formten seine Lippen ein einziges Wort. Done.

„Ich werde vor dem Frühstück noch joggen. Aber ich bin dabei, Leon, wenn der Lift aufmacht.“

„Wo willst du denn hier bitte joggen, Attilio?“, runzelte Ricky die Brauen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wann wolltest du dann aufstehen?“

„Frag nicht“, antwortete Niklas, den Blick weiter auf sein Smart–phone gesenkt. „Es ist zwecklos.“

Ricky hob die Hände. „Nee, Jungs, das glauben sie mir in Köln doch nicht! Erst das Haus hier und dieser Blick. Dann diese Suppe – und dann joggt Attilio morgens um fünf bei Sturm auf den Berg! Mit euch ist das ja wie im Film. Ginge es für den Anfang etwas normaler? – Bitte, ich bin das nicht gewohnt …“

Nach dem Essen ging Leon vor die Tür und zündete sich eine Zigarette an. Der Wirt vom Pfefferbauern kam heraus und leistete ihm Gesellschaft. Sie stellten sich vor. Er hieß Matthias.

„Hat’s Essen geschmeckt?“

„Wunderbar.“ Das Kompliment fiel Leon leicht. „Ihr Essen ist allein schon ein Grund, hierher zu kommen! Einfach klasse. Alles!“

„Eure Forelle kam da aus dem Teich, hinterm Haus.“ Er nickte über die Schulter. „Den haben wir letztes Jahr angelegt. Und das Rind heute Abend – also für die zwei, die das Gulasch genommen haben: aus unserer eigenen Aufzucht! Aber morgen müsst’s die Gams probieren. Hab’ eine geschossen. So was bekommt’s nicht alle Tage.“

„Sie jagen auch?“

„Ja, auch das. Hier droben macht man, was man kann.“

„Und das Haus – auch?“

„Die Renovierung? Na, das alte war ja schon da. Da hat’s früher aufgehört, schau!“ Er wies mit der Hand hinter sich, auf die schemenhaften Umrisse im Dunkeln. „Das Stück Wald gehört ja zum Hof. Das Holz haben wir dann getrocknet und dann die Bretter zug’schnitt’n.“

Leon wollte etwas fragen, aber Matthias winkte ab. „Das Zimmern lernt man im Tal. Und etwas Hilfe hab´ ich auch g’habt, sonst wärn’ wir nicht so schnell fertig geworden. Ein halbes Jahr hat’s gebraucht.“

Sie drückten ihre Zigaretten aus.

„Na, geh’n ma wieder rein, oder?“ Matthias blinzelte in den fallenden Schnee. „Morgen wird’s stürmisch, wenn’s mich frogt.“

 

„Das ist schon unglaublich, oder?“, sagte Leon später zu den anderen, als sie sich bettfertig machten. „Der macht hier alles selbst! Er zimmert. Rinder aus eigener Zucht. Forelle vom Teich hinterm Haus! Und dann hat er noch den Gastbetrieb und die Küche. Morgen bekommen wir Gams und drei Mal dürft ihr raten: selbst geschossen. Die sind hier völlig autark!“

„Ja, wenn’s morgen Krieg gibt, zieh’ ich hier ein.“ Rickys Kopfnicken gab ihm Recht. „E-Mails kann man ja auch von hier versenden, oder? Und hier brauchst du auch kein Fitnessprogramm. Die werden alt hier, Leon. Immer an der frischen Luft. Immer mit Blick auf den Zeller See!“

„Deswegen kommen wir ja her“, nickte Niklas. „Was könnte schöner sein als so ein autarker Bergbauernhof, während es draußen dicke schneit. Jungs, ich sag’s euch: Das ist das Paradies!“

„So hätten wir es doch am liebsten alle Tage, oder?“, fragte Attilio vom Bett herüber. „Der Junge ist doch vorbildlich, wie er seinen Laden hier aufgezogen hat. Einfach schau’n, ob man es nicht selbst machen kann. Und dann einfach tun! Ich sag’s ja immer!“

„Damit wären wir wieder beim klassischen Thema, nicht wahr?“, schmunzelte Leon. „All by myself. Dann brauchst du auch kein Wir! Am besten, wir pfeifen auch gleich auf die Dates der letzten Monate! All den Mist aus dem Netz, den wir so mit uns rumschleppen. Join me in the real life! Und wem es zu weit ist, bis zum Pfefferbauern hier: I couldn’t care less. Bye!

„Hey, Jungs, wat philosophiert ihr da rum“, gähnte Ricky und fiel in Kölschen Dialekt. „Dat is’n schöner Bauernhof, der leckeres Essen macht. Und draußen schneit’s. Und dat isset. Jetzt lasst uns mal schlafen gehen, sonst kommen wir morgen nicht aus den Puschen.“

„Ricky hat Recht, Jungs“, sagte Niklas. „Ab in die Federn. Außerdem wollen wir doch morgen auf der Piste gut aussehen. Was sollen die hübschen Jungs sonst von uns halten? Wir wollen da doch nicht mit Ringen unter den Augen aufschlagen…“