24

Als Amber völlig gerädert das Hotel verließ, wartete Lynn bereits am Tor. Unter ihrem Arm hatte sie ein kleines Päckchen, das wie ein Tortenkarton aussah. Ein altmodischer Mond lächelte sie vom Kartondeckel an.

»Hey, du holst mich ab, das ist aber nett!«, sagte Amber und schloss sie in ihre Arme.

Lynn zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dir nur zeigen, dass ich nicht schon wieder abgehauen bin. Hier, ich habe uns ein wenig Kuchen geholt.«

»Aus dem Moonshine?«

Lynn nickte. Ein wenig hatte sie gehofft, Noel im Café anzutreffen, doch er war nicht da gewesen. Dafür hatte Mr Cramer, sein Vater, zu ihrer Bestellung noch einen Karton mit Probierstückchen gebracht, mit den Worten, dass sie ihrer Mutter etwas zum probieren mitnehmen könnte.

»Ich dachte, wir können ein kleines Dessert gebrauchen.«

»Das wundervoll, danke. Bleibt es dabei, dass wir zum Diner gehen? Oder doch lieber ins Moonshine?«

»Aber da gibt es doch nur Süßkram. Außerdem habe ich diesen Kuchen schon hier.«

»Okay«, gab Amber zurück. »Ich bin nur gerade verrückt nach Kalorien, die meinen Frust unterdrücken.«

»War es so schlimm?«

»Schlimmer noch als ich dachte.«

»Und wieso?«

»Das erzähle ich dir, wenn ich einen riesigen Teller Irgendwas vor mir stehen habe. – Hast du denn das Diner schon gefunden?«

»Ich bin dran vorbeigekommen, ja«, antwortete Lynn. Dass sich das Diner in der Nähe ihrer Schule befand, behagte ihr zwar nicht so sehr – aber es war nicht gesagt, dass ihre netten Mitschülerinnen dort auch aßen. Eigentlich sahen sie eher so aus, als würden sie sich drauf vorbereiten, »Americas Next Topmodel« zu werden.

»Na dann bring mich zur Quelle!«, sagte Amber unternehmungslustig und hakte sich bei ihr ein.

Das »Rosies« war um diese Zeit noch nicht besonders voll. Die fünf Tische am Fenster waren besetzt und an der Bar hielten sich zwei Männer an ihren Kaffeebechern fest. Ihrer Kleidung nach zu urteilen arbeiten sie am Hafen.

Rosie – oder die Frau, die Amber für die Inhaberin hielt – war eine hochgewachsene Mittvierzigerin mit hochgestecktem kastanienbraunen Haar. Amber hätte damit gerechnet, dass sie älter war.

Als sie unter Glockengebimmel eintraten, drehten sich alle Köpfe nach ihnen um. Rosie jedoch zapfte seelenruhig weiter ein Bier.

»Hallo ihr Lieben, ich bin gleich bei euch!«, rief sie, ohne aufzublicken.

»Sie hat offenbar das zweite Gesicht«, raunte Amber Lynn zu.

»Oder ein drittes Auge.«

Amber ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, dann entdeckte sie einen Tisch am Fenster, von dem aus man einen guten Blick auf die gegenüberliegenden Läden hatte.

»Mach dich schon mal an dem Tisch breit und rede nicht mit fremden Männern«, raunte Amber ihr zu.

Lynn verdrehte die Augen, marschierte dann aber los.

Am Tresen studierte Amber die Tageskarte, die mit Kreide auf eine große Schiefertafel neben der Tür geschrieben war. Bei der Auswahl an Burgern lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»Hallo, Schätzchen, Sie sind neu hier!«, stellte Rosie beim Umdrehen fest und stellte das Bier auf dem Tresen ab. Dann schrie sie: »Jason!« und wandte sich dann wieder Amber zu.

»Ja, wir sind vor zwei Tagen hergezogen und brauchen jetzt dringend etwas zu essen.«

»Das ist dann doch wohl nicht die erste Mahlzeit seit zwei Tagen, oder?« Die Wirtin kniff ein Auge zu.

Okay, das war ein Scherz, dachte Amber trocken.

»Nein, keine Sorge, wir hatten was mitgebracht.« Amber hätte gern eine witzigere Erwiderung gegeben, doch irgendwie vertrieb der Hunger gerade ihren Humor.

Rosie schien es trotzdem lustig zu finden und lachte, während sie nach ihrem Bestellzettel griff.

»Okay, was darf‘s denn sein?«

»Zweimal Cheeseburger mit Pommes und Schoko-Milchshakes.«

»Den Klassiker.«

»Ja, irgendwie ist heute kein guter Tag für Experimente, wir brauchen etwas Handfesteres.«

»Ist die Kleine, mit der Sie gekommen sind, Ihre Tochter?«, fragte Rosie unverblümt, während sie die Bestellung notierte.

»Nein, meine Schwester. Ich hätte sie schon mit zwölf bekommen müssen, das wäre doch ein wenig früh.«

»Oh, und ich wollte mich schon wundern, wie frisch und schön eine Mutter mit so einer großen Tochter aussehen kann.«

Offenbar hatte Rosie ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrem Taktgefühl. Aber Amber beschloss, darüber hinwegzusehen. Sie kannte Gespräche wie diese, in Trenton war es kaum anders gewesen. Zwar galt sie damals als Einheimische, doch als sie nach Raleigh zog und am Wochenende heim kam, hätte man sie genauso ausgefragt wie einen Durchreisenden.

Bevor Rosie noch mehr zweifelhafte Komplimente machen oder Fragen stellen konnte, tauchte ein Mann aus der Küche auf.

»Ah, das ist mein Bruder Jason, er arbeitet auf dem Bau, hilft mir aber manchmal aus. Das ist eine neue Bewohnerin unserer Stadt.«

Der Mann reichte ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, neue Bewohnerin.«

»Ganz meinerseits.« Amber musterte ihn von Kopf bis Fuß und zwang sich zu einem Lächeln. Er sah ganz passabel aus, aber etwas an seiner Art und seinem Auftreten erinnerte sie so stark an Troy, dass es sie eiskalt überlief.

Eigentlich wäre es ja angebracht gewesen, ihren Namen zu nennen, aber darauf verzichtete sie lieber.

»Was macht das?«, fragte sie Rosie und zog ihre Geldbörse hervor.

»Zwölf Dollar. Und weil Sie neu in der Stadt sind, kriegen Sie die Milchshakes gratis dazu. Hey, Jason, bist du so freundlich?«

»Ja klar, Schwesterherz«, entgegnete er und riss sich nun endlich von der Betrachtung Ambers los. Diese legte das Geld auf den Tresen und kehrte dann zu ihrem Tisch zurück.

»Na, hast du einen neuen Verehrer gefunden?«, fragte Lynn Amber spöttisch, als sie sich zu ihr setzte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Amber, während sie versuchte, ihre innerliche Abscheu gegen Rosies Bruder loszuwerden. Sicher war er ganz nett – was konnte er schon dafür, dass er sie an ihren Verflossenen erinnerte?

»Nein. Der Kerl am Tresen hat dich eben angestarrt, als wärst du ein Girl von einem dieser Kalender, die in Autowerkstätten hängen.«

»Das ist Rosies Bruder, Jason«, flüsterte Amber. »Und sicher hat er auch noch eine Hockeymaske und eine Machete in seinem Zimmer.«

»War der Typ mit der Hockeymaske und der Machete nicht Mike Myers?«

»Nein, ich bin mir sicher, Jason trägt eine Hockeymaske, Mike Myers hat eine Maske, die aussieht wie Captain Kirk. Egal, auf jeden Fall habe ich keine Absicht, die nächste Halloween-Party mit ihm zu verbringen.«

Lynn verkniff sich ein Lachen, als Rosie mit der Bestellung kam.

»Na ihr Süßen, habt ihr euren Spaß?«

»Ja, wir erzählen uns gern Witze«, entgegnete Amber rasch.

»Oh, ich liebe Witze!«, rief Rosie aus, während sie die Teller und Gläser auf dem Tisch ablud. »Haben Sie denn gerade einen guten auf Lager?«

»Ähm...«, machte Amber, während sich Lynn die Hand vor den Mund presste, um nicht laut loszulachen. Beide versagten kläglich, wenn es um das Erzählen von Witzen ging. »... das muss bei mir aus dem Innern kommen, ich meine, ich muss mich danach fühlen. Jetzt kann ich nur ihre Burger bewundern, die sehen einfach großartig aus!«

»An der ganzen Ostküste finden Sie keine besseren. Es ist fast so wie mit Ihrem Hotel. Ein wirklich hübsches Haus und Mrs Callahan ist ein wirklicher Schatz. Schade, dass für das Catering meist keine Burger gewünscht sind. Ich würde zu gern mal bei einer der Veranstaltungen da oben mit dabei sein.«

»Nun, vielleicht wünscht mal einer der Kunden einen Westernabend. Oder eine Western-Hochzeit. Dann werde ich an Sie denken.«

»Wirklich?« Rosie strahlte. »Oh, das ist zu nett von Ihnen!«

»Es wäre mir ein Vergnügen!«

Während Rosie überglücklich zum Tresen zurückkehrte, setzte Lynn ein breites Grinsen auf.

»Na sieh mal einer an, meine Schwester ist die Meisterin des Themenwechsels.«

»Na ja, sollte ich wirklich meine Klopf, klopf- Witze zum Besten geben?«, fragte Amber zurück. »Da habe ich zu viel Angst, geteert und gefedert aus der Stadt gejagt zu werden, jetzt, wo wir schon alle Kisten ausgeräumt haben.«

Mit diesen Worten klappte Amber ihren Burger zu und biss dann herzhaft hinein.

»Du meine Güte!«, rief sie dann mit vollem Mund aus. »Der Burger ist der Hammer!«

»Wirklich? Auch wenn Jason die Soße gemacht hat?«

»Werd jetzt nicht eklig, der ist toll.«

»Okay, dann versuche ich es erst mal.«

Lynn biss vorsichtig in ihren Burger, doch dann weiteren sich ihre Augen begeistert. »Du hast Recht, der ist wirklich toll.«

Eine Weile aßen sie versonnen, dann sagte Lynn: »Übrigens, die Direktorin möchte dich sprechen. Das hat sie mir schon gestern gesagt. Sie wollte, dass wir einen Termin ausmachen.«

»Oh, und ich dachte, der Tag könnte nicht mehr besser werden«, bemerkte Amber ironisch. Wenn sie eines verabscheute, dann Elternabende und Treffen mit den Lehrern. Schon während der Krankheit ihres Vaters hatte sie ihn oft bei Elternabenden vertreten müssen. Danach war ihr immer klar gewesen, warum er bei der Rückkehr so eine traurige Miene gezogen hatte.

»Aber gut, dass du die Schule ansprichst. Gibt es jemand Speziellen, dem ich die Ohren langziehen muss? Denn das hat er verdient, wenn er dich völlig ausflippen lässt.«

»Ach, das sind nur irgendwelche blöden Tussis«, winkte sie ab, doch Amber schüttelte den Kopf.

»Diese blöden Tussis haben dich dazu gebracht, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Ach komm schon, ich dachte es wäre alles wieder okay.«

»Das ist es auch, zumindest solange es dir nicht wieder einfällt, wegzulaufen, ohne mich mitzunehmen. Aber ich denke auch daran, was Dad getan hätte, wenn er erfahren hätte, dass dich irgendwer schlecht behandelt. Du kannst wissen, dass er noch am selben Abend vor deren Tür gestanden und eine Erklärung verlangt hätte.«

Lynn rollte mit dem Augen. »Ich bin mittlerweile 16 und kann mich selbst verteidigen.«

»Ich will ja auch nicht bei diesen Tussis auftauchen. Ich will dir nur das nötige Rüstzeug geben, damit du dich gegen sie verteidigen kannst. Damit du nicht wieder vollkommen verzweifelt in deinem Zimmer sitzt, Tom Waits hörst und glaubst, deine Schwester kriegt nichts auf die Reihe.«

»Das habe ich nicht geglaubt«, protestierte Amber. »Es ist nur ... ich war so fertig. Es war alles zu viel. Ich saß bei der Direktorin, die mich gefragt hat, ob ich überhaupt schon bereit bin, wieder zur Schule zu gehen. Das Tempo im Unterricht ist ein anderes, sie haben ein wesentlich höheres Niveau als meine alte Schule und dann geht man durch die Gänge, unterhält sich mit jemanden und kriegt zugeraunt, dass man ein Waisenkind sei und wie eines aussähe. Da ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt.«

Amber zog die Augenbrauen hoch. »Und, wie hoch ist die Arztrechnung von dieser Tussi?«

»Wie?«

»Hast du ihr eins rauf gegeben oder nicht?«

»Nein, natürlich nicht!« Lynn schob sich einen Pommes in den Mund und wünschte sich, Amber würde mit ihrer Fragestunde aufhören. Helfen konnte sie ihr ja doch nicht. Doch wahrscheinlich habe ich es verdient, ging es Lynn durch den Kopf.

»Okay, das ist gut. Dein Dad hätte vielleicht gemeint, dass du es hättest tun sollen, aber ich persönlich bevorzuge die gewaltlose Version des Wehrens. Wenn noch einmal jemand Waisenkind zu dir sagt, kannst du ihn ja mal darauf hinweisen, wie viel Glück er hat, seine Eltern noch zu haben. Außerdem – und ich weiß, das wird dir schwerfallen – solltest du dir solche Aussagen den Buckel runterrutschten lassen. In deiner alten Schule waren auch nicht alle Schüler Engel. Ich erinnere an den Streit mit Leyla James, die glaubte, du wolltest ihr den Freund ausspannen.«

»Als ob ich was von Pete gewollt hätte! Ich habe ihm einmal bei den Hausaufgaben geholfen. Einmal!«

»Ja, aber sie hat dann wochenlang behauptet, dass du eine Schlampe wärst, die es mit jedem treibt. Und viele der Schüler haben ihr das abgekauft. Ich wurde sogar mal im Einkaufszentrum von einer der Mütter angemacht, dass man sowas ja von einem Mädchen, das ohne Mutter aufwächst, erwarteten kann.«

»Und du hast ihr den Kopf gewaschen.«

»Sogar ohne Shampoo«, gab Amber zurück. Wenn sie an diesen Zusammenstoß dachte, schnellte ihr noch immer der Blutdruck in die Höhe. Immerhin war die Frau danach dermaßen beschämt gewesen, dass sie kurz darauf zu ihnen gekommen war und sich bei ihnen entschuldigt hatte.

Lynn blickte auf ihren Teller. »Du hast ihr gesagt, dass es respektlos gegenüber unserem Vater sei, solche Lügen in die Welt zu setzen, wo er doch alles tut, um uns richtig zu erziehen.«

»Ja, und ich habe ihr gesagt, dass du keine Zeit hättest, irgendwelchen Jungs nachzujagen, weil die Pflichten im Haus hättest und deinen Vater unterstützen würdest, während deine Schwester arbeitet.«

»Und dass ich ihrer Cathy ganz sicher nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen würde, damit ich nicht in den Verdacht komme, lesbisch zu sein.«

Lynn kicherte, als sie sich daran erinnerte. Diese Cathy war danach die erste gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass sich in der Schule die Wellen wieder beruhigten. Außerdem hatte Jamie ihr beigestanden. Jamie, auf die sie sich immer verlassen konnte.

»Wie du siehst, wir sind ein gutes Team.« Amber strich Lynn eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und das werden wir auch weiterhin sein. Jetzt hast du sogar einen großen Vorteil: Ich bin im Ort. Wenn es wirklich schlimm werden sollte, komm zu mir ins Hotel.«

»Aber da störe ich dich doch.«

»Nicht mehr als Mr Hunter oder der Neffe von Mrs Callahan. Komm zu mir, wenn du dich einsam fühlst. Im Hotel habe ich immer ein Stück Kuchen für dich und einen Kakao und einen Sitzplatz in der Lobby.«

»Und deine Chefin?«

»Der werde ich die Sache erklären, wenn sie fragt. Ich bin sicher, dass es in Ordnung ist. Also?«

Lynn nickte. »Okay.« Eine Freundin konnte ihre Schwester ihr nicht wirklich ersetzen, aber es stimmte, bisher hatte sie sich immer für sie eingesetzt.

»Okay. Und du sagst mir, wenn diese Weiber nerven, ja? Wenn es sein muss, habe ich ein paar richtig gute Sprüche drauf, die du bei diesen Tussis anbringen kannst. Außerdem werden sie sich nach einer Weile gar nicht mehr für dich interessieren. So ist das in Kleinstädten, solange man neu ist, ist man für alle noch spannend und wenn sie über dich nichts erfahren, erfinden sie halt Geschichten. Aber nach einer Weile bessert sich das. Und es soll besser keine von denen auf die Idee kommen, dich in der ganzen Stadt schlecht zu machen!«

Damit hob sie ihr Colaglas und prostete Lynn zu.

In dem Augenblick klingelte Lynns Handy.

»Oh, ein Verehrer?«, fragte Amber.

»Nein, Jamie. Sie will wissen, was nun ist.«

»Wohl eher, ob ich dir den Kopf abgerissen habe. Dann schreib ihr mal schnell, damit sie mir nicht die Cops auf den Hals schickt.«

Lynn warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, dann begann sie, zu tippen.

Es wäre schön, wenn sie hier eine Freundin wie Jamie fände, ging es Amber durch den Sinn, während sie an Lynn vorbei aus dem Fenster sah. Diese Stadt erscheint – abgesehen von den Schwierigkeiten im Hotel – so nett, vielleicht gibt es hier jemanden, der ihr das Gefühl gibt, heimisch zu werden.

34