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Kapitel 1


Cape (Plural: Capes): (wörtlich) ein ärmelloses Kleidungsstück, das über Rücken und Schultern hängend getragen wird; (übertragen) ein Mensch mit Superkräften, der sich entschlossen hat, als Superheld zu agieren. Synonyme: Held, Maske, Super, Superheld. Nebenbedeutungen: »Cape« ist sowohl eine allgemein gebräuchliche als auch abwertend verwendete Bezeichnung für Superhelden. Diese nutzen »Cape« salopp als Selbstbezeichnung, sehen den Begriff jedoch im Allgemeinen als erniedrigend an, wenn er von der Presse für sie gebraucht wird.


Barlows Handbuch der Superkräfte


Ich war auf dem Eisenhower Expressway Richtung Osten unterwegs, als der Teatime-Anarchist die Straßenüberführung der Ashland Avenue auf mich fallen ließ. Dabei benutzte er genug Sprengstoff, um den gesamten südwärts führenden Straßenabschnitt auf einmal zusammenkrachen zu lassen.

Mein Tag hatte ganz normal angefangen. Ich stürzte einen Kaffee runter, schnappte mir auf dem Weg zur Tür einen verbrannten Toast und drückte Mom einen Abschiedskuss auf die Wange. Draußen kroch die kühle Septemberluft unter meinen Mantelsaum und ich war froh, dass ich mich heute für eine Strumpfhose unter dem Rock entschieden hatte. Mit einer Hand am Steuer checkte ich meine Termine: Zunächst würde ich in der Galerie für Mom Mädchen für alles spielen, um ihre Stiftungsveranstaltung am Donnerstagabend vorzubereiten. Eine neue Nachricht von Julie blinkte auf: Sie hatte beschlossen, dass wir die Universität von Chicago in unserem ersten Jahr im Sturm erobern würden und wollte uns bis zur Orientierungswoche in der besten Ausgangsposition dafür haben. An der Oak Park High waren wir bis zu unserem Abschluss die unangefochtenen Königinnen gewesen und sie sah keinen Grund, warum unsere College-Jahre anders verlaufen sollten.

Ich fuhr an einem grauen SUV vorbei, von dessen Rücksitz mir ein rothaariger kleiner Zwerg zuwinkte, während vorne ihre Mutter energisch per Freisprechfunktion auf einen Anrufer einredete. Ich streckte der Kleinen die Zunge raus und brachte sie damit zum Lachen, als mein Epad Julies neuen Klingelton vernehmen ließ – die Hymne der UC. »Wave the flag of Old Chicago …«

Bumm.

Gewaltige Explosionen rissen mich aus meinen Gedanken, und als ich aufblickte, sah ich, wie sich über mir gesprengter Beton wie eine aufgehende Blüte in alle Richtungen ausbreitete. Und ich sah die herabstürzende Brücke auf mich zu rasen. Ich schrie auf, duckte mich und verlor dabei die Kontrolle über das Steuer. Mein Wagen schlitterte. Plötzlich ein gelber Blitz, dann traf ich auf irgendwas Hartes. Eine Erschütterung apokalyptischen Ausmaßes ließ mich erneut aufschreien, als herabfallende Straßenteile mein Auto plattdrückten. Die Reifen platzten. Das eingedrückte Autodach traf meinen Kopf und herumfliegende Glassplitter stachen in mein Gesicht, während vor meinen Augen Sterne explodierten. Mein Schrei endete in ersticktem Husten. Ich lag ausgestreckt auf dem Fahrersitz. Der Schaltknüppel drückte in meinen Bauch und um mich herum war es stockfinster. Auf meiner Zunge schmeckte ich Blut.

Am Leben. Ich war am Leben.

Das Autodach bog sich nach unten durch, nur Zentimeter über meinem Kopf, während ich im Dunkeln lag und mein Gurt mir die Luft abdrückte. Blind und wie benebelt schaffte ich es irgendwie, mich abzuschnallen, doch ich bekam immer noch kaum Luft. Zementstaub. Ich zog den Reißverschluss meines Mantels auf und riss meinen Pullover nach oben. Während ich schluchzend einige flache Atemzüge durch die Wolle nahm, kämpfte ich darum, trotz der aufsteigenden Angst noch klare Gedanken zu fassen.

Ich wand mich in meinem Sitz, um vorsichtig meine Beine zu befühlen und mit den Zehen zu wackeln. Nichts gebrochen? Der Erste-Hilfe-Kasten war unter dem Sitz (danke, Dad!), ebenso wie eine Taschenlampe – mir kamen vor Erleichterung beinahe die Tränen. Das Epad war kaputt, verdammtes Ding. Trotzdem, ich atmete halbwegs und war nicht am Verbluten. Hilfe. Hilfe würde kommen.

Aber würde sie rechtzeitig kommen?

Was war mit dem kleinen Zwerg und ihrer Mutter? Waren sie jetzt unter der Straße begraben? Konnten sie noch warten, falls sie am Leben waren? Panik so dick wie der Staub schnürte mir endgültig die Luft ab. Ich musste hier raus. Ich musste es wissen. Sie mussten am Leben sein.

Mit rasendem Herzschlag nach Luft ringend, drückte ich mit aller Kraft gegen das Dach über mir und fühlte, wie sich etwas tief in mir veränderte. Kaltes Feuer raste durch meine Knochen. Ich schrie und mit meinem nächsten Atemzug nahm ich die ganze Welt in mir auf. Ich brach durch das zerdrückte Dach meines Autos und wuchtete das Stück Straße über meinem Kopf so mühelos beiseite, als wäre es nur ein Stück billige Gipswand. Ich stand auf und betrachtete blinzelnd das totale Desaster um mich herum. Jetzt sah ich, was mich gerettet hatte. Ich war in einen riesigen Bagger gerutscht, der auf der Fahrbahn neben mir gewesen war. Er hatte mich abgeschirmt. Um uns herum lagen zerstörte Autos, die mit der Brücke heruntergefallen waren, zerschmetterte Straßenteile und verdrehte Stahlstreben. Die staubgeschwängerte Luft roch nach ausgelaufenem Öl und Benzin, darunter mischte sich bereits der beißende Geruch brennenden Gummis. Ein weißer Sedan kam am Nordende der Brücke quietschend zum Stehen. Alles um mich herum schien plötzlich weit entfernt, als ich auf meine zitternden Hände blickte, unfähig zu glauben, was ich gerade getan hatte.

Oh, Gott. Oh, Gott.

Ich unterdrückte die erneut aufsteigende Panik. Okay, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, jetzt handeln, später ausflippen.

Ich begann zu graben.

Ich fing hinter der Baumaschine an und schob Schutt und kaputte Straßenteile so mühelos zur Seite, als würde ich durch Herbstlaub waten, bis ich endlich das Auto des kleinen Zwergs gefunden hatte. Sie waren dort, jedoch nicht mehr am Leben. Ich kroch aus dem Loch heraus und übergab mich in den Staub.

Danach konzentrierte ich mich auf das, was ich noch tun konnte, und kletterte über die gefallenen Straßenteile, um nach den Passagieren der anderen Autos zu sehen, die zwischen den zerstörten Straßenabschnitten feststeckten. Ich riss einen zerknautschten Familien-Van auf, um vorsichtig eine Baby-Sitzschale mitsamt weinendem Insassen zu bergen. Anschließend grub ich nach weiteren verschütteten Opfern. Überall, wo es Spalten in der gefallenen Brücke gab, konnte ich ihre Körperwärme sehen, ihr Atmen und Weinen hören – und ihre Schreie.

Ich gab mir große Mühe, die schrecklichen Details zu ignorieren, warf Betonplatten beiseite und zog jeden heraus, von dem ich glaubte, ihn bewegen zu können, ohne ihn zu verletzen. Bei einigen wenigen tat ich nicht mehr, als einen schnellen Blick auf ihren Zustand zu werfen. Einen sehr schnellen Blick. Selbst die schrecklichsten Nachrichtenbilder von Katastrophen und Krieg hatten mich nicht darauf vorbereitet, aus nächster Nähe zu sehen, was passierte, wenn Tonnen von herabstürzendem Beton auf Fleisch und Knochen trafen, und ich versuchte nicht nachzudenken. Die heulenden Sirenen und die Fluggeräusche der Polizei- und Nachrichtenhelikopter nahm ich kaum war. Erst als die Capes kamen und mich aus dem Weg schoben, um selbst an die Arbeit zu gehen, schenkte ich meinem eigenen Zustand wieder Beachtung.

Ich hatte mir nicht einmal einen Fingernagel abgebrochen, doch mein Mantel, meine Haare und mein Gesicht waren mit einer schwarzen, klebrigen Mischung aus Zementstaub und verspritztem Maschinenöl bedeckt. Meine Strumpfhose war in keinem besseren Zustand, und meine Stiefel … berührten den Boden nicht. Die Betonplatte, auf der ich gestanden hatte, war ein Stück abgesackt, während ich mich gesammelt hatte, doch ich war an Ort und Stelle geblieben. So »stand« ich nun ein paar Zentimeter über der instabilen Oberfläche. Ich sah mich um und stieg vorsichtig herunter. Niemand schien es zu bemerken.

Durchbruch, dachte ich. Das war mein Durchbruch. Ich merkte, dass ich wie eine Irre lachte und hörte schnell wieder damit auf.

Atlas fand mich dort auf dem Schutthaufen. Sein Kostüm und seine Haare waren genauso schmutzig und verstaubt wie meine, doch er schaffte es, trotzdem noch unglaublich erhaben auszusehen.

»Atlas, Ma’am«, sagte er mit diesem berühmten texanischen Akzent, als ob nicht jeder auf der Welt wüsste, wer er war.

»Ich weiß. Ich meine …« Ich schüttelte den Kopf. »Hope. Hope Corrigan.«

Plötzlich sah er mich schärfer an, als wäre ich mit einem Mal viel interessanter geworden. Dann streckte er seine Hand aus.

»Würden Sie mit mir kommen, Ma’am?«

Als ich seine Hand nahm, verlagerte er seinen Griff. Er zog, ich folgte – und ließ den Boden wieder unter meinen Füßen zurück.

»Wir haben hier alles getan, was wir mit Muskelkraft ausrichten können«, sagte er, als ich nach unten schaute. »Und ich komme zum Aufräumen wieder her. Aber jetzt müssen wir Sie erst mal hier raus und von den Kameras wegschaffen, bis Sie sich entschieden haben, was Sie tun wollen.«

Später sah ich uns in den Nachrichten, wie wir von der herabgestürzten Straße wegflogen – Atlas in seinem blau-weißen Leder-Overall und Cape, ich ein nicht näher identifizierbares Katastrophen-Opfer. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich unerkannt bleiben würde.

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Kapitel 2

 

Am 18. August erlebten alle Menschen auf der Welt für 3,2 Sekunden gleichzeitig einen totalen Verlust sämtlicher sinnlicher Eindrücke – weder Sehen noch Hören noch irgendeine andere physische Wahrnehmung war möglich. Ein kleiner Prozentsatz von Individuen behauptete später, etwas gehört zu haben, was eine Person als »das Geräusch einer kosmischen Stimmgabel, die von Gott angeschlagen wird« beschrieben hat. Dennoch, das, woran sich die meisten Menschen erinnern, wenn sie an das Ereignis (auch Tag des Erwachens genannt) denken, ist nicht der totale sensorische Blackout oder der weltweite Stromausfall, der damit einherging, sondern das, was als nächstes passierte. Sie erinnern sich daran, wo sie waren, als die ersten Menschen mit Superkräften auftauchten.


—Professor Charles Gibbons, Das neue Zeitalter der Helden


Atlas und ich flogen Hand in Hand über den Loop, die Innenstadt von Chicago, und landeten im Grant Park. Ich war sicher die unwahrscheinlichste Erwachte, die er je gesehen hatte. Seit meinem Debütantinnen-Ball war ich keinen Zentimeter mehr gewachsen und jeder sagte mir ständig, ich könne mal einen Milchshake vertragen. Obwohl ich bald eine Erstsemester-Studentin an der UC sein würde, sah ich – wenn ich nicht gerade mit Schmutz bedeckt war – immer noch wie eine unterentwickelte Teenie-Elfe aus. Naja, jetzt konnte ich zumindest fliegen wie eine Elfe – aber es hatte nichts mit Magie und Glitzerstaub zu tun.

Ich erinnere mich an das Ereignis. Es erwischte mich auf einem Spielplatz, während wir gerade »Der Kaiser schickt seine Soldaten aus« spielten (ich war gerade dabei auf die gegenüberliegende Kette von Spielern zuzurennen, um ihre Linie aufzubrechen). Als ich ins Gras stürzte, machte ich mir nicht einmal die Klamotten dreckig. Andere hatten nicht so viel Glück.

Da es keinen Strom gab, schlossen sie die Schule und schickten uns alle nach Hause. Dad traf der Stromausfall auf der anderen Seite der Stadt, wo er gerade irgendein altes Gebäude restaurierte. Er schaffte es erst am nächsten Morgen nach Hause, sah kurz nach uns, und machte sich direkt wieder auf den Weg, um in der Stadt zu helfen, wo er konnte. Erst als Strom und Kabelfernsehen wieder funktionierten, sahen wir das ganze Ausmaß der Katastrophe: durch Flugzeugabstürze verursachte, rauchende Krater, sich entwickelnde Brände überall in der Stadt, zahllose Unfälle, die auf den Autobahnen für Tod und Verderben sorgten. Mom schaltete aus, aber nicht bevor wir jene Aufnahmen sahen, die auch den Rest der Welt in Aufruhr versetzten. Mit vor Staunen gerundeten Augen sahen wir einem Mann im Overall eines Flughafenarbeiters dabei zu, wie er hoch in den Himmel sprang, um einen Privatjet aufzuhalten, der kurz davor war, auf den Asphalt des O’Hare-Flughafens von Chicago zu stürzen.

Das war Atlas aka John Chandler gewesen, zu dem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt und damit wenige Monate jünger, als ich es jetzt war. Er, der texanische Cowboy, der als Gepäck-Hilfskraft am O’Hare-Flughafen gearbeitet hatte, war der erste Erwachte, dessen Durchbruch die Welt live im Fernsehen verfolgen konnte. Andere tauchten im Zuge der Katastrophen auf, die dem Stromausfall folgten. Die meisten von ihnen halfen, wo sie nur konnten, einige jedoch vergrößerten das Chaos noch.

Wie Aftershock, das Gangmitglied, das Schall zu seinen Zwecken einsetzen konnte, und gleich am nächsten Tag zum Bankräuber wurde.

Mit meinen acht Jahren fand ich einen fliegenden Mann, der ein Flugzeug aufhielt, zwar unglaublich, doch nicht unmöglich. Die Nachricht, dass auch die Air Force One einen Krater hinterlassen und der gerade erst eingeschworene Präsident Kayle den Notstand ausgerufen hatte, bedeutete mir zu der Zeit ebenfalls wenig. Ich sah die News-Clips von Atlas und den anderen, die folgten, und später die Fernsehserien, Filme und sogar Comics, die ihre realen Abenteuer in Geschichten verwandelten. Wir hatten jetzt echte Superhelden und wir verpassten ihnen Spitznamen, wenn sie sich nicht beeilten und sich selbst einen aussuchten.

Und jetzt flog ich selbst mit einem. Dem ersten.

Wir landeten vor dem Gebäude der Chicago Sentinels. Es sah aus wie ein gigantischer, halb in der Erde steckender Baseball, und wir Chicagoer nannten es nur »die Kuppel«. Wir landeten am Säulengang auf der Westseite, am Eingang gegenüber dem Denkmal für den 18. August. So früh an einem kalten Septembermorgen waren noch keine Touristen oder Demonstranten unterwegs, als wir durch die hohen Bronzetüren das riesige öffentliche Atrium betraten. Plötzlich fühlte ich mich wieder wie das Kind mit der Zahnspange, das zu einer der ersten öffentlichen Führungen hierhergekommen war.

Damals war es allerdings ein Abenteuer gewesen. Heute wünschte ich mir nichts sehnlicher, als woanders zu sein.

Atlas marschierte mit mir über die polierten Steinfliesen zur Rezeption, die von einem farblosen Mann mit Brille und dunklem Anzug besetzt war.

»Morgen, Tom«, sagte er. »Das ist Astra. Solange es keine gegenteilige Anweisung gibt, bekommt sie den vollen Gastzugang.«

Ich stutzte. Ich hatte schon einen Spitznamen?

»Ma’am«, antwortete Tom, und musterte mich schnell, aber gründlich von oben bis unten, bevor er wieder auf seine Bildschirme hinunterblickte. Wenn er mein Katastrophenopfer-Aussehen auch nur ansatzweise ungewöhnlich fand, ließ er es sich nicht anmerken. Atlas führte mich hinter der Rezeption entlang zu einem komplett aus Glas und Messing bestehenden Aufzug an der Rückseite des Atriums.

»Astra?«, flüsterte ich, abgelenkt von meinen durcheinander wirbelnden Gedanken. »Woher kam das denn plötzlich?«

»Ich nahm an, das heute Morgen war Ihr Durchbruch«, sagte Atlas. »Hatten Sie sich schon einen anderen Namen ausgesucht? Behalten Sie ihn, wenn Sie möchten. Astra bedeutet auf Lateinisch ›Stern‹ und war das Beste, das mir so spontan einfiel. Falls Sie sich für die Superheldenkarriere entscheiden, können Sie sich Ihren eigenen Namen aussuchen.«

Der Aufzug kam und wir stiegen ein.

»Seien Sie aber vorsichtig, was Sie sich aussuchen«, fügte er in trockenem Tonfall hinzu. »Ich bin mir nicht so sicher, ob Atlas eine gute Wahl war.«

»Warum?«

»Weil ich mich nach einem griechischen Titan benannt habe, dessen einziger Job es war, dazustehen und das große blaue Himmelszelt hochzuhalten. Ihm war derartig langweilig, dass er Herkules mit einem Trick dazu brachte, seinen Platz einzunehmen, und Herkules – obwohl nicht gerade der Hellste – trickste wiederum ihn aus, um seinen Platz zurückzunehmen. Zum Glück kennen sich die meisten Leute nicht gerade gut mit Mythologie aus.«

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach ich, unsicher, ob er das ernst meinte. »Wohin gehen wir?«

»Unser eigentliches Hauptquartier liegt unterirdisch. Die Kuppel an sich ist ziemlich stabil, aber wir haben den Großteil des wichtigen Krams unter genug Beton und Panzerung verborgen, um einem Nu­klearangriff standzuhalten. Manche von den Typen, mit denen wir uns schon geprügelt haben, haben mächtig viel Feuerkraft zur Verfügung, und natürlich müssen wir uns über A-Klasse-Bösewichte Sorgen machen, die um die Ecke kommen und versuchen, uns plattzumachen, um etwas zu beweisen. Also stellen wir verdammt sicher, dass jeder Angriff dieser Art fehlschlagen muss, und die Leute wissen das. Spart allen Beteiligten Ärger und Scherereien, finden Sie nicht?«

Der Gedanke ließ mich innerlich zusammenzucken. Wenn jemand wie der Teatime-Anarchist (ich hatte gehört, wie ein Reporter seinen Namen fallenließ, bevor wir den Schauplatz der Katastrophe verlassen hatten) dachte, er könnte die Kuppel in die Luft sprengen oder auch nur ernsthaft beschädigen … ich schauderte. Hatte ich einen Schock? Konnte ich überhaupt noch einen haben, so wie ich jetzt war?

Die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf eine unterirdische Lobby frei, mit Säulen aus weißem Marmor, technischen Interfaces an den Wänden und Schiebetüren – alles in allem sah es so aus, als hätte jemand den Caesar’s Palace und die USS Enterprise in einen Mixer geworfen. Auf beeindruckenden Wandfriesen waren Schlachten der Sentinels mit Superschurken dargestellt. Trotz all dem musste ich lachen und fühlte mich ein wenig besser. Ich hatte einen guten Lehrer in Kunstgeschichte gehabt, und das Fries, auf dem Atlas gegen After­shock kämpfte, kopierte eins zu eins die klassische Pose von Herkules im Kampf gegen die Hydra.

Der Lobby-Concierge, Bob (der Tom so ähnlich sah, dass ich sie nicht hätte auseinanderhalten können, wenn sie nebeneinander gestanden hätten), begrüßte uns mit einem Nicken und einem »Atlas, Astra«. Am Ende der Lobby gingen wir durch eine Reihe von Türen und einen Gang hinunter, an der hochtechnologisiertesten Sporthalle vorbei, die ich je gesehen hatte, und schließlich durch eine Tür, auf der »Medizinische Abteilung« stand.

Hinter der Tür erwartete mich mein persönlicher Albtraum: ein Arzt, der alles über mich wissen wollte.

 

 

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Kapitel 3

 

Obwohl wir sie messen und beziffern können, werden wir vermutlich niemals wissen, wie Superkräfte funktionieren. Sie sind im wörtlichen Sinne übernatürlich: Sie scheinen nicht in der Natur begründet zu sein. Die fähigsten Köpfe der Wissenschaft haben sich seit dem Ereignis damit auseinandergesetzt und das Beste, was sie herausbekommen haben, ist die Aussage, dass hier offensichtlich ein immaterielles Phänomen am Werk ist, das wir mit materiellen Mitteln nur beobachten und messen können. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht. Zum Beispiel wissen wir, wie die Schwerkraft wirkt, doch wir können sie nur an ihren Effekten messen, und wir wissen noch immer nicht, warum Masse Schwerkraft hervorruft. Obwohl wir natürlich einige Theorien haben, die wir für ihre Konsistenz und Eleganz schätzen.


—Dr. Jonathan Beth, Wissenschaft und Superkräfte


Ich schrieb Mom eine SMS, nur für den Fall, dass sie die Nachrichten gesehen hatte, und sagte ihr, dass ich die Galerie geschwänzt hätte und mich nicht wohl fühlte. Sie ließen mich duschen, und als Öl, Zementstaub und Blut in den Abfluss strudelten, machte mich die Tatsache, dass ich nicht einmal mehr blaue Flecken hatte, wieder panisch. Ich blieb in der Dusche, bis ich aufgehört hatte zu zittern. Der Baumwolloverall, den sie mir gegeben hatten, kratzte auf der Haut. Außerdem musste ich die Ärmel und Beine aufrollen, bevor ich herauskommen konnte, um Dr. Death gegenüberzutreten, dem Teufel aus der Hölle, mit dem Atlas mich alleingelassen hatte.

In Dr. Beths Augen blitzte Humor und er versprach mir einen Lolli, wenn wir fertig wären. Die Sensoren, die er auf meiner Haut platzierte, waren kalt und verschlimmerten meine Tendenz zum Zittern. Ich konzentrierte mich auf die Aufgaben, die er mir stellte, und baute eine mentale Mauer zwischen dem Labor, mir und den Erinnerungen, die hinter meinen Augenlidern kreischten, auf. Er testete meine neue Stärke, Zähigkeit, Supersinne, sogar meine Fähigkeit zum Fliegen, und spielte die ganze Zeit an seinen Monitoren herum. Dabei summte er vor sich hin, wenn er nicht gerade leise in sich hineinlachte oder mir Aufgaben stellte. Als wir fertig waren, fühlte ich mich, als wäre ich gerade in einem mit Steinen gefüllten Fass einen Hügel hinuntergerollt und danach einen Marathon mit Backsteinen auf dem Rücken gelaufen, aber er war zufrieden.

Atlas hatte mich gebeten, auf ihn zu warten, also gab Dr. Beth mir ein Epad mit einem Übersichtsplan. Als die Tür sich hinter mir schloss, lehnte ich mich einen Moment mit dem Rücken gegen die Wand und atmete einfach nur tief ein und aus. Für jemanden, der mich als Testobjekt – oder vielleicht als Laborratte – sah, war Dr. Beth im Grunde sehr nett gewesen, und es war nicht seine Schuld, dass ich einen Horror vor Ärzten hatte. Vielleicht würde ich ja irgendwann in der Zukunft in der Lage sein, mich einer Untersuchung zu stellen, ohne mich lieber unter dem Bett verstecken zu wollen.

Ein echter Bonus meiner neuen Situation: Obwohl mir meine zittrigen Beine den Dienst versagten, war ich in der Lage zu »stehen«, indem ich meine Fähigkeit zu fliegen einsetzte. Vielleicht kam ich hier ja doch noch ohne eine hochnotpeinliche Szene heraus.

Reiß dich zusammen.

Ich löste mich von der Wand und blickte auf die Karte, der ich zurück zur Lobby, dann weiter hinunter in einen anderen Korridor und bis in einen riesigen Konferenzraum folgte. Ein runder Eichentisch dominierte den Raum, ein verziertes S war darauf über dem Teammotto eingraviert: Nos Praestolamur: Wir sind bereit.

Mein Atem stockte. Ich stand im berühmten Versammlungsraum der Sentinels.

Eine Wand war bedeckt mit gerahmten Zeitungsausschnitten und Fotografien von Atlas und den anderen. Obwohl mir meine Situation immer noch komplett verrückt erschien, musste ich lächeln: Atlas war ein Abbild von Perfektion, blond und blauäugig, mit wunderbar zur Geltung kommenden Muskeln unter seinem ledernen Overall – dunkelblau mit weißen Zierelementen und passendem Cape und Maske. Das älteste Bild von Atlas zeigte ihn mit achtzehn in seinem ersten Kostüm. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass er sich für die Gestaltung die schrillen, knallfarbigen Jumpsuits Elvis Presleys und Evel Knievels zum Vorbild genommen hatte. Mit seiner Fähigkeit zu fliegen, seiner Super-Stärke und seiner Super-Zähigkeit, hätte er anstatt des weißen »A« allerdings genauso gut ein großes, rotes »S« auf seiner Brust tragen, sich zum Champion von »Wahrheit, Gerechtigkeit und des American Way of Life« erklären und darauf warten können, dass sich ein Anwalt trauen würde, ihn auf Copyright-Verletzung zu verklagen …

Das größte Teamfoto trug die Überschrift Bürgermeister gründet Superteam der Stadt und zeigte alle fünf Gründungsmitglieder der Sentinels: Atlas natürlich, gemeinsam mit Touches Clouds, Black­stone, Ajax und Minuteman. Auf diesem Bild waren sogar die selten in Erscheinung tretenden Reservisten des Teams zu sehen, Crow und Iron Jack.

Ich strich über den Bilderrahmen. Das Team war heute größer, doch nur drei Gründungsmitglieder waren noch dabei. Minuteman war tot, umgebracht von einem Superschurken. Und das neueste Foto von Atlas zeigte ihn, wie er Präsidentin Touches Clouds bei irgendeiner Zeremonie im Weißen Haus die Hand schüttelte.

»Hübsch, nicht wahr?«

Vor Schreck wäre ich beinah tot umgefallen. Während ich mir die Bilder angeschaut hatte, war Atlas direkt hinter mich getreten. Super-­Gehör. Von wegen.

Er trug jetzt zivile Kleidung. Hätte ich ihn so auf der Straße getroffen, hätte ich ihn nicht erkannt. Mit Dockers und einem Sport-Shirt sah er ganz anders aus als der Muskelmann auf den Fotos. Er war schlank, beinahe dünn, und ohne die Maske sah sein Gesicht kantiger aus, stärker gealtert.

Ich lief knallrot an, als mir klar wurde, dass er merkte, wie ich ihn anstarrte. »Aber …«

Er lächelte. »Wo sind die ganzen Muskeln hin? Die sind in den Anzug eingearbeitet. Nicht, dass ich mir nicht mein Sixpack bewahren würde, aber Muskelmasse hat damit, was wir sind, nichts zu tun – es ist nur, was die Menschen erwarten. Ich hab hier was für dich.«

Er übergab mir einen Stapel Kleidung, um die zu ersetzen, die ich so gut wie zerstört hatte. Unter einem Pulli und einer Hose fanden sich neue Schuhe, Socken und Unterwäsche.

»Diskrete persönliche Einkäufer und ein Kurier«, beantwortete er meine unausgesprochene Frage. »Bei uns ist der Kunde König. Bereit, nach Hause zu gehen?«

»Einfach so?« Ich war sowas von bereit.

»Einfach so. Wir unterhalten uns auf dem Weg.«

Ich schlüpfte in die Straßenkleidung und wir hielten noch einmal kurz in der Lobby, um bei Bob einen Termin für morgen zu machen. Dann verließen wir die Kuppel durch die »Hintertür« – in diesem Fall bedeutete das einen Fahrstuhl, der sich seitwärts bewegte und sich in einen schrankartigen Raum öffnete, von dem aus wir in ein schwach beleuchtetes, unterirdisches Parkhaus gelangten.

Ein kleiner, grauer Saturn wartete auf uns und neben ihm ein Mann, der einen weißen Karton hielt, so einen, in dem man auch Dokumente aufbewahren würde.

»Ihre Sachen, Miss«, sagte er.

Ich öffnete den Deckel und stellte fest, dass der Karton die Sachen aus meinem Auto enthielt: mein zerstörtes Epad, den Erste-Hilfe-Kasten, lose Post, die uralten Minzbonbons aus dem Handschuhfach …

Atlas nahm mir den Karton ab und stellte ihn auf den Rücksitz, bevor er mir die Schlüssel übergab. Als ich eingestiegen war, ließ er sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf dem Beifahrersitz nieder.

»Dein Toyota wird noch vor heute Nacht ein Stahlwürfel auf einem Schrottplatz sein«, sagte er. »Wenn irgendjemand fragt – dein Wagen ist in der Werkstatt und du kannst ihn in wenigen Tagen abholen. Die Nummernschilder und FIN werden deiner Versicherung und deinem DMV-Eintrag entsprechen, und soweit irgendjemand weiß, ist der heutige Morgen nie passiert.«

»Aber – danke dafür, aber warum

»Da du am Ort des Geschehens nicht erkannt werden konntest, weiß niemand, wer die neue Erwachte ist, und wir sorgen dafür, dass das so lange so bleibt, wie du es möchtest.«

»Das habe ich verstanden und das war nicht die Frage«, schnappte ich zurück, beeindruckt, wie schnell er meine Dankbarkeit in Irritation verwandeln konnte.

»Ganz ruhig da drüben«, sagte er. »Das ist ein Mietwagen.«

Ich sah nach unten und stellte fest, dass das Steuerrad sich in meinem Griff verbog. Ich ließ so schnell los, als hätte ich mich verbrannt. Plötzlich zitterten meine Hände.

»Tief ein- und ausatmen jetzt, Darling. Sag Bescheid, wenn du meinst, dass ich lieber fahren sollte.«

»Es geht mir gut. Wirklich, ich …« Oh, Gott.

Ich stieß die Tür auf, lehnte mich raus und übergab mich zum zweiten Mal an diesem Tag, dann fing ich an zu heulen.

Er saß nur dort und ließ mich weinen.

Ich umklammerte mich selbst, da nichts anderes sicher erschien, und erlangte die Kontrolle über mich in einer, höchstens zwei Minuten wieder. Du bist keine Drama Queen. Du reißt dich zusammen, bis du allein bist. Scham half mir, meinen Ausbruch zu unter­drücken.

»Hier«, sagte er.

Er hatte in dem Karton herumgekramt, während ich meine Selbstbeherrschung wiederzufinden versuchte, und reichte mir jetzt meine Wasserflasche und die alten Minzpastillen. Ich spülte mir den Mund aus und lehnte meinen Kopf gegen das Steuerrad, während ich die Pastillen zerkaute und still betete.

Bitte lieber Gott, achte auf deine neuesten Engel. Sei bei denen, die nun um sie trauern.

Schließlich richtete ich mich wieder auf, putzte mir die Nase, schniefte und konnte wieder normal atmen. »Danke. Ich bin …«

»Entschuldige dich nicht. Du hattest einen miesen Tag.«

Sein trockener Tonfall ließ mich herumfahren, doch in seinen Augen sah ich kein Mitleid.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und startete den Wagen. Ich verließ den Parkplatz und fuhr die Rampe hinauf, wobei ich sehr vorsichtig mit meinem Griff war. Als wir oben an der Straße ankamen, fuhr ich in Richtung Westen.

»Du wolltest wissen, warum«, sagte er nach einigen Ampeln. »Sollen wir uns jetzt unterhalten oder wenn du zu Hause bist?«

»Jetzt. Pflastermäßig schnell, sagt Dad immer.« Ich schniefte erneut und machte damit meine tapferen Worte wieder zunichte, doch Atlas lächelte.

»Was sagt er denn sonst noch?«

Ich schaffte ein eigenes Lächeln. »Lass kein altes Essen im Kühlschrank stehen, mach jeden Tag ein Backup deiner Daten, und wenn du zuschlägst, schlag, als würdest du es ernst meinen.«

Er lachte leise. »Im Handschuhfach ist ein Kärtchen mit einer Telefonnummer und einer Web-Adresse. Schau sie dir mal an, wenn du die Details wissen möchtest. Aber eine Sache kann ich dir schon verraten: Du gehörst zu den top zehn Prozent der Erwachten vom Atlas-Typ. Reine A-Klasse. Pass auf die Straße auf!«

Ich sah wieder auf die Straße und lockerte meinen Griff, als das Lenkrad erneut protestierte.

»Was die Superkräfte angeht, hast du im Lotto gewonnen. Nur musst du jetzt entscheiden, was du tun willst.«

»Tun? Ich … sollte ich nicht dasselbe tun wie du?«

»Warum? Du kannst alles oder nichts damit anfangen. Geh zur Uni, such dir einen netten Typen, fang eine Karriere an. Du musst nicht noch mehr Tage wie heute erleben.«

»Aber …«

Er schüttelte den Kopf. »Hope, du bist nicht plötzlich unentbehrlich. Du wirst Training brauchen, um dir zu helfen, deine Kräfte zu kontrollieren, und darum müssen wir uns sofort kümmern. Aber du musst kein Cape werden und du musst das auch nicht jetzt entscheiden.«

Dann wechselte er das Thema und fragte mich nach meiner Familie und meinen Plänen, während ich fuhr. Ich redete wie auf Autopilot.

»Was ich nicht verstehe«, fragte ich schließlich, und kehrte damit zurück zu der Frage, die mich beschäftigt hatte, seit ich wieder klar denken konnte, »ist, warum ich? Warum auf diese Weise, meine ich. Ich habe nie davon geträumt, Supergirl zu sein, als ich klein war.«

»Deine Frage ist, warum du das Atlas-Typ-Paket abbekommen hast?«

Ich nickte. Ich fuhr auf die Columbus und steuerte auf die Harrison zu, um den Expressway zu umgehen, bis wir an der eingestürzten Überführung vorbei waren. Im Radio rieten sie allen Leuten, die Eisenhower bis zum Nachmittag zu umfahren, und der Westarm der El war gesperrt, bis die Schienen wieder repariert waren. Polizisten mit Motorrädern regelten den langsam dahinkriechenden Verkehr, und obwohl die Notfalleinsatzwagen längst wieder weg waren, kreisten immer noch Helikopter über der Katastrophenstelle.

Ich roch Zementstaub und einen Rest von verbranntem Öl und Gummi. Nur sieben Tote. Es schien furchtbar, so zu denken, doch eine halbe Stunde später, und es wären Dutzende gewesen.

Atlas beobachtete die Helikopter ohne Kommentar, während er dem Knopf in seinem Ohr zuhörte. Als wir an der Ashland Avenue vorbeifuhren, lehnte er sich zurück, streckte die Beine aus, soweit es der Fußraum des Autos erlaubte, und setzte unser Gespräch da fort, wo es aufgehört hatte.

»Über Durchbrüche ist ziemlich viel irreführendes Zeug geschrieben worden, aber der Auslöser ist normalerweise genau das, was allgemein behauptet wird: ein wirklich stressiges Erlebnis. Du bist in akuter Gefahr zu sterben oder schwer verletzt zu werden. Du hast Angst. All deine Überlebensinstinkte werden plötzlich aktiv und das Adrenalin schießt dir ins Blut. Die meisten Durchbrüche passieren unter lebensbedrohlichen Umständen, deswegen sind die erwachenden Kräfte im Allgemeinen darauf ausgerichtet, mit der Gefahr oder einem Trauma fertigzuwerden. Was denkst du, wie viele Möglichkeiten es für dich gegeben hätte, aus deinem Auto rauszukommen?«

Ich überlegte kurz.

»Na ja, mich herauszudrücken, wie ich es ja gemacht habe. Teleportation wahrscheinlich? Komplett geisterhaft zu werden vielleicht.« Ich dachte an andere Capes und deren Kräfte. »Ich hätte den Beton mit meinem Geist bewegen können. Oder mit Energiestößen ein Loch machen …«

Er hob eine Hand. »Du hast das Prinzip verstanden. Es gibt Dutzende von möglichen Variationen für drei grundlegende Reaktionen: Sich gegen die Gefahr wehren, Immunität gegenüber der Gefahr erzeugen oder der Gefahr entkommen. Und wenn die Gefahr von einem anderen Menschen ausgeht, sind die Möglichkeiten, sich zu wehren, sogar noch vielfältiger. Du könntest die mentale Kontrolle über deinen Angreifer übernehmen, ihn mit Illusionen irreführen, sein Nervensystem mit Giften angreifen, jede Menge Sachen. Wenn also jemand seinen Durchbruch erlebt, was glaubst du, wie er oder sie aus all diesen Möglichkeiten ›auswählt‹?«

Ich dachte darüber nach, während ich im geringer werdenden Verkehr mit einem blauen Mini-Van die Vorfahrt aushandelte. »Ich vermute, es würde von ihrer instinktiven Reaktion abhängen.«

»Jep. Du bist klein. Wie viel älter als du ist dein jüngster Bruder?«

»Eineinhalb Jahre.«

»Ich wette, du hast dich schon in sehr jungem Alter daran gewöhnt, zurückzuschlagen.«

»Oh, ja.« Ich lachte. »Toby hat mich gerne in den Schwitzkasten genommen, um meine Haare zu verwuscheln. Oder er hat mich so lange geärgert, bis ich wütend genug wurde, um nach ihm zu schlagen, und dann hat er meine Arme festgehalten und mich gekitzelt, bis ich fast bewusstlos wurde. Aaron hat ihn davon abgehalten, wenn er da war, aber durch sein Sporttraining war er nicht viel zu Hause.«

»Wie bist du damit umgegangen?«

»Ich habe kämpfen gelernt.«

»Und Toby hat gelernt, dass es einen Preis hatte, dich zu quälen.«

Ich nickte.

»Verstehst du, worauf ich hinauswill?« Er lehnte sich zurück und wandte seine Aufmerksamkeit den Bäumen zu, die die Seiten der Straße säumten. »Dein erster Instinkt ist es, zurückzuschlagen, und du bist daran gewöhnt, dich physisch zu wehren. Der Atlas-Typ ist der Typ für physisches Zurückschlagen. Herzlichen Glückwunsch.«

Erst jetzt merkte ich, dass ich zu Hause war.

 

 

 

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Kapitel 4

 

»Der Teatime-Anarchist hat sich zum Anschlag von heute Morgen bekannt. Er bezeichnete es als einen politischen Mord, der gezielt Senator Todd Davis treffen sollte, den Initiator des umstrittenen Davis-Gesetzes­entwurfs. Senator Davis hielt sich heute Morgen in Chicago auf, um an einer Konferenz zum Thema Erwachte, Bürgerrechte und nationale ­Sicherheit teilzunehmen. Der Gesetzesentwurf wird, wenn er in Kraft treten sollte, die meisten Verbrechen, an denen Menschen mit Superkräften beteiligt sind, zur Bundessache unter der Jurisdiktion des Department of Superhuman Affairs machen. Der Senator und sechs andere Menschen starben bei dem Angriff, der möglicherweise einen neuen Durchbruch ausgelöst hat. Eine Person wurde dabei beobachtet, wie sie gemeinsam mit Atlas den Katastrophenort verließ, als die Bergungsarbeiten abgeschlossen waren.

Um zehn Uhr wird Chakra, Chicagos umstrittenste Sentinel, zu Gast bei Chicago by Night sein. Sie wird ihr neues Buch, Die heiligen Tore, ein Handbuch für Meditation, Yoga und Tantrasex vorstellen. Und nun zurück zu dir, Vince.«


—Ted Nedcaff, Chicago Morning News

 

Mein Zuhause ist eines der bunt restaurierten viktorianischen Herrenhäuser in der verschlafenen, mit Bäumen gesäumten Chicago Avenue in Oak Park. Dad hat jahrelang am Haus gearbeitet, aber wir alle haben dabei geholfen, und jeden Sommer verbringen wir nach wie vor einige Tage zusammen damit, die äußeren Verzierungen neu zu streichen. Als wir in die Auffahrt fuhren, erwartete uns dort ein zweites Auto mit Fahrer, der Atlas abholte. Er erinnerte mich an die Karte im Handschuhfach und an den morgigen Termin und fuhr davon. Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags.

Der Regen, kaum mehr als ein Nebel, berührte sanft mein Gesicht, während ich auf der Veranda stand und die ozongeschwängerte, nach nasser Erde und Blättern riechende Luft einatmete. Einen kurzen Moment lang fühlte sich alles wieder normal an. Ich winkte Mrs Morris von der anderen Straßenseite zu, und Travis, ihr Pudel, knurrte mich an. Ich lächelte.

Als ich hineinging, stellte ich fest, dass das Haus leer war, also fütterte ich Graymalkin, während er schnurrte und meinen Knöcheln kleine Kopfstöße verpasste, und schrieb Julie mit dem Versprechen, später zu reden, dass ich unsere geplante Shopping-Tour leider absagen müsste. Oben stellte ich den Karton in meinem Zimmer ab und ging erneut duschen. Danach schlüpfte ich in ein Tank-Top und Shorts und rollte mich mit meinem University-of-Chicago-Bär – einem Geschenk zum Schulabschluss – auf meinem Bett zusammen, um eine Weile an nichts zu denken. Schließlich stand ich auf, ging hinüber zu meiner Kommode, öffnete die unterste Schublade und zog die alte Weihnachtskeksdose heraus. Ich hatte sie jahrelang ignoriert.

Als ich zehn war, hatte ich den Deckel mit aus Papier ausgeschnittenen Buchstaben beklebt, die zusammen Shelly und Hope ergaben. Shelly war meine Kindheitsfreundin und Vertraute gewesen, meine furchtlose Anführerin und Anstifterin zu Abenteuern und Ärger, kurz meine BFF. In der Dose hatte ich stapelweise Zettelchen, auf denen wir uns in der Schule Nachrichten hin und her geschrieben hatten, billigen Schmuck, den wir uns geschenkt hatten, zusammengebundene Päckchen von Fotos aus Feriencamps, von Partys, von Schultanzveranstaltungen gesammelt. Und das Kirchenheft von ihrer Beerdigung.

Ich setzte mich im Schneidersitz auf den alten Holzfußboden und blätterte durch die Fotos, bis ich das Bild gefunden hatte, das Mom an Halloween gemacht hatte, als wir dreizehn waren. Ich hatte mich als Tiger’s Eye verkleidet, Shelly als Lily Strong. Ihre Mutter hatte die Details aufgestickt, die unsere Tanzstrumpfhosen zu Kostümen gemacht hatten.

Ich hatte Atlas angelogen. Wie so viele andere Mädchen, hatten auch wir davon geträumt, Superheldinnen zu sein. Für mich war es dabei mehr um den schönen Schein gegangen, den Traum davon, mit coolen Celebrity-Helden wie Atlas, Volt oder Burnout in einem Team zu sein. Shelly dagegen war es ernst gewesen. Sie hatte Barlows Handbuch der Superkräfte auswendig gelernt, ständig ihre eigenen Kostüme gezeichnet, jede Ausgabe der Hero Beat und der Power Week gekauft, und jede Folge von Protectors aufgenommen. Das meiste davon hatte sie ihrer Mutter verheimlicht, die der Ansicht gewesen war, Mädchen sollten sich lieber für andere Dinge interessieren. Mrs Boyar hatte Recht behalten.

Als wir fünfzehn waren, sprang Shelly vom Dach eines Wohngebäudes. In der Gemeinde hatte es einen stillen, aber intensiv geführten Streit darüber gegeben, ob es Selbstmord gewesen war, aber es war keiner gewesen. Sie hatte entschieden, dass die Lebensgefahr durch direkt bevorstehenden Aufprall ihren Durchbruch auslösen würde, dass sie einer der Glückspilze sein würde. Ein Artikel über Legal Eagle und wie er seine Flugfähigkeiten gewonnen hatte, als sein Fallschirm sich nicht öffnen wollte, hatte sie inspiriert. Sie würde springen, sie würde fallen und dann würde sie fliegen.

Sie war nicht geflogen.

Danach hatte ich alles weggeschmissen, was mit unserer jugendlichen Obsession zu tun gehabt hatte, außer Super-Winnie Puuh und dem Halloween-Foto. Mom hatte Super-Puuh an sich genommen, um sein selbstgemachtes Atlas-Kostüm zu flicken (jedes Mädchen hat das Recht auf einen Celebrity Crush – und Atlas würde niemals herausfinden, dass er meiner gewesen war) und hatte ihn vor mir versteckt. Das Foto war unter all unseren Familienfotos verschwunden, wo ich es später wiederentdeckt hatte. Ich hatte sogar das Video von unserer letzten Übernachtungsparty gelöscht, aufgenommen eine Woche bevor sie gesprungen war. Es hatte einen ihrer berühmten »Nennt mich Supergirl«-Monologe enthalten.

Im Jahr darauf war Mrs B. weggezogen und ich war auf eine selbstsüchtige Weise froh gewesen. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, ohne von Schuldgefühlen erdrückt zu werden.

Schließlich räumte ich die Dose weg, tupfte mir die Augen ab und ging ins Internet, um die Datei auszudrucken, von der Atlas gesprochen hatte. Bevor ich sie las, verbrachte ich aber einige Zeit damit, das Internet nach Informationen über den Teatime-Anarchisten zu durchforsten.

Er war ein seltsamer Superschurke, komplett unbekannt. Den Namen hatte ihm die Presse verpasst, da sein Akzent in den wenigen bearbeiteten Aufnahmen, die er von sich veröffentlicht hatte, ansatzweise britisch klang. In den Videos trug er immer eine Strumpfmaske und einen langen, altmodischen Mantel zur Tarnung. Einige Jahre nach dem Ereignis hatte er ein Manifest veröffentlicht, in dem er die Bundesregierung anklagte, US-Bürger ihrer Freiheitsrechte berauben und ein totalitäres Regime errichten zu wollen. Der erste Schritt: das Identifizieren und Kontrollieren von Menschen mit Superkräften im Land.

Dann ging er an die Arbeit.

Er begann mit nicht-tödlichen Spielereien. An eine davon erinnerte ich mich sogar: fünf Tonnen Jelly Beans in einer Anhörung des US-Senats. Doch dann radikalisierte er sich. In den letzten fünf Jahren hatte er sich zu elf Bombenanschlägen bekannt, in denen insgesamt zweiundfünfzig Menschen gestorben waren. Er hatte Richter, Abgeordnete, Gerichtsbeamte, Soldaten und massenweise unbeteiligte Dritte getötet. Und heute Morgen einen US-Senator und ein halbes Dutzend unschuldige Pendler.

Meine neu erwachten Fähigkeiten hatte ich den skrupellosen Taten eines bösartigen Wahnsinnigen zu verdanken.

Ich schaltete meinen Laptop aus, holte die ausgedruckten Seiten aus dem Drucker und rollte mich in meinem Bett zusammen, um meinen Untersuchungsbericht zu lesen. Die Zahlen waren erschreckend.

Als Nesthäkchen mit drei älteren Brüdern hatte ich einiges zum Thema Raufen und Prügeln gelernt, und in der High School hatte ich Feldhockey gespielt – ich war die beste Defensivspielerin in der Chicagoer Liga gewesen. Mom hatte mich, als ich sechzehn wurde, zu einem Selbstverteidigungskurs angemeldet, aber klein bleibt klein. Das Beste, was ich in einem echten Kampf wirklich tun konnte, war dem Bösewicht ins Knie zu treten und die Beine in die Hand zu nehmen, während er auf seinem anderen Bein hüpfte. Und jetzt?

Jetzt konnte ich einen Mann mit einem Finger töten.

Mein maximales Hebevermögen – ohne schlimme Dinge mit mir selbst anzustellen – betrug etwas über zehn Tonnen. Um das in Perspektive zu setzen, hatte Dr. Beth aufmerksamerweise eine Liste angehängt. Ein Flugzeug wog fast neun Tonnen, ein beladener Sattelzug ungefähr zehn. Ich konnte nicht mit einem Panzer Gewichtheben spielen, aber ich konnte einen wie eine Schildkröte auf den Rücken drehen.

Und jemanden schlagen, die universelle Superhelden-Aktivität? Ein Faustschlag von mir konnte Knochen zertrümmern, innere Organe zu Mus verwandeln und generell einen Menschen ziemlich widerlich zurichten. (Man stelle sich einen olympischen Gewichtheber vor, der einen 10-Pfund-Vorschlaghammer schwingt. Übel.) Wenn ich mich wirklich anstrengte, konnte ich zuschlagen wie eine Panzerabwehrrakete.

Wie widerstandsfähig war ich? Über zivile Waffen konnte ich lachen, aber der hypothetische Panzer, mit dem er mich die ganze Zeit verglich, konnte mir wehtun. Sehr. Wehtun. Allerdings war ich – anders als der Panzer – zäh durch und durch, das hieß ich heilte zehn Mal so schnell wie eine normale Person (und ich hätte gerne gewusst, wie er das herausgefunden hatte).

Was das Fliegen anging, hatte Dr. Beth mich, basierend auf den Flug-Liegestützen, die ich hatte machen müssen, bei hypothetischen 1000 km/h verortet, obwohl er mich davor warnte, dass es bei dieser Geschwindigkeit durch Turbulenzen schwierig sein würde, die Kon­trolle zu behalten. Somit konnte ich schneller fliegen als zivile Flugzeuge, aber nicht schneller als Militärflugzeuge.

An das Ende der Datei hatte er eine Notiz angefügt: Sprechen Sie mit einem Musterungsoffizier. Dass ich zu den top zehn Prozent des Atlas-Typus gehörte, hieß anscheinend, dass ich das zwanzigfache Gehalt eines Soldaten gleichen Ranges verdienen könnte. Kein Wunder: Ich war zu einer Waffe geworden.

Und das würde alles ändern.

Ich freute mich sowas von gar nicht auf das heutige Gespräch beim Abendessen.


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»Nein. Das ist keine Option«, sagte Dad. Mom sagte überhaupt nichts, was bedeutete, dass sie ihm nicht zustimmte, zumindest jetzt noch nicht. Das Gespräch nach dem Abendessen entwickelte sich nicht gut.

Ich hatte bis zum Nachtisch mit meinen Neuigkeiten gewartet. Beim Erdbeerkuchen erklärte ich ihnen, warum ein Mietwagen in der Auffahrt stand. Dann zeigte ich ihnen meine Akte und sagte ihnen, dass ich mich entschieden hatte, eine Superheldin zu werden. Oder es zumindest zu versuchen.

Atlas hatte Recht damit gehabt, dass ich nicht sofort eine Entscheidung treffen musste, aber er hatte falsch darin gelegen, zu glauben, dass es überhaupt eine wirkliche Entscheidung für mich zu treffen gab.

Dad war nicht einverstanden, wie ich es im Voraus gewusst hatte.

»Es ist gerade erst heute Morgen passiert. Hast du wirklich genug darüber nachgedacht?« fragte Mom.

»Ich habe an nichts anderes gedacht.«

»Und deine Ausbildung?«

»Ich denke …«

Dad pochte auf den Tisch. »Nur eine verdammte Minute! Wir haben dich nicht großgezogen, damit du eine kostümierte Gesetzeshüterin wirst!«

»Ich weiß, Dad. Aber kann ich es ignorieren?« Meine Stimme wollte brechen, aber ich kämpfte mich weiter. »Ich kann Menschen helfen. Etwas bewirken.«

»Du bewirkst jetzt schon genug!«

»Aber was ich für Mom tue, könnte jeder tun. Da sind noch Vicky und Susan und Joyce und …«

Mom nahm meine Hand.

»Du weißt, was dein Vater meint, Schatz. Du bist erst achtzehn. Meinst du nicht, die Stadt hat schon genug Superhelden?«

Ich nickte. Meine Augen brannten, aber ich unterdrückte die Tränen. Wenn ich anfinge zu weinen, würden sie mich wie ein Kind behandeln. »Ich will das überhaupt nicht. Ich wünschte, heute Morgen wäre nie passiert.«

»Warum denkst du dann überhaupt darüber nach?« fragte sie sanft.

»Wenn ich das nicht nutze … ich weiß nicht. Das wäre wie eine Fantastillion Dollar zu gewinnen und niemandem damit zu helfen. Es fühlt sich einfach falsch an.«

Das akzeptierte sie.

Dad schien es auch zu verstehen. »Verdammt noch mal …«