Assaf Alassaf, Jane Flett, Lucy Fricke, Maren Kames, Tilman Rammstedt, Érica Zíngano

Die Stadt der Anderen

Geschichten

Mit Fotografien von Maria Sewcz

ein mikrotext

Erstellt mit Booktype

Idee, Organisation und Herausgeber: Alexander Gumz, Eric Schumacher

Cover: Lydia Salzer

Coverfoto: Maria Sewcz (Ausschnitt)

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de

www.kookverein.de

ISBN 978-3-944543-59-8

In Kooperation mit KOOK e.V.

Alle Rechte bei den Autor*innen, der Fotografin und KOOK e.V.

Ein Projekt von KOOK e.V. gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

© mikrotext 2017, Berlin / KOOK e.V. / für die Fotografien Maria Sewcz / VG Bild-Kunst Bonn


Inhalt

Jeder hat sein Bild von Berlin. Wie aber sehen die anderen die Stadt? Sehen sie dieselbe Stadt – oder eine völlig andere? Die Autorinnen und Autoren Assaf Alassaf, Jane Flett, Lucy Fricke, Maren Kames, Tilman Rammstedt und Érica Zíngano verabredeten sich im Herbst 2017 jeweils zu zweit zu Spaziergängen durch Berlin. Begleitet hat sie die Fotografin Maria Sewcz mit ihrem eigenen künstlerischen Blick. Literatur und Fotografie trafen auf Stadt. Aus diesen individuellen Touren entwickelten die Autoren und Autorinnen Texte über eine Metropole im Wandel. Sie eröffnen einander neue Perspektiven, erzählen neue Geschichten und alte Geschichten neu – von der Besetzung der Volksbühne, einer Flüchtlingsunterkunft in Zehlendorf, von der Sonnenallee, der Cuvrybrache und dem Westberliner Zoo. Herausgegeben und kuratiert von Eric Schumacher und Alexander Gumz.


Assaf Alassaf, Jane Flett, Lucy Fricke, Maren Kames, Tilman Rammstedt, Érica Zíngano

Die Stadt der Anderen

Mit Fotografien von Maria Sewcz

Herausgegeben von Alexander Gumz und Eric Schumacher

Vorwort. Von Alexander Gumz und Eric Schumacher

Berlin ist eine internationale Kulturmetropole mit fast 190 unterschiedlichen Sprachen. Ende 2016 waren rund 628.000 Personen aus dem Ausland in Berlin registriert, ein Anteil von 18,4 %. Nicht wenige von ihnen sind Künstler*innen und Autor*innen, die es aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Berlin verschlagen hat. Viele sind auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Unterdrückung; viele auf der Suche nach Freiräumen, und weil sie sich von der schöpferischen Atmosphäre Berlins angezogen fühlen.

Aber wie wirkt sich das im Alltag der nicht-deutschsprachigen Autor*innen aus? Wie partizipieren sie an den Strukturen der Stadt, wie verändern sie sie, wie und wo gibt es Prozesse von Annäherung, Aneignung, Umdeutung? Und münden sie in einen Zustand von Angekommensein, einer Art neuer Heimat – zumindest einer Ersatzheimat – oder genügen Suchbewegungen im Provisorischen, eingekapselt in der eigenen Expat-Bubble? Was bleibt fremd am Fremden, und von welcher Seite aus gesehen? Wie verschieben sich die Koordinaten der Selbst- und Fremdwahrnehmung?

Drei Tandems stellten sich gegenseitig in Spaziergängen Lieblingsorte ihrer Stadt vor, und was sie mit ihnen verbinden: Lucy Fricke und Assaf Alassaf (Syrien); Jane Flett (Schottland) und Tilman Rammstedt; Maren Kames und Érica Zíngano (Brasilien). Die Bitte an sie bestand darin, aus diesen gemeinsamen Erfahrungen, exklusiv für das Projekt Texte zu schreiben über das Berlin der Anderen – wie es das eigene Bild der Stadt verändert, unterwandert, spiegelt, de- und rekonstruiert. Wie es das Verhältnis von Nähe und Distanz, von Heimat und Fremde beeinflusst, neue Blicke auf scheinbar Vertrautes oder Fremdgebliebenes eröffnet.

Kreuz und quer fährt Lucy Fricke mit Assaf Alassaf durch Berlin. Alassaf kennt das BVG-Netz in- und auswendig. Sie kommen bis nach Zehlendorf, für Fricke fremdes, unbekanntes Terrain. Er zeigt ihr in diesem wohlhabenden Bezirk die Schule, in deren Turnhalle er als Refugee untergebracht war. Er erzählt vom Zaun, der die Geflüchteten und Schüler*innen trennte. Nichts ist heute mehr davon zu sehen.

Assaf Alassaf wiederum verwebt Erlebtes von Lucy Fricke in eine collagenhafte Erzählung, in der die Zeit des Ankommens in Berlin in eine nächtliche Wanderung durch eine fast menschenleere Stadt überblendet. Eine Stadt, die einen aufsaugt, die sich selbst und ihre Bewohner permanent verändert, die immer Neues generiert und Orte spurlos verschwinden lässt. Und doch heißt sie einen irgendwann, nach vielen verschiedenen Wohnorten, willkommen.

Zusammen mit Érica Zíngano besucht Maren Kames den Berliner Zoo. Amüsiert lauschen sie den Kommentierungen der Zoobesucher und Tierpfleger, erfahren Skurriles über Ganzkörperfütterungen, über Nahrungs- und Sozialverhalten. Berlin kommt einem in diesem Mikrokosmos sehr nahe: das Berliner Anthropozän. Spekulationen, was da mit welchen Rückschlüssen auf Berliner Alltagsrealität ausgestellt wird, in welchen Kontexten und mit welchen neo-kolonialistischen Lokalkolorit-Klischees. Und immer die Frage: Wer wird hier eigentlich vor wem weggesperrt?

Érica Zíngano transformiert ihren Spaziergang mit Maren Kames in ein langes Poem. Ausgehend von der Übertragung von Energie, die bei einer Unterhaltung entsteht, hört sie den Gesprächspartner von „einem anderen ort aus/ da ist ganz klar ein abstand“, der plötzlich groß wird, evoziert durch das Wort „halle“, aufgeschnappt bei einem – fiktiven? – Tinder-Date, einer ironische Spiegelung der Walk-Konstellation. Zínganos Text schlägt etymologische Volten und endet überraschend in Alassafs Turnhalle in Zehlendorf.

„Die Stadt der Anderen“ betitelt Jane Flett ihren Text wörtlich. An einen mit Berlin verwandten Märchenort führt sie den Leser: zunächst zur besetzten Volksbühne, dem Widerstand gegen die Verdrängung künstlerischer Frei- und Entfaltungsräume. „Es wird neue Theaterstücke geben, sagen sie. Die Zukunft wird die Bewohner der Stadt in einen Mantel hüllen, weich und weiß wie der Schnee“, stellt Flett lakonisch und zugleich poetisch-programmatisch fest. Rammstedt und sie flanieren durch eine Straße der Kastanien, einem Wunderladen, begutachten die letzten Reste der Mauer. Die falsche Vergangenheit beginnt zu zerbröckeln. Ein Riss geht durch „Die Stadt der Anderen“. Vielleicht, so die Hoffnung, kann man sich einfach verschlingen lassen, Leerstellen aufsuchen, Nicht-Räume, die entstehen, „wenn der Moderator vergessen hat, welches Stück als nächstes gespielt wird“.

Tilman Rammstedt wiederum lässt sich von Jane Flett durch „ihr“ Neukölln führen. Sie zeigt ihm Tischtennis spielende Syrer, ein türkisches Kind, das Seifenblasen bläst, beautiful people am Kanalufer, die sich in unterschiedlichsten Sprachen unterhalten. Eine heitere, unbeschwerte Herbstszene im Nachmittagslicht, angesichts der sich Rammstedt unwillkürlich fragt: Ist das jetzt das beste aller vorstellbaren Leben – oder vielleicht doch nur „ein aufwendig inszeniertes Werbevideo für Neukölln“. Da wird Berlin zu seiner eigenen Filmkulisse, einer Inszenierung, die der Text durchdringt und zugleich in einer Kette absurd-poetischer Steigerungen literarisch überhöht.

Während all dieser Szenen, Begegnungen und Geschichten wurden die Autor*innen unauffällig von der Fotografin Maria Sewcz begleitet. Mit ihrem ganz eigenen Gespür und Sensorium für scheinbar nebensächliche Details fing sie Momentaufnahmen und Miniaturen ein, die etwas anderes tun als die Texte zu illustrieren. Dieser dritte Blick, der das Interagieren der Autor*innen aufgreift und es in einem fotopoetischen Augenblick transzendiert.

Literatur und Bild treffen auf Stadt. Raum, Text und Fotografie geraten – vielsprachig, multi-perspektivisch – in ein Zusammenspiel. „Die Stadt der Anderen“ will so als Pilotprojekt einen Stadtplan der internationalen Parallelwelten skizzieren, aus denen Berlin zunehmend besteht, will neue Möglichkeits- und Sprachräume aufspannen in einer Metropole im Wandel.

Die erarbeiteten Texte und Fotografien wurden am 29. November 2017 in einer gemeinsamen Lesung in der Lettrétage in Berlin Kreuzberg vorgestellt. Das eBook präsentiert die deutschen Versionen der Texte sowie eine von Maria Sewcz kuratierte Auswahl an Fotografien. In einer verlinkten PDF-Datei werden darüber hinaus auch die Originaltexte der nicht-deutschsprachigen Autor*innen sowie englische Übersetzungen der deutschsprachigen Autor*innen veröffentlicht.

Ein herzlicher Dank geht an die beteiligten Künstler*innen; die Übersetzer*innen Katrin Behringer, Timo Berger, Sandra Hetzl und Lucy Jones; Jutta Büchter für Pressearbeit; Lettrétage e.V., mikrotext und die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Die Stadt von Assaf. Von Lucy Fricke

Kreuz und quer fährt er durch die Stadt und zieht mich hinter sich her. Im BVG-Netz bin ich ohne jede Orientierung, in Assaf hingegen hat sich das Streckennetz eingefressen. Er mag das Herumfahren, das Unterwegssein in Berlin, seine ersten Erinnerungen an die Stadt liegen in den Randbezirken.

Mit der S1 fahren wir in Richtung Wannsee, Zehlendorf raus, den Teltower Damm runter, eine Viertelstunde zu Fuß. Seit siebzehn Jahren lebe ich in Berlin, und noch nie war ich in Zehlendorf. Hier leben die wohlhabenden Familien, eine mir persönliche fremde Bevölkerungsgruppe,  und genau hierhin brachte ihn vor zwei Jahren der Bus. Der Bus, in den er einstieg, nachdem er zwanzig Stunden am Lageso gewartet hatte. Eine Fahrt durch ein unbekanntes Berlin, durch eine fremde Weite, die für ihn an einer Turnhalle endete.