[1]

[2]Henrik Uterwedde
Frankreich – eine Länderkunde

[3]Henrik Uterwedde

Frankreich
– eine Länderkunde

Verlag Barbara Budrich
Opladen • Berlin • Toronto 2017

[5]Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Frankreich im Aufbruch – wohin?

1. Historische Grundlagen

1.1  Das französische Modell der Demokratie

1.2  Grundzüge der Entwicklung seit 1870

2. Das politische System

2.1  Ein „rationalisierter Parlamentarismus“

2.2  Die doppelte Exekutive: Präsident und Premierminister

2.3  Der lange Weg zum Rechtsstaat: Das Verfassungsgericht

2.4  Demokratie in Frankreich: Licht und Schatten

3. Parteien und Wahlen

3.1  Besonderheiten der Parteienlandschaft

3.2  Die wichtigsten Parteien

3.3  Wahlen in Frankreich

4. Die Rolle des Staates

4.1  Staat und Wirtschaft: vom Etatismus zur Marktwirtschaft

4.2  Staat und Gesellschaft: ein neues Rollenverständnis?

4.3  Zentralismus und Dezentralisierung

5. Die Medien

5.1  Umbrüche im Mediensystem

5.2  Die heutige Medienlandschaft

6. Die Wirtschaft

6.1  Strukturwandel der Wirtschaft: Etappen, Erfolge, Probleme

6.2  Wettbewerbsfähigkeit: Licht und Schatten

6.3  Frankreich: ein attraktiver Standort

6.4  Die großen Wirtschaftssektoren

6.5  Die Unternehmensstruktur

7. Die Gesellschaft

7.1  Ein tiefgreifender Strukturwandel

7.2  Der Sozialstaat

7.3  Sozialer Zusammenhalt und Ungleichheiten

7.4  Beschäftigung im Wandel

[6]8. Gesellschaftlicher Zusammenhalt

8.1  Frankreichs Integrationsmodell auf dem Prüfstand

8.2  Die Misere der Vorstädte

8.3  Die schwierigen sozialen Beziehungen

9. Das Bildungssystem

9.1  Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik

9.2  Die Schule

9.3  Die Hochschulen

10. Frankreichs Außenbeziehungen

10.1  Eine Mittelmacht mit weltweiten Interessen

10.2  Frankreich und Europa

10.3  Frankreich und Deutschland: produktive Partnerschaft

Weiterführende Literatur und Quellen

Verzeichnis der Abkürzungen

[7]Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungen

Abbildung 1:  Die Verfassung der Französischen Republik

Abbildung 2:  Die Regionen nach der Reform von 2015

Abbildung 3:  Wirtschaftswachstum in Frankreich und Deutschland 1981–2016

Abbildung 4:  Bevölkerungsentwicklung 1800–2017

Abbildung 5:  Arbeitslosenquote in Frankreich und Deutschland 1981–2016

Abbildung 6:  Streiks und Aussperrungen im Vergleich (2005–2014)

Abbildung 7:  Das Bildungssystem

Tabellen

Tabelle   1:  Politische Regime seit 1789

Tabelle   2:  Zeittafel 1944–2017

Tabelle   3:  Vertrauen in Institutionen (Umfrage Januar 2017)

Tabelle   4:  Die Parteienlandschaft

Tabelle   5:  Regierungsmehrheiten 1981–2017

Tabelle   6:  Frauenanteil bei Wahlämtern

Tabelle   7:  Wählersoziologie bei den Regionalwahlen 2015 (1. Wahlgang)

Tabelle   8:  Die Rolle des Staates

Tabelle   9:  Zuständigkeiten der Gebietskörperschaften (vereinfachte Darstellung)

Tabelle 10:  Medienkonzerne in Frankreich (2015)

Tabelle 11:  Auflagen ausgewählter Zeitungen und Zeitschriften

Tabelle 12:  Ausgewählte audiovisuelle Medien und ihre Marktanteile (2016)

Tabelle 13:  Jährliches Wachstum der Bruttolöhne

Tabelle 14:  Standort Frankreich: Stärken, Schwächen, Potenziale, Risiken

Tabelle 15:  Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung (2000–2012)

Tabelle 16:  Unternehmen nach Größenklassen im Vergleich (2011)

Tabelle 17:  Entwicklung der sozialen Schichten 1962–2015

Tabelle 18:  Umverteilungseffekte durch Steuern und Sozialstaat (2015)

Tabelle 19:  Beschäftigungsquoten in Frankreich, Deutschland und der EU (2015)

Tabelle 20:  Ungesicherte Arbeitsplätze 1985 und 2015

[8]Tabelle 21:  Einwanderer der ersten und zweiten Generation in Frankreich (2013)

Tabelle 22:  Soziale Merkmale der Brennpunktviertel

Tabelle 23:  Gewerkschaften im Überblick

Tabelle 24:  Massendemonstrationen in Frankreich, 1984–2016 (Auswahl)

Tabelle 25:  Überseeische Gebiete Frankreichs

[9]Vorwort

Das Thema Frankreich füllt ganze Bibliotheken. Und doch reichen diese nicht aus, um unser Nachbarland – das uns so nah ist und mit dem wir eng verbunden sind, das uns gleichzeitig aber auch immer wieder fremd und „anders“ erscheint – vollkommen zu verstehen. Das ist auch nicht der Anspruch des vorliegenden Buches. Es will kein umfassendes Kompendium sein, das alle Themen und Details abbilden würde, sondern einen knappen, problemorientierten Überblick bieten.

Diese Länderkunde versucht, dem Leser die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, Entwicklungen und Probleme Frankreichs nahezubringen. Sie will unentbehrliche Grundlagen liefern, Zusammenhänge erläutern und damit einen Schlüssel zum Verständnis unseres Nachbarlandes bieten.

Der Leser wird ein Land kennenlernen, das sich in einem vielfältigen Wandel befindet – einem Wandel, dem auch Deutschland ausgesetzt ist, der aber in Frankreich eigene Ausprägungen und Probleme mit sich bringt. Ein Land, das eine Reihe schwieriger Problemen und Herausforderungen zu bewältigen hat, aber auch voller Dynamik ist und über große Ressourcen und Potenziale verfügt. Ein Land schließlich, von dessen Erfahrungen und Lösungsansätzen die europäischen Nachbarn und auch wir in Deutschland lernen können.

Die Darstellung versucht, Zusammenhänge, Langzeitentwicklungen und ihre Eigenlogik sichtbar zu machen. Das bedeutet wiederum, eine Auswahl zu treffen, bestimmte Problemlagen und Ursachen besonders zu betonen und auch zuzuspitzen, was zuweilen auf Kosten anderer Erklärungen geht. Einseitigkeiten sollten dabei indessen vermieden werden. Auch wenn das nicht immer gelingt, haben die hier vorgestellten Sichtweisen und Interpretationen immer eine Grundlage in der französischen Debatte selbst. Frankreich ist das Land der Sachverständigenberichte (rapports), die zu fast allen Fragen des öffentlichen Lebens ausführliche, abgewogene problemorientierte Analysen vornehmen und dabei hervorragende Einsichten in die behandelten Bereiche erlauben. Auf sie stützen sich viele Darstellungen in diesem Buch.

Darüber hinaus wird in dieser kompakten Länderkunde eine fast unübersichtliche Vielzahl von Quellen verarbeitet, deren Einzelnachweis den Rahmen des Buches sprengen würde. Wir haben deshalb durchweg auf [10]Quellenangaben verzichtet, mit Ausnahme der längeren Zitate und der Tabellen. Am Ende der Kapitel stehen Hinweise auf weiterführende Literatur und einschlägige Internetressourcen, die die vertiefende Beschäftigung mit dem Thema erlauben. Dabei haben wir uns mit wenigen Ausnahmen auf deutschsprachige Angaben beschränkt. Bei verschiedenen Organisationen und Institutionen sind die jeweiligen Internetadressen angegeben.

Erfahrungsgemäß veralten Daten schnell, auch wenn viele von ihnen strukturelle Kennzeichen abbilden, die sich nicht unbedingt schnell verändern. Deshalb haben Verlag und Autor einen Blog zu dieser Länderkunde eröffnet, der unter der Adresse (http://frankreich.budrich.de) aufgerufen werden kann. Dort sollen in regelmäßigen Abständen neue Ereignisse dokumentiert und auch die grundlegenden Statistiken aktualisiert werden.

Dieses Buch ist die Frucht einer langjährigen Auseinandersetzung mit unserem wichtigsten Partnerland Frankreich. Eigene Projekte und Veröffentlichungen, aber auch unzählige persönliche Erfahrungen und Begegnungen, Gespräche und Diskussionen mit Wissenschaftlerkollegen, Journalisten und engagierten Menschen beider Länder sind in die Darstellung eingeflossen.

Besonderen Dank schulde ich meinen Kolleginnen und Kollegen am Deutsch-Französischen Institut. Das dfi ist ein ausgesprochen produktiver und dabei angenehmer Ort des gemeinsamen Denkens und Arbeitens, der immer wieder neue Ideen und Anregungen hervorbringt. Das sind ideale Voraussetzungen zur Erfüllung seiner Aufgabe, einen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung auf allen Ebenen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens zu leisten und dabei auch Schlüssel zum Verständnis des Nachbarn zu liefern. Davon hat auch diesem Buch profitiert. Wertvolle Anregungen verdanke ich Frank Baasner, Dominik Grillmayer, Eileen Keller und Stefan Seidendorf, die – wie auch Werner Zettelmeier aus unserem Partnerinstitut CIRAC in Cergy-Pontoise – Teile des Manuskripts gelesen und mit mir diskutiert haben und mit denen mich zahllose gemeinsame Diskussionen und Projekte verbinden. Stellvertretend für die Frankreich-Bibliothek des dfi, deren Bestände und Recherchemöglichkeiten mir offenstanden, danke ich Xavier Froidevaux für vielfältige Hilfestellungen und nützliche Hinweise bei der Suche nach Quellen, Daten und Fakten. Dem Institutsdirektor Frank Baasner, wie schon seinem 2008 verstorbenen Vorgänger Robert Picht, habe ich großzügige Arbeitsbedingungen und mannigfaltige intellektuelle Anstöße zu verdanken.

Seit langem teilt meine Frau Jutta Häring-Uterwedde meine Leidenschaft für unser Nachbarland Frankreich. Ihr widme ich dieses Buch, an dessen Zustandekommen sie einen großen Anteil hat.

Henrik Uterwedde
Ludwigsburg, im Mai 2017

[11]Einleitung: Frankreich im Aufbruch – wohin?

Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist unermesslich. […] Sie

erfordert eine neue Moral im öffentlichen Leben; die

Verteidigung unserer lebendigen Demokratie; die Stärkung

unserer Wirtschaft; neue Absicherungen in der Welt, die

uns umgibt; einen Platz für jeden durch die Schule, die

Arbeit und die Kultur; die Erneuerung unseres Europas; die

Gewährleistung der Sicherheit für alle Franzosen.

(Emmanuel Macron, 7.5.2017)

Emmanuel Macron ist der neue Präsident Frankreichs. Er setzte sich in der Stichwahl vom 7. Mai 2017 mit 66% der Stimmen gegen seine rechtsextremistische Konkurrentin Marine Le Pen durch – nach einem außerordentlich harten, verbissenen Wahlkampf, der den krisenhaften Zustand und die innere Zerrissenheit unseres Nachbarlandes in aller Klarheit offengelegt hat. Macron ist wie kein anderer für eine grundlegende Erneuerung Frankreichs und ein starkes, handlungsfähiges Europa eingetreten. Kann er das Land aus seinen Erstarrungen und Verkrampfungen lösen und aus der Krise führen?

Ein krisengeschütteltes Land

Seit längerem ist Frankreich von Krisen und Erschütterungen gezeichnet. Die Wirtschaft hat an Wachstumsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit verloren (→Kap. 6.2). Dies hat auch die Krise in der Gesellschaft genährt, die sich in einer hohen Arbeitslosigkeit (besonders gravierend bei Jugendlichen), der Ausbreitung sozialer Brennpunkte in den Vorstädten und in prekären Lebenssituationen ausdrückt (→Kap. 7.3, 7.4, 8.2). Die terroristischen Anschläge der vergangenen zwei Jahre belasten die Stimmung zusätzlich und beflügeln Debatten und Polemiken über innere Sicherheit, Einwanderung und Islamismus. Dabei zeigen die nachfolgenden Kapitel dieses Buches, dass die Situation trotz aller Probleme nicht so schlecht ist, wie sie wahrgenommen wird. Aber die Franzosen sind, wie internationale Umfragen zeigen, Weltmeister im Pessimismus und neigen zur Schwarzmalerei, was zur teils depressiven, teils durch Wut und Verdrossenheit gekennzeichneten Stimmung im Lande zusätzlich beigetragen hat.

Die gesellschaftliche Misere greift weit über soziale Krisensymptome wie Massenarbeitslosigkeit, Armutsgefährdung und Abstiegsängste[12] hinaus. Es handelt sich auch um eine manifeste Orientierungskrise. Das französische Integrationsmodell, das seit einem Jahrhundert Einwanderern die Chance bot, französische Staatsbürger zu werden, wird aufgrund wachsender Probleme der Integration grundsätzlich in Frage gestellt zugunsten eine Politik der Abgrenzung und des Ausschlusses von Migranten (→Kap. 8.1). Das tradierte Wirtschafts- und Sozialmodell ist seit langem erschöpft, wird aber von vielen Gruppen krampfhaft gegen vermeintliche innere und äußere Feinde verteidigt; das blockiert auch notwendige Veränderungen, die zu seinem Erhalt wichtig wären. Frankreich profitiert von Europa, seine Wirtschaft ist die fünftstärkste der Welt und zählt zu den Gewinnern der Globalisierung. Dennoch hat sich ein Meinungsklima ausgebreitet, das in der offenen Wirtschaft und der europäischen Verflechtung die Ursache aller französischen Probleme sieht und nach Abschottung und Protektionismus ruft. Ähnlich bizarr ist die in Frankreich übliche Verteufelung der Marktwirtschaft und auch vorsichtiger liberaler Reformen als „Ultraliberalismus“ – angesichts einer Staatsquote von über 56 %, eines gut ausgebauten Sozialstaates (→Kap. 7.2) und eines weiterhin vielfältigen Staatseinflusses in der Wirtschaft (→Kap. 4.1) eine absurde Scheindebatte.

Die politische Klasse hat wenig dazu beigetragen, diese Orientierungskrise zu überwinden. Im Gegenteil haben konservative wie sozialistische Regierungspolitiker diese Vorurteile oft genug noch genährt, anstatt gegen sie anzugehen. Sie haben vor allem nicht den Mut und nicht die Kraft aufgebracht, Klartext zu reden und notwendige Reformen vorzunehmen, und das Land damit weiter in die Krise getrieben. Ihr halbherziges Agieren ist zunehmend auf Unverständnis gestoßen. Zusätzlich haben das abgehobene Agieren der politischen Klasse mit ihren Pariser Machtspielen wie auch fragwürdige, ja skandalöse Verhaltensweisen (wie etwa die Scheinbeschäftigung der Ehefrau des konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, die den Staat eine knappe Million Euro gekostet hat) den seit lange schwelenden Vertrauensverlust zwischen den Bürgern und den Institutionen, besonders den Parteien und der Regierung (→Kap. 2.4), weiter verschärft.

Radikalisierung und politische Spaltungen

All dies hat dazu beigetragen, dass die Präsidentschaftswahl zu einer wahren Generalabrechnung der Bürger mit den herrschenden Parteien geraten ist. Zahlreiche führende Politiker wurden schon im Vorfeld gnadenlos abgestraft, allen voran die beiden früheren Präsidenten, der Sozialist François Hollande (er wagte es angesichts desaströser Umfragewerte gar nicht erst, wieder zur Wahl anzutreten) und sein Amtsvorgänger, der Konservative Nicolas Sarkozy (er wurde bei den Vorwahlen der Konservativen deutlich geschlagen). Im ersten Wahlgang schieden dann die Kandidaten der beiden[13] klassischen Regierungsparteien – Sozialisten und die konservativen Republikaner – aus, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung abgelöst hatten: Das hatte es noch nie gegeben.

Vom Versagen der etablierten Parteien profitierten die links- und rechtsextremen Kräfte. Der rechtsextreme Front National erzielte mit 7,6 Millionen Stimmen (21,3 %) im ersten und knapp 11 Millionen (34 %) im zweiten Wahlgang sein historisch bestes Wahlergebnis. Auch der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon konnte mit 19,6 % im ersten Wahlgang sein bisher bestes Ergebnis feiern und zur Demütigung des sozialistischen Kandidaten beitragen, der auf katastrophale 6,4 % abstürzte. Insgesamt haben im ersten Wahlgang über 45 % der Wähler für extremistische Kandidaten gestimmt, die außer Fundamentalopposition, pauschaler Antiglobalisierungspolemik, dezidiert antieuropäischen und teilweise ausländerfeindlichen Parolen keinerlei Lösungsvorschläge zu bieten hatten. Dies zeigt das ganze Ausmaß an politischer Desorientierung, Frustration und Verbitterung in weiten Teilen der Wählerschaft. So zeigt sich die französische politische Landschaft gespalten wie nie zuvor. Zwischen der radikalen Linken, den Sozialisten, den rechtslastigen Konservativen, den Rechtsextremen und der in ihren Konturen noch etwas unklaren Bewegung der Mitte bestehen tiefe Gräben.

Triumph der Mitte?

Angesichts dieser Polarisierung und Radikalisierung der Wähler gleicht es fast einem Wunder, dass ausgerechnet der Kandidat der Mitte, Emmanuel Macron, die Wahl schließlich für sich entscheiden konnte. Auch er war mit einer grundlegenden Kritik am herrschenden Politikbetrieb angetreten, der das Land in den vergangenen Jahren zunehmen gelähmt hatte. Im Unterschied zu den anderen Kandidaten verband er diese Fundamentalkritik mit einem realistischen, gangbaren Programm der Erneuerung. Der 39-Jährige, ein typisches Produkt der französischen Eliteschulen (→Kap. 9.3), ist noch ein Neuling im politischen Geschäft. Als Mitarbeiter von Präsident Hollande im Präsidialamt (2012) sammelte er seine ersten Erfahrungen, bevor er 2014 zum Wirtschaftsminister ernannt wurde. Dort fiel er durch seinen ausgeprägten Reformwillen auf, eckte damit aber bei der Mehrheit der sozialistischen Minister und Abgeordneten an. So war es folgerichtig, dass er 2016 die Regierung verließ und sich mit der von ihm gegründeten Bewegung En Marche! (etwa: Vorwärts!) auf die Präsidentschaftswahl vorbereitete. Macron positioniert sich politisch in der Mitte und plädiert für ein Bündnis der „fortschrittlichen“, reformbereiten Kräfte gegen die „Konservativen“. Er will die in Frankreich bislang vorherrschende Links-Rechts-Polarisierung überwinden, die sich in einem sterilen, feindlichen Gegeneinander erschöpft hat, anstatt nach Kompromissen und Koalitionen zu suchen [14](→Kap. 2.4). Seine Kandidatur war ein doppeltes Wagnis: Bisher wurden alle Kandidaten der Mitte zwischen den dominanten Parteien der Linken und der Konservativen zerrieben – eine unerbittliche Folge des Mehrheitswahlrechts (→Kap. 3.2). Noch nie zuvor ist ein derart junger Kandidat mit vergleichsweise geringer politischer Erfahrung, zudem ohne Unterstützung einer etablierten Partei, in das höchste Staatsamt gelangt.

Eine Herkulesaufgabe

Vor Macron liegt ein schwerer Weg. Die Reformbaustellen sind vielfältig und politisch teilweise hoch explosiv. Die tiefen Risse in der Gesellschaft sind nicht verschwunden. Man hat von den „zwei Frankreichs“ gesprochen: Das Frankreich der ländlichen Regionen und kleinen Städte, der niedrigen Schulabschlüsse, geringen Einkommen und der einfachen sozialen Schichten (Arbeiter, einfache Angestellte) sieht sich als Opfer der Globalisierung und des wirtschaftlichen Wandels. Es hat sich besonders stark für Marine Le Pen, ihren aggressiven Antiliberalismus und ihr Versprechen auf Schutz durch nationale Abschottung ausgesprochen. Dagegen steht das Frankreich der Großstädter, der Akademiker und der gut verdienenden mittleren bzw. höheren Angestellten, das die Zukunft des Landes optimistisch einschätzt. Hier hat Macrons Programm einer offenen Gesellschaft, einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung des Landes und einer Wiederbelebung der Europäischen Union besonders viel Widerhall gefunden. Der Slogan von den zwei Frankreichs ist allerdings überzogen, weil die vielfältigen politischen Spaltungslinien in Wirklichkeit quer durch die sozialen Gruppen und Schichten gehen. Dennoch: Der neue Präsident wird versuchen müssen, die Gräben einzuebnen, die Franzosen wieder ein Stück weit zusammenzuführen, neue Angebote der Teilhabe zu machen, den sozialen und den nationalen Zusammenhalt zu stärken und verlorenes Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Nur so können die Frustrationen, die Resignation und die Bürgerwut in positive Energie umgewandelt werden.

Emmanuel Macrons Vertrauensvorschuss ist nicht groß. Viele Franzosen haben ihn nur gewählt, um Marine Le Pen zu verhindern; seinen Plänen stehen sie mehrheitlich skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. Die verbreiteten Feind- und Zerrbilder seiner zahlreichen Gegner, die ihn als Ex-Banker, kalten Neoliberalen und Vertreter der Reichen ohne soziale Ader dargestellt haben, wirken nach. Die hohe Wahlenthaltung (25,4 %) wie auch die vielen ungültigen Stimmen (11,5 %) zeigen, dass er viele Franzosen erst noch überzeugen muss. Das erfordert eine gut ausbalancierte Politik, die liberale Erneuerung und sozialen Schutz miteinander verbindet. Macron will deshalb die geplanten angebotsorientierten Reformen (Vereinfachung des Arbeitsrechts, Entlastungen für die Unternehmen, weniger bürokratische Auflagen für Klein- und Mittelunternehmen) durch [15]Maßnahmen ergänzen, die die Kaufkraft der breiten Bevölkerung erhöhen (weitgehende Abschaffung der Wohnraumsteuer, Senkung der Arbeitnehmer-Sozialabgaben, Leistungsverbesserungen der Krankenversicherung), den Brennpunktvierteln der Vorstädte neue Perspektiven geben (Halbierung der Klassengrößen in den Grundschulen; mehr Lehrer) und Signale für mehr Beschäftigung aussenden (berufliche Qualifizierung von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen; Reform der beruflichen Bildung). Auch die angestrebte Reduzierung der öffentlichen Ausgaben durch eine effektivere Verwaltung wird durch ein umfangreiches Investitionspaket ergänzt, mit dem wichtige Projekte (berufliche Bildung, Energiewende, Digitalisierung der Wirtschaft) angestoßen werden sollen. Der Präsident braucht möglichst bald sichtbare Erfolge, um die Wähler von seinem neuen Kurs zu überzeugen.

Zunächst einmal benötigt er bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 eine Mehrheit, um seine Politik umsetzen zu können. Denn so stark die Rolle des Präsidenten in der Fünften Republik ist, seine Gestaltungsmacht hängt auch von der Zusammensetzung der Nationalversammlung ab (→Kap. 2). Macrons noch junge Bewegung En Marche! dürfte zwar eine wichtige Rolle in der neuen Nationalversammlung spielen, aber es ist nicht sicher, ob sie eine eigene Mehrheit erringen kann. Wenn nicht, wird sie auf Partner angewiesen sein oder, schlimmer, durch eine oppositionelle Mehrheit blockiert werden. Bei Sozialisten und Konservativen gibt es zwar eine Reihe führender Politiker, die im Prinzip bereit sind, zu notwendigen Reformen beizutragen, aber auch Hardliner, die den neuen Kurs zu verhindern versuchen. Viel wird auch von der künftigen Parteienlandschaft abhängen. Marine Le Pen hat eine Umstrukturierung ihrer Partei angekündigt. Bei den Konservativen ist die Klärung zwischen dem gemäßigten Flügel und den Radikalkonservativen, die oft eine Nähe zum Front National aufweisen, überfällig. Die Sozialisten stehen vor einer Zerreißprobe, von der nicht sicher ist, ob die Partei sie überleben wird: Zwischen dem linken Flügel, der sich im Grunde dem Linksaußen Mélenchon näher fühlte als der eigenen sozialistischen Regierung, und den gemäßigten Sozialdemokraten scheinen die Tischtücher längst zerschnitten. Schließlich steht auch Macrons Bewegung vor der Aufgabe, sich in eine wirkliche Partei zu verwandeln und im Lande stärker zu verankern. Es wird sich also einiges ändern – nichts neues in einem Land, dessen Parteiensystem traditionell durch Instabilität und ständigen Wandel gekennzeichnet ist (→Kap. 3.1).

Risiken und Chancen

Angesichts der verhärteten innenpolitischen Fronten und des vielfachen Widerstands gegen jegliche Veränderungen – ist ein Scheitern des neuen Präsidenten nicht auszuschließen. Es gibt aber auch Argumente für vorsichtigen [16]Optimismus. Denn diese Wahl, die die politischen Karten so gründlich neu gemischt hat, könnte alte Blockaden überwinden, ein Signal der Erneuerung auslösen und Veränderungen anstoßen. In der Politik setzt der bislang jüngste Präsident der V. Republik auf viele neue Gesichter in Parlament und Regierung, dazu auf einen neuen Stil und Verhaltensregeln für die Politiker, um dubiose Praktiken künftig zu verhindern. Auch die Art des Regierens könnte sich verändern. Wenn der Präsident in der Nationalversammlung für Reformkoalitionen werben muss, kann das Parlament eine stärkere Rolle spielen und das bisherige sterile Gegeneinander durch echte Verhandlungen und Kompromisslösungen abgelöst werden. Sollte es Macron gelingen, bisherige Reformblockaden auf diesem Wege zu überwinden, wäre das ein wichtiges Signal des Aufbruchs. Denn so umstritten die Reformen teilweise sind, setzen sie doch an den richtigen Punkten an: Arbeitsmarkt (→Kap. 7.4), Berufsausbildung (→Kap. 9.2), sozialer Dialog (→Kap. 4.2, 8.3), Brennpunktviertel (→Kap. 8.2), Abgaben und Rahmenbedingungen für die Unternehmen (→Kap. 6.5). Sie sind die Voraussetzungen dafür, die Wirtschaft aus ihrer Lethargie zu befreien und eine Trendwende für mehr Wachstum und Beschäftigung einzuleiten.

Schließlich: Trotz aller Probleme ist Frankreich, das ergibt sich aus der Lektüre der nachfolgenden zehn Kapitel, ein Land mit großer Ausstrahlung, zahlreichen Stärken und Potenzialen. Diese warten darauf, aus manchen Fesseln befreit zu werden und sich wieder stärker entfalten zu können. In Politik und Gesellschaft gibt es neben den Vertretern des Status quo auch zahlreiche Kräfte, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Auf sie kann der neue Präsident setzen. Es muss sich noch erweisen, ob seine Entschlossenheit und sein politisches Geschick ausreichen werden, um Frankreich zu reformieren und dem Land die neue Perspektive zu geben, die es so dringend braucht.