[1]

[2]Mythos direkte Demokratie

[3]Eike-Christian Hornig

Mythos direkte Demokratie

Praxis und Potentiale
in Zeiten des Populismus

Verlag Barbara Budrich

Opladen • Berlin • Toronto 2017

[5]Inhalt

Einführung

Kapitel I – Mythos und Gegenmythos in Zeiten des Populismus

Der wachsende populistische Zeitgeist

Konflikt 1: Volk vs. Eliten

Konflikt 2: Sachlichkeit vs. Pluralismus

Die Folgen für die Debatte und das politische Klima

Kapitel II – Die Praxis repräsentativer und direkter Demokratie

Dimensionen der Parteienkrise

Direkte Demokratie und politisches Establishment

Das Problem mit der Sachlichkeit von Politik

Die drei Säulen der Demokratie

Warum das Beispiel Schweiz nicht taugt

Kapitel III – Direkte Demokratie auf Bundesebene – so funktioniert’s

Das Problem: Reformstau durch parteipolitische Blockaden im Bundesrat

Grundbedingungen für weniger kurzfristige Parteitaktik und mehr inhaltliche Orientierung

Das Reformpotenzial von direkter Demokratie: Die drei Haupttypen im Vergleich

Die Zwei-Drittel-Marke als guter Indikator für Parteipolitik

Lösung 1: Obligatorisches Referendum für reguläre Zustimmungsgesetze

Lösung 2: Obligatorisches Referendum bei Verfassungsänderungen

Volksrechte im Bund – kompatibel, produktiv und demokratisch

Ran an die Demokratie, aber richtig

Literatur

Quellen

[6][7]„Die politische Partei wird in Zukunft mehrheitsfähig sein, die Bürgerbeteiligung als demokratisches Zukunftsmodell vorschlägt.“

(Geißler 2014)

[8][9]Einführung

Wir durchleben eine Zeit großer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Unsicherheiten. Die überall bekannten Stichwörter dazu sind Europakrise, Flüchtlingsströme und Bankenrettung. Nach der Aufnahme von mehr als einer Million geflüchteten Menschen im Herbst 2015 sind weite Teile der Bevölkerung in einer Art emotionalem Ausnahmezustand – entweder positiv oder negativ. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird insbesondere für ihre Flüchtlingspolitik nicht nur aus Teilen der Öffentlichkeit, sondern sogar von der eigenen Schwesterpartei CSU scharf angegangen. Seitdem hat die CDU versucht, durch verschiedene Restriktionsmaßnahmen ihren Ruf als Partei von Rechtsstaatlichkeit und innerer Sicherheit wiederherzustellen.

Die Menschen in Deutschland reagieren auf die wachsenden Herausforderungen durch die Internationalisierung von ökonomischen, kulturellen und politischen Bewegungen mit einer zunehmenden politischen Unsicherheit und auch Unzufriedenheit mit der politischen Führung. Schon lange können die etablierten politischen Parteien nicht mehr die Orientierungsfunktion für die Bürgerinnen und Bürger ausüben, wie es früher einmal gewesen ist. Viele Menschen haben sich von den etablierten Parteien abgewandt. Verbunden ist dieser Prozess mit Schlagwörtern wie Politik- und Parteienverdrossenheit oder Entfremdung (auf Englisch auch häufig als „dealignment“ bezeichnet).

Unsichere Zeiten sind zugleich goldene Zeiten für Populistinnen und Populisten. Dies ist weltweit zu beobachten. Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA im November 2016 markiert den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung. Aber auch die Entscheidung der Briten zum BREXIT im Juni 2016 ist wesentlich durch die Rechtspopulisten der United Kingdom Independence Party (UKIP) angetrieben worden. In dem gleichen Fahrwasser sehen sich auch Populistinnen und Populisten in anderen Teilen West- und Osteuropas im Aufwind. Bei uns ist seit einigen Jahren besonders die Alternative für Deutschland (AfD) auf dem Vormarsch. Anfänglich als Anti-Euro-Partei gestartet, ist die Partei längst am rechten Rand angekommen. Ihre Parolen bestehen häufig aus der Ausgrenzung und Diskriminierung von Zugewanderten oder Religionsgruppen, der Verklärung und Verdrehung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland (insbesondere[10] durch Björn Höcke) sowie einer ausgeprägten Islamophobie. Auch Straßenbewegungen wie PEGIDA und ihre verschiedenen Ableger haben in jüngster Zeit einen großen politischen Druck aufgebaut, auch wenn der Rummel um PEGIDA selbst wieder abgeflaut ist.

Zentraler Teil der populistischen Rhetorik ist neben der Ausgrenzung von Minderheiten auch die Diffamierung der politischen Elite, egal ob in Frankreich oder bei uns. So ist z.B. Bundeskanzlerin Angela Merkel besonders auf der PEGIDA-Veranstaltung die Zielscheibe zahlreicher, größtenteils verletzender Kritik. Aber auch Bundesjustizminister Heiko Maas wird wegen seiner klaren Positionierung gegen PEGIDA und gegen rechte Parolen angegangen. Zu hören ist in diesem Zusammenhang häufig der Begriff Volksverräter. Das Wort wurde nicht ohne Grund zum Unwort des Jahres 2016 erklärt. Die etablierten Parteien, so der häufig von Populistinnen und Populisten zu hörende Vorwurf, ignorierten die Wünsche des Volkes und würden nur an eigene (ökonomische) Interessen denken. Gerade in der Flüchtlingsfrage würde demnach der Wille des Volkes ignoriert und die Selbstaufgabe der deutschen Nation, Identität usw. betrieben. Die Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla twitterte sogar, dass das deutsche Volk ausgetauscht werden solle (ZEIT ONLINE 2016). Allein die vermeintlich volksfeindliche Flüchtlingspolitik wird innerhalb und außerhalb der AfD als Beweis dafür gewertet, dass es sich in Deutschland schon lange nicht mehr um eine richtige Demokratie handeln würde.

An dieser Stelle kommt die direkte Demokratie ins Spiel. Die Bundestagswahl 2017 wird eine Richtungsentscheidung über die zukünftige Gestalt des politischen Systems in Deutschland werden. Bleibt es bei der jetzigen repräsentativen Demokratie oder kommt es zur Einführung von weitreichender direkter Demokratie auf Bundesebene? Bekommen wir in Deutschland auch Schweizer Verhältnisse? Lange schon wird hierüber in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft diskutiert, doch der Druck zugunsten von mehr direkter Demokratie war noch nie so groß wie zurzeit und dieser Druck wird bis zur Bundestagswahl 2017 noch zunehmen. Die direkte Demokratie wird von Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten als Gegenmittel gegen die volksfeindliche und selbstsüchtige Politik der Eliten gepriesen. Mit ihr könne sich demnach das Volk (endlich) wieder selbst regieren. Diese Töne haben über die AfD inzwischen auch den Weg in die deutschen Landesparlamente gefunden. Gerade die AfD hat sich dabei das Thema direkte Demokratie[11] ganz groß auf ihre Fahnen geschrieben. Tatsächlich ist die allererste Forderung im Grundsatzprogramm der AfD die Einführung der direkten Demokratie in Deutschland nach dem Vorbild der Schweiz. Dies sei „nicht verhandelbarer Inhalt jeglicher Koalitionsvereinbarungen“ (Alternative für Deutschland 2016: 9). Sollte es jemals zu einer Koalition im Bund unter der Beteiligung der AfD kommen und sollte die Partei dann noch zu ihrem Programm stehen, könnte ein grundlegender Wandel der Politik in Deutschland folgen. Besonders in Kombination mit der Flüchtlingsfrage soll die direkte Demokratie also scheinbar zu einem kräftigen Zugpferd für die AfD bei den kommenden Wahlen, insbesondere bei der Bundestagswahl 2017, werden.

Die Strategie, sich Volksabstimmungen vor den politischen Karren zu spannen kommt nicht von ungefähr. Vor dem Hintergrund der politischen Unsicherheit und Unzufriedenheit bedeutender Teile der Bevölkerung mit der Regierung findet die Forderung nach mehr direkter Demokratie immer mehr Zuspruch, auch ganz unabhängig und schon bevor die AfD auf die politische Bühne trat. Hebt die AfD allerdings die Forderung nach mehr und weitreichender direkter Demokratie im Bundestagswahlkampf auf ihr Schild, kann ihr dies zusätzliche Prozente verschaffen – ganz im Sinne des Eingangszitates von Heiner Geißler: „Die politische Partei wird in Zukunft mehrheitsfähig sein, die Bürgerbeteiligung als demokratisches Zukunftsmodell vorschlägt“ (Geißler 2014).

Angesichts eines wachsenden Protestpotentials in Deutschland, das durch das Flüchtlingsthema noch verstärkt wird, hat die AfD damit eventuell einen Hebel gefunden, um die etablierte Politik unter erheblichen Druck zu setzen. Denn diese wird sich dem „Demokratie-Hammer“ nur sehr schwer erwehren können. Ist mehr Demokratie falsch, nur weil sie von den falschen Leuten gefordert wird? Denn grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Frage nach einer Ausweitung der sogenannten Volksrechte auch Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung wird, ja sogar eines Bundestagswahlkampfes. Schließlich ist es eine relevante Grundfrage, die diskutiert und entschieden werden sollte. Es ist aber schon mehr als klar erkennbar, dass in dieser Auseinandersetzung nur noch ein Zerrbild der direkten Demokratie übrig bleiben wird und die Populistinnen und Populisten von AfD, PEGIDA oder LEGIDA haben daran einen großen Anteil.

[12]Szenenwechsel. In den vergangenen Jahren kam es in Deutschland an ganz anderer Stelle, aber nicht minder intensiv, ebenfalls zu großen Aufwallungen der Volksseele. Überall im Land schossen sogenannte Bürgerproteste aus dem Boden. Sie richteten und richten sich meistens gegen lokale Infrastrukturprojekte. Der für Deutschland berühmteste Fall ist der Konflikt um das Bahnhofsprojekt Stuttgart S21, das monatelang die Medien und die Gemüter dominierte. Davor und danach gab und gibt es aber noch hunderte weitere Konflikte landauf, landab um Flughäfen, Stromtrassen, Windkraftanlagen oder Bahntrassen. Getragen werden die Proteste oftmals von lokalen Bürgerinitiativen. Auch sie fahren im Fahrwasser der allgemeinen politischen Unsicherheit und hauen zum Teil in dieselbe Kerbe wie die Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten, was zunächst etwas gewöhnungsbedürftig klingt. Der Punkt ist folgender: Unter der Oberfläche eines scheinbar harmlosen Bürgerprotestes vermischt sich ausgeprägte Elitenkritik allzu häufig mit einem anti-pluralistischen Bild von repräsentativer Politik. Oftmals wird bei den Bürgerprotesten ein ausgeprägter „Kult des Experten“ gepflegt. Politische Entscheidungen sollen demnach auf der Grundlage von sachlichen Erwägungen getroffen und nicht von Partikularinteressen geleitet werden. In diesem Gegensatz besetzen die Bürgerproteste die Seite der sachlichen Politik für sich, während die (etablierten) Politikerinnen und Politiker und Parteien doch nur Spezialinteressen dienen würden – vor allen Dingen aus der Wirtschaft. Der Punkt ist, dass angeblich allein die Sachlichkeit von Politik zum wirklichen Gemeinwohl führen kann und politische Parteien diesem Gemeinwohl demnach im Wege stehen.

Beide Entwicklungen – Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten und Bürgerproteste – werden zunehmend zu einem Problem für die Diskussion über die direkte Demokratie in Deutschland, auch wenn sie scheinbar ganz unterschiedliche Ziele, Ansprüche und Akteure kennzeichnen. Beide Entwicklungen üben einen starken Druck auf die Debatte über direkte Demokratie aus, der allerdings in die falsche Richtung führt. Direkte Demokratie wird überbewertet und geradezu als elitenfrei, sachlich und demokratischer idealisiert, die repräsentative Politik zugleich verachtet. Mit diesem gemeinsamen Zerrbild tragen beide Bewegungen, trotz aller Unterschiede, zur Mythologisierung von direkter Demokratie bei.

[13]Das griechische Wort Mythos beschreibt ein vielschichtiges soziales Phänomen, das in unserer Alltagssprache eher unreflektiert bleibt, aber dennoch häufig Gebrauch findet. Die Lexikon-Definition übersetzt den Begriff mit Wort, Rede und Erzählung (Zeit-Verlag Bucerius 2005: 191). Dabei weist der Begriff Mythos verschiedene Dimensionen und einen langen historischen Entstehungshorizont auf. Grundlegend ist die philosophische Natur des Mythos als antike „Erzählung (Sage) über Götter, Heroen und Ereignisse aus vorgeschichtlichen Zeiten und die sich darin ausdrückende Weltdeutung“ (Zeit-Verlag Bucerius 2005: 191). Hieraus gehen verschiedene Bindestrich-Mythen hervor, die sich z.B. auf die Entstehung der Götter (theogonischer Mythos), den Wechsel der Jahreszeiten (kosmologischer Mythos) oder aber die Entstehung des Menschen (anthropogonischer Mythos) beziehen. Vereinfacht könnte man sagen, dass aus Mangel an tatsächlichem Wissen über die Entstehungszusammenhänge von Mensch und Natur Mythen als Ersatzerklärungen entstanden sind. Demnach ist ein Mythos „das Resultat einer sich auch noch in der Gegenwart vollziehenden Verklärung von Personen, Gegenständen (z.B. Kunstwerken), Ereignissen und Ideen“ (Zeit-Verlag Bucerius 2005: 192). Mythen spielen in der Soziologie, der Ethnologie, der Anthropologie und der Religionswissenschaft eine Rolle.

Auch im politischen Kontext geht es um Mythen. Im Lexikon der Politikwissenschaft definiert Herfried Münkler einen politischen Mythos als eine prinzipiell vage Großerzählung, die das Potential hat, politische Konstellationen zu beeinflussen bzw. zu steuern (Münkler 2004: 774). Politische Mythen können also durchaus eine Wirkung entfalten. Zwar kann sich ein politischer Mythos auch teilweise mit Ideologien überschneiden, doch kennzeichnet gerade den politischen Mythos der Verzicht auf umfassende Weltdeutungen und das Ungefähre. Sehr verbreitet sind historisch geprägte politische Mythen, etwa über Bismarck, Kaiser Barbarossa oder das Wirtschaftswunder als Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland. Daneben gibt es zukunftsgewandte politische Mythen, die sich etwa auf die Revolution oder den gesellschaftlichen Fortschritt beziehen. Prägend für den politischen Mythos ist weder die historische Wahrheit noch die reale Vorhersagekraft. Münkler beschreibt politische Mythen als ein Wahrnehmungsfilter, „der Störendes verdeckt, überlagert oder marginalisiert“ (Münkler 2004: 775). Anders ausgedrückt sind politische Mythen[14] mehr Dichtung als Wahrheit, in denen Fakten rundgebogen oder sogar ignoriert werden. Verschiedene politische Mythen können parallel und dauerhaft nebeneinander bestehen, wobei nicht alle auch immer klar als Mythen identifiziert werden. Eine Entmythologisierung kann durch Aufklärung und Vernunft erfolgen, bei einem politischen Mythos vor allen Dingen durch politische Bildung. Dies wird allerdings erschwert, wenn es einen expliziten Gegenmythos gibt, aus dem der Mythos einen Großteil seiner Legitimation und Energie zieht. Ein politischer Mythos gewinnt umso mehr an Orientierungsfunktion und Loyalitätsdruck, je stärker er die Negation eines Gegenmythos ist. Als Beispiel nennt Münkler die deutsch-französische Erbfeindschaft. Nur in sehr kleinen Schritten und mit massiven Anstrengungen kam es in den 1960ern zur deutsch-französischen Aussöhnung (Münkler 2004: 775).

Die Debatte um direkte Demokratie in Deutschland wird von einem solchen politischen Mythos beherrscht. Dieser Mythos direkte Demokratie ist weniger ein Stück Erinnerungskultur als eine kontinuierlich bestehende Mär, ein verbreiteter Irrtum, eine unhinterfragte Verklärung davon, wie Volksabstimmungen funktionieren können oder müssen. Ähnlich wie in der Definition von Münkler vereinen sich in der deutschen Diskussion um direkte Demokratie zudem Mythos und Gegenmythos zu einer Symbiose. Im Kern des Mythos direkte Demokratie steht die Überhöhung der Volksrechte als elitenfrei und sachlich und damit demokratischer als die Politik von Parteien, Parlamenten und den gesellschaftlichen Eliten. Die repräsentative Politik wird als interessengeleitet, korrupt und undemokratisch dargestellt. Der Mythos direkte Demokratie hat einen unverkennbar konfrontativen Charakter, der aus seinem Gegenmythos mindestens genauso viel Kraft zieht, wie aus den eigenen demokratietheoretischen Quellen. Erst im Zusammenspiel beider Seiten ist das Gesamtphänomen zu verstehen.

Die Mythologisierung der direkten Demokratie wird in jüngster Zeit durch die erstarkenden Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten sowie die verbreiteten Bürgerproteste massiv verstärkt. Die Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten beklagen die Entmachtung des deutschen Volkes durch die korrupten Eliten. Angesichts der verfehlten Eliten-Politik in Punkte Euro oder Flüchtlinge soll das Volk „endlich“ wieder das Sagen haben; die Politikerinnen und Politiker hätten ja bewiesen, dass sie es nicht könnten. Herangezogen wird als Argument immer die direkte Demokratie in der Schweiz. Dort würde sich das Volk[15] erfolgreich selbst regieren. Warum lässt sich dies nicht auch bei uns in Deutschland einführen? Die wahre Demokratie herrsche nur dort, wo Volkes Wille auch Rechnung getragen werde – so ist zumindest häufig zu hören. Bei den sogenannten Bürgerprotesten wird dagegen der Interessenklientelismus in der repräsentativen Politik gegeißelt und stattdessen eine sachliche Politik gefordert. Politikerinnen und Politiker sollten endlich aufhören zu reden und anfangen zu handeln. Dabei finden sich gerade bei den sogenannten Bürgerprotesten häufig die formal Hochgebildeten. Diese Politikprofis möchten so viel wie möglich politisch selbst, das heißt ohne politische Parteien und Politikerinnen und Politiker und damit vermeintlich sachlich, entscheiden. Direkte Demokratie als ein extra Handlungsraum würde ihnen hierfür die institutionelle Möglichkeit bieten – deswegen ist direkte Demokratie gerade bei diesen Gruppen sehr beliebt.

In der Mythologisierung der direkten Demokratie ist das Muster klar: Direkte Demokratie vereint die guten Eigenschaften der Demokratie und der Menschen, die repräsentative Politik die schlechten. Auf die Schmähung repräsentativer Politik folgt die übertriebene Wertschätzung direkter Demokratie. Die Politik- oder Parteienverdrossenheit wird so nicht bekämpft. Der Mythos direkte Demokratie führt vielmehr zu einer massiven Verzerrung der Wahrnehmung demokratischer Politik in der Öffentlichkeit. In der Realität kann die direkte Demokratie die Wundervorstellungen niemals erfüllen und sollte es zum Teil auch nicht. Durch die Mythologisierung drohen wir ein wahres Verständnis von direkter und repräsentativer Demokratie zu verlieren. Zu eng, vorgezeichnet und vergiftet werden die Bahnen auf denen sich die Debatte über mehr Volksrechte bewegt. Wie der Mythos direkte Demokratie zu einer Einengung der Diskussion führt, zeigt nicht zuletzt die deutsche Fixierung auf die sogenannte Volksgesetzgebung.

Bei der häufig gebrauchten Bezeichnung Volksgesetzgebung, die allerdings irreführend ist, handelt es sich typologisch um eine Gesetzesinitiative – einen der drei Haupttypen der direkten Demokratie. Die anderen beiden sind das Referendum und das obligatorische Referendum. Unter Initiativen versteht man alle Verfahren mit offener Auslösung und Urheberschaft. Sie stehen prinzipiell jedem Akteur als Instrument der politischen Einflussnahme zur Verfügung. Ihre Auslösung hängt von einer bestimmten Hürde von zu erbringenden Unterschriften ab. In den deutschen Ländern lautet die Bezeichnung für[16] diesen Verfahrenstyp Volksbegehren bzw. Volksentscheid. Beim Referendum, als dem zweiten Haupttypen, erfolgt die Auslösung dagegen von „oben“, also in der Regel durch das Parlament oder die jeweilige Regierung. Sie bestimmen allein das Thema und den Zeitpunkt der Abstimmung. Dieser Umstand macht das Referendum bei den Verfechtern von mehr direkter Demokratie sehr unbeliebt. Im Prinzip gehören z.B. die Stuttgart-21- oder die zahlreichen EU-Abstimmungen in anderen Ländern zu diesem Verfahrenstyp. Beim obligatorischen Referendum schließlich liegt die Urheberschaft beim Parlament, doch führt die Berührung bestimmter Themenbereiche durch einen Parlamentsbeschluss automatisch zu einer Abstimmung – sie wird also in einem solchen Fall obligatorisch. Auch dieses Instrument wird von vehementen Anhängerinnen und Anhängern der direkten Demokratie nicht ganz ernst genommen, da die Wählerinnen und Wähler nur „Vorgekautes“ vorgesetzt bekommen. Besondere Aufmerksamkeit bekommen immer wieder obligatorische Abstimmungen über EU-Themen, z.B. in Irland (O’Mahony 2009: 429).

Im Mythos direkte Demokratie steht wie schon erwähnt die Gesetzesinitiative als Verfahrenstyp besonders im Vordergrund. Die Logik ist dabei folgende: Aufgrund der Unzulänglichkeiten der repräsentativen Politik müsse wieder das Volk an die Macht bzw. eine sachliche Politik herrschen. Anders als die Parteien sei das Volk nicht durch Lobbyisten manipulierbar. Durch ihre Unabhängigkeit von Parteien und Parlamenten könne folgerichtig nur die Volksgesetzgebung diese Funktion erfüllen. Hier wirkt schon die Bezeichnung als VOLKSgesetzgebung verführerisch und irrleitend zugleich. Das Referendum und das obligatorisches Referendum werden dagegen oft schon als zu sehr von der repräsentativen Politik und den Eliten manipuliert betrachtet. Zudem wird auf der Grundlage der pauschalen Ablehnung der repräsentativen Politik ein demokratischer Superlativ konstruiert und nur der direkten Demokratie zuerkannt. Aus einer vermeintlichen demokratischen Höherwertigkeit leitet sich im Mythos die Annahme der Unantastbarkeit und Uneinschränkbarkeit direktdemokratischer Entscheidungen durch die repräsentative Politik ab. Was das Volk entschieden hat soll nicht durch Parteien und Parlamente geändert werden dürfen.

Der Mythos ist schädlich, zumal es an das Eingemachte der Demokratie geht. Hier sind Grundauffassungen und Anschauungen über die politische Organisation unseres Gemeinwesens berührt. Wie wollen wir[17] politische Entscheidungen in Zukunft treffen? Wer soll das letzte Wort bei politisch umstrittenen Themen haben? Sollte es unter diesen Umständen zu Volksabstimmungen auf Bundesebene kommen, droht die große Ernüchterung. Der Verdruss vieler Bürgerinnen und Bürger mit der Politik könnte eher noch zunehmen als gemildert und kanalisiert werden. Das Beispiel der Wirren um den Stuttgarter Bahnhof belegt, in welcher Falle direkte Demokratie zeitgleich mit ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufwertung geraten ist. Die repräsentativen Institutionen hatten ihre Entscheidungen getroffen, d.h. das Bahnhofsprojekt war im klassisch repräsentativen Sinne demokratisch legitimiert. Dies wurde aber von den Gegnern des Bahnhofsumbaus als nicht ausreichend angesehen und stattdessen mehr Bürgerbeteiligung gefordert, was de facto eine Forderung nach einem Veto-Instrument war. Nachdem auch die Mediation zu S21 an ihre Grenzen gekommen war, konnte vermeintlich nur noch eine Volksabstimmung helfen. Angespornt durch heftige Kritik an Parteien, Wirtschaft und Polizei waren die Erwartungen an diese Abstimmung aber viel zu groß. Auch andere Beispiele für Volksabstimmungen lassen sich nennen, bei denen ein fader Beigeschmack übrig geblieben ist, z.B. die Brexit-Abstimmung in Großbritannien.

Um direkte Demokratie dennoch konstruktiv gestalten zu können sind Diskussionen und Aufklärung wichtig. Die Enttarnung und Entzauberung des Mythos direkte Demokratie ist zum jetzigen Zeitpunkt besonders notwendig. Volksabstimmungen sind in Deutschland und Europa als Form der politischen Partizipation aktueller denn je. Ihre Einführung bzw. Ausweitung genießt bei vielen Bürgerinnen und Bürgern eine dauerhafte und breite Unterstützung (Infratest Dimap 2010). Besonders im Kontext der Flüchtlings- und Europakrise werden die Forderungen nach mehr direkter Beteiligung an politischen Entscheidungen immer lauter. Genau das nutzen die Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten von der AfD aus. Dass zusätzliche direktdemokratische Legitimation der Politik aber nicht hinderlich wäre (um es mal vorsichtig auszudrücken), wird niemand bestreiten. Das Verlangen an wichtigen Fragen der Politik direkt beteiligt zu werden ist verständlich, zumal es das in anderen europäischen Ländern auch gibt. Bislang verhindert die 2/3-Hürde des Grundgesetzes aber diesen Schritt, da CDU und CSU in der Frage von direkter Demokratie auf Bundesebene dauerhaft blockieren.

[18]Prinzipielle Argumente gegen die Einführung direkter Demokratie ins repräsentative System sind aber kaum stichhaltig. Trotz der schon erwähnten Problemfälle (S21 oder Brexit) gilt der berühmte Satz von John Dryzek: „Wenn Demokratie eine gute Sache ist, dann ist mehr Demokratie vermutlich eine noch viel bessere Sache“ (Dryzek 1996: 475). Die Demokraten sollten sich in ihrem Engagement für mehr direkte Bürgerbeteiligung nicht von den Populistinnen und Populisten die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Kunst ist, das richtige direktdemokratische Verfahren für das jeweilige politische System zu finden. Dafür gilt es eine Reihe von grundlegenden Fragen zu klären. Worin kann der tatsächliche Beitrag von Volksabstimmungen im konkreten politischen Kontext liegen? Wie passen die Volksrechte zu anderen demokratischen Institutionen? Wie ist das Verhältnis von Volksrechten auf der einen Seite und politischen Parteien und Parlamenten auf der anderen Seite? Wem nützt die direkte Demokratie eigentlich am meisten und wem am wenigsten? Welche neuen Probleme handeln wir uns durch weitreichende Volksrechte an anderer Stelle des politischen Systems eventuell ein?

Angesichts der unverkennbaren Erosionserscheinungen der repräsentativen Demokratie muss wieder frischer Wind in die Politik. Die Vitalisierung der Demokratie gelingt aber nicht, wenn diese grundlegenden Fragen nicht beantwortet werden. Konkret für Deutschland muss überlegt werden, wie Volksabstimmungen auf Bundesebene unter den speziellen Gegebenheiten der deutschen Politik am besten funktionieren können. Was ist mit dem Föderalismus? Was ist mit der Parteienstaatlichkeit? Wie muss das Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ausgestaltet sein? Gerade für die Bundesebene bedarf es eines realistischen und passgenauen Konzeptes von direkter Demokratie, um diesen Punkten gerecht zu werden. Kein Arzt käme auf den Gedanken eine Organtransplantation durchzuführen, ohne vorher zu überprüfen, wie das Organ in den neuen Körper passt.

Hinsichtlich der Kompatibilität von direkter Demokratie und repräsentativem System ist in der deutschen Politikwissenschaft in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden. Allerdings bleibt dies in der öffentlichen Debatte durch den Mythos direkte Demokratie weitgehend überdeckt. Entgegen einiger triftiger Gründe, die z.B. Frank Decker vorgelegt hat (Decker 2005: 1139; Decker 2013), ist gegen die Fixierung auf die sogenannte Volksgesetzgebung in der öffentlichen Debatte kein Kraut gewachsen. Ebenfalls nicht einzudämmen ist der [19]Rückgriff auf die Schweiz als eines der Totschlagargumente aus dem Mythos direkte Demokratie. Die Schweizer Erfahrung mit der direkten Demokratie muss immer wieder herhalten, um hierzulande jegliche Forderung nach mehr Volksrechten zu legitimieren. Dass die direkte Demokratie, wie sie heute in der Schweiz besteht, das Ergebnis eines langen und holprigen Lern- und auch Umwandlungsprozesses ist und zudem selbst nicht unumstritten ist, wird nur selten in der deutschen Diskussion hinzugefügt.

Der um sich greifenden Mythologisierung der direkten Demokratie in Zeiten des Populismus soll dieses Buch entgegentreten und die Debatte wieder ein Stück entkrampfen. Mein Antrieb sind Erfahrungen aus vielen Veranstaltungen und Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, Studierenden und sonst wie Aktiven im Bereich der Bürgerbeteiligung. Mir wurde in den vergangenen Jahren deutlich, wie sehr die Wahrnehmung von direkter Demokratie unter einer Schlagseite leidet. Zu hoch hängen die Hoffnungen und Erwartungen, zu sehr wird automatisch der repräsentative Politikbetrieb gescholten. Der Debattenkultur und der Lösung gesellschaftlicher Probleme hilft das nicht. Zu groß ist vielmehr die Gefahr, dass Populistinnen und Populisten die direkte Demokratie vollkommen für sich vereinnahmen und immer weiter aushöhlen. Die Frage ist, wo Parteienkritik berechtigt ist und an welcher Stelle kann direkte Demokratie wirklich ansetzen. Dass bei Parlamenten, Parteien und Verbänden nicht alles Gold ist was glänzt, ist Fakt. In der Kritik ist aber entscheidend, dass wir zu einer Versachlichung der Debatte kommen und zwar sowohl was die direkte Demokratie als auch die repräsentative Politik anbetrifft. Hier setzt das Buch an.

Ich beginne die Ausführungen im ersten Kapitel mit einer Darstellung der Symbiose von Mythos und Gegenmythos direkte Demokratie und lege die Verbindungslinien zu den Populistinnen und Populisten von PEGIDA, AfD&Co einerseits sowie zu den Bürgerprotesten und dem Ruf nach sachlicher Politik andererseits offen. Das zweite Kapitel rückt die Tatsachen über die direkte und repräsentative Demokratie gerade. Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme einer sachlicheren, volksnahen und demokratischen Politik durch mehr Volksrechte. Hierzu greife ich auf verschiedene Daten und Erkenntnisse aus der direktdemokratischen Praxis in Deutschland und Europa zurück. Im dritten Teil des Buches unterbreite und begründe ich schließlich einen neuen Vorschlag für ein passgenaues direktdemokratisches Instrument für[20] die Bundesebene in Deutschland. Es handelt sich um zwei Varianten eines obligatorischen Referendums, die anhand von wissenschaftlichen Überlegungen entworfen und zum Teil schon in entsprechenden Fachzeitschriften vorgestellt wurden1. Durch diesen neuen konzeptionellen Beitrag soll die Debatte in eine andere Richtung gebracht und die tatsächlichen Möglichkeiten einer gezielten Verfahrenskonstruktion dargelegt werden.

Das entworfene obligatorische Referendum ist gezielt so konstruiert, dass es eines der zentralen Funktionsdefizite im deutschen Föderalismus abzustellen hilft: Den Reformstau durch parteipolitische Blockaden im Bundesrat. Stattdessen werden Reformfreudigkeit, Transparenz, Verantwortlichkeit, Politisierung und Legitimation der Politik erhöht. Der obligatorische Mechanismus wird von der starren Bindung an bestimmte Politikfelder gelöst und stattdessen an die Höhe von Zustimmung und Ablehnung von Gesetzesvorlagen im Bundesrat gekoppelt. Trotz der innovativen Verfahrenskonstruktion wird dieses Instrument bei den Anhängern der Volksgesetzgebung wahrscheinlich wenig Begeisterung hervorrufen, da es ihnen vermutlich nicht weit genug geht. Viele sind vom Mythos direkte Demokratie bereits stark geprägt und halten nur die Volksgesetzgebung für die wahre Form der direkten Demokratie. Nach der Lektüre des Buches wird es mit dieser Ansicht vielleicht anders aussehen.

Das Buch ist keine streng-wissenschaftliche Abhandlung, sondern nimmt weitgehend die Form eines Essays an. Allerdings sind die angeführten Argumente aus der wissenschaftlichen Debatte gewonnen und mit empirischen Beobachtungen unterfüttert. Ich greife zum einen auf meine eigenen Forschungsarbeiten über direkte Demokratie zurück. Zum anderen werden Arbeiten deutscher und internationaler Forscher-Kollegen hinzugezogen. Trotz des Fokus auf die Situation in Deutschland spielen auch Vergleiche mit anderen Ländern eine Rolle. Dies ist schon deshalb notwendig, weil keine Betrachtung über die direkte Demokratie am Thema Schweiz vorbeikommt. Aber auch aus der direktdemokratischen Praxis in Italien lassen sich für Deutschland interessante Lehren ziehen, z.B. was die Rolle der politischen Parteien anbelangt.

[21]Selbstverständlich hätten an vielen Stellen noch mehr Argumente für die eine oder andere Perspektive angeführt werden können. Es wurde aber im Sinne der Übersichtlichkeit darauf Wert gelegt, nicht alle Begrifflichkeiten bis ins Detail zu definieren und jeden einzelnen Autor zu dem Thema zu Wort kommen zu lassen, wie es vielleicht anderswo erforderlich wäre. Denn hier wird nicht der Anspruch auf absolute Vollständigkeit oder wissenschaftlicher Präzision verfolgt. Beispielsweise benutze ich die Begriffe „direkte Demokratie“, „Volksrechte“, „direktdemokratische Verfahren“ und „Volksabstimmungen“ weitgehend synonym – wohlwissend, dass sich besonders hinter dem ersten Begriff mehr verbirgt. Wenn man es ganz genau nehmen würde, müsste der Begriff der direktlegislativen Instrumente genutzt werden, um korrekt die Verfahren der Sachentscheidung durch die Wählerinnen und Wähler zu benennen. Eine solche Begriffs-Huberei wird den Leserinnen und Lesern aber erspart. Diejenigen, die mehr Informationsbedarf haben, können zu den angegebenen Quellen greifen und dort ihr Interesse weiter verfolgen. Genug Literatur ist vorhanden (Münch et al. 2014). Zugleich hoffe ich, dass denjenigen, die sonst nicht zur weiterführenden Literatur greifen würde, die Lektüre des Buches als erster Orientierungspunkt dienlich sein kann. Das Buch richtet sich an alle, die an aktuellen Fragen der Politik und der Gestaltung unserer Demokratie interessiert sind. Und genau hierzu müssen wir noch mehr in eine gründliche Diskussion kommen.

Ausführlichere Versionen sind bereits in der Zeitschrift für Parlamentsfragen (Hornig 2011c) und dem Journal für Generationengerechtigkeit (Hornig 2011d) publiziert worden.