Douglass, Sara Die Sternenbraut

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Übersetzung aus dem Englischen von Marcel Bieger

 

ISBN 978-3-492-98403-4

© Sara Douglass 1995

Die australische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Battleaxe. Book One of The Axis Trilogy«, bei HarperCollins Publishers, Sydney 1995

Der vorliegende Roman ist der 1. Teil von »Battleaxe. Book One«

© deutschsprachige Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2002, 2018

Covergestaltung und -motiv: Tanja Winkler

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Die Bände dieses Zyklus sind bedeutenden Historikern gewidmet – A. Lynn Martin, Tim Stretton und Frances Gladwin –, welche die ersten Schrittfolgen ihrer Kollegin in den Sternentanz mit freundlicher Toleranz begleitet haben. Möge Fran dereinst ihre eigene Schlacht mit der Prophezeiung gewinnen, und mögen die Menschen von Achar Lynn und Timm dabei helfen, sich an die Tage der zwölf Monate zu erinnern.

Wenn mein Schicksal mich quält, sollen meine Hoffnungen mir Trost sein.

 

When will the hundred summers die,

And thought and time be born again,

And newer knowledge, drawing nigh

Bring Truth that sways the soul of men?

Here all things in their place remain

As were all order’d, ages since.

Comme, Care and Pleasure, Hope and Pain,

And bring the fated fairy Prince.

Alfred Lord Tennyson,

The Sleeping Palace

DIE PROPHEZEIUNG DES ZERSTÖRERS

Es werden erblicken das Licht der Welt

Zwei Knaben, blutsverbunden.

Der eine, im Zeichen von Flügel und Horn,

Wird hassen den Sternenmann.

Im Norden erhebt der Zerstörer sich,

Treibt südwärts die Geisterschar.

Ohnmächtig liegen Mensch und Flur

In Gorgraels eisigem Griff.

Um der Bedrohung zu widersteh’n,

löst das Lügengespinst um den Sternenmann,

Erweckt Tencendor und lasst endlich ab

Von dem alten, unseligen Krieg.

Denn wenn es Pflug, Flügel und Horn nicht gelingt,

Die Brücke zum Verstehen zu finden,

Wird Gorgreal, folgend seinem Ruf,

Zerstörung über euch bringen.

 

Sternenmann, hör mir gut zu!

Deine Macht wird dich töten,

Solltest du sie im Kampf einsetzen,

Eh’ sich erfüllt, was geweissagt ist:

Die Wächter werden auf Erden wandeln,

Bis Macht ihre Herzen verdirbt.

Abwenden wird sich ein Mädchen voll Gram

und entdecken die Alten Künste.

Ein Weib wird selig umfangen des Nachts

Den Mann, der den Gatten erschlug.

Uralte Seelen, längst schlummernd im Grab,

Im Land der Sterblichen werden sie singen.

Die erweckten Toten gehen schwanger

Und werden das Grauen gebären.

Eine dunklere Macht wird sich erweisen

als Bringer des Heils.

Und strahlende Augen von jenseits des Wassers

Erschaffen das Zepter des Regenbogens.

 

Sternenmann, hör zu, denn ich weiß,

Mit diesem Zepter vermagst du

Gorgrael in die Knie zu zwingen,

Sein Eis zu zerbrechen.

Aber selbst mit der Macht in Händen

Wird dein Weg niemals gefahrlos sein.

Ein Verräter des eigenen Lagers

Wird sich wider dich verschwören.

Verdränge den Schmerz der Liebsten,

Nur so entgehst du dem Tod.

Hass heißt die Waffe des Zerstörers.

Doch hüte dich, es ihm gleichzutun.

Denn Vergebung ist der einzige Weg,

Tencendors Seele zu retten.

PROLOG

Die Frau kämpfte sich durch den kniehohen Schnee, und das Bündel Altholz auf ihrem Rücken wog fast so schwer wie das Kind, das sie im Leib trug. Rasselnd verließ der Atem ihren Mund, um dann sofort im bitterkalten Südwind zu gefrieren. Klein und stark stapfte sie vorwärts. An ihren Schultern und Beinen wölbten sich die Muskeln, die sie in achtundzwanzig Jahren Überlebenskampf in ihrer rauhen Heimat mühsam erworben hatte. Früher hatte sie sich stets auf die Hilfe und den Beistand ihres Volkes verlassen können. Doch nun war sie allein, und dieses neue Kind, ihr drittes, würde sie gebären müssen, ohne jemanden zur Seite zu haben.

Dies sollte ihr letzter Marsch durch das Tal sein. Die schweren Winterstürme der letzten Wochen hatten sie in ihrer Unterkunft festgehalten, ihr mit Frost und Eis den Weg nach draußen unmöglich gemacht und ihren wertvollen Vorrat an heiß brennendem Zeitholz nahezu aufgezehrt. Sollten der Frau das Holz und die Trockenvorräte ausgehen, müßte sie sterben; und ihr Kind mit ihr. Erst gestern hatte das Wetter sich ausreichend beruhigt, so daß die Frau aufbrechen und sich durch den Schnee zu den Zeitholzbäumen vorarbeiten konnte. Mittlerweile war der Wind wieder aufgefrischt, und der Schnee fiel dichter. Sie wußte, daß ihr nur noch wenig Zeit blieb, ihre Unterkunft zu erreichen. Das Wissen darum, daß sie sich nach der Geburt ihres dritten Kindes erst einmal nicht weit fortbewegen könnte, trieb sie zusätzlich an.

Obwohl die Frau sich aus freien Stücken für dieses Leben in Einsamkeit entschieden hatte, nagte doch die Sorge an ihrer Seele.

Und die Unruhe um ihr Kind plagte sie. Die beiden vorangegangenen Schwangerschaften hatten ihr große Pein bereitet, vor allem in den letzten Wochen. Doch die Frau hatte ihre Kinder dann doch ohne viel Jammern und Klagen zur Welt gebracht. Ihr Körper hatte sich danach rasch erholt und war stets sauber verheilt. Aber bei dem neuen Säugling fürchtete sie die Wehen mehr als den einsamen Winter, der ihr bevorstand. Ein ungewöhnlich großes Kind … und sehr wütend. Nachts, wenn sie zu schlafen versuchte, trat und schlug es manchmal so zornig mit den Füßen und Fäusten gegen die Wände ihres Leibes, daß sie vor Schmerzen stöhnte und sich in dem vergeblichen Bemühen, dem Wüten des Kindes zu entgehen, von einer Seite auf die andere warf.

Die Frau hielt kurz inne, um die Holzlast auf ihrem Rücken geradezuschieben. Sie wünschte, sie könnte das Gewicht des ungeborenen Kindes ebenso leicht verlagern. Letzte Nacht hatte es sich bis ganz nach unten geschoben, so als suche es den Geburtskanal. Die Niederkunft schien unmittelbar bevorzustehen. Vielleicht schon heute abend, spätestens aber morgen. Die Frau spürte, wie ihre Beckenknochen bei jedem Schritt vom Druck des Säuglingskopfes auseinandergeschoben wurden. Das Gehen bereitete ihr immer mehr Mühe.

Sie spähte über den Schnee zu der dichten Reihe der Nadelhölzer, die sich dreihundert Schritte vor ihr erhob; sie hatte die Unterkunft nach bestem Vermögen errichtet. Abgeschirmt von den hohen Stämmen, befand sich das Lager an der windabgelegenen Seite eines felsigen Hügels, dessen Kuppe über die Wipfel hinausragte. Diese Kuppe bildete die erste Erhebung eines langen Höhenzugs, der auf die fernen Eisdachalpen zulief. Schon lange bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte, hatte die Frau sich von Freunden und Familie davongestohlen und war durch den Awarinheimwald gewandert, bis sie diese einsame Stelle gefunden hatte, die weit nördlich von ihrer Heimat lag. Vom ersten Herbstmonat an, dem Totlaubmond, hatte die Frau ihre Tage damit zugebracht, so viele Beeren, Nüsse und Samenkörner wie nur möglich zu sammeln. Doch sosehr sie auch suchte, sie hatte nur geringe Mengen von Malfari gefunden, jenen süßen und faserigen Knollen, die ihr Volk für gewöhnlich über den Winter brachten. So hatte die Frau sich gezwungen gesehen, immer wieder nach draußen zu gehen. Und die Furcht davor, ihr Kind und sich selbst nicht ausreichend zu ernähren, hielt sie nächtens wach. Die Reste einiger abgemagerter Kaninchen, die sie in Streifen geschnitten und getrocknet hatte, stellten ihren gesamten Fleischvorrat dar. Die Frau seufzte und rieb sich gedankenverloren den Bauch. Während sie versuchte, die grimmigen Schmerzen in den Beinen und im Unterleib nicht zu beachten, sehnte sie sich verzweifelt nach ein paar Hühnern oder einer Ziege, um ihren Speiseplan zu erweitern.

Sie hätte gar nicht erst versuchen sollen, dieses Kind auszutragen. Wenn die Frau bei ihrem Volk geblieben wäre, hätte man ihr das auch nicht erlaubt. Dies war ein Beltidenkind, empfangen während der ausschweifenden Gelage des Frühlingsfestes. Die Zeit, da ihr Volk, die Waldbewohner, in den Hainen, wo Berge und Forst zusammentrafen, mit den Menschen von den Eisdachalpen zusammenkamen. Dort begingen sie das Wiedererwachen des Lebens zur Tauzeit mit religiösen Feiern, und denen folgte unweigerlich das Gelage. Man trank buchstäblich alle Weinkrüge leer, die von den langen Winternächten übriggeblieben waren, die man nicht in heimeliger Runde am brennenden Kamin verzecht hatte. Und in der Beltidennacht ging es regelmäßig hoch her, waren dies doch die einzigen Stunden im Jahr, da beide Völker in ausreichend weinselige Stimmung gerieten, um sich einander so nahe zu kommen, wie man sich dies an anderen Tagen nicht vorstellen konnte.

Während der letzten drei Beltiden war er der Frau aufgefallen, und von Mal zu Mal hatte sie ihn mehr gewollt. Wie in jedem Jahr stieg er auch in diesem Jahr mit seinem Volk zu den Hainen herab. Seine Haut war so hell und fein wie die Eisgewölbe seiner Heimat, und sein Haar glich dem goldenen Sommerschein der Sonne, die von beiden Völkern angebetet wurde. Als mächtigster Zauberer seines Volkes führte er zusammen mit den Beschwörern der Waldläufer die religiösen Feierlichkeiten durch. Die Macht und Zauberkunst dieses Mannes hatten die Frau schon immer sehr beeindruckt und auch etwas geängstigt, aber seine Erfahrung, sein gutes Aussehen und seine Anmut bewunderte sie. Bei der letzten Beltidennacht vor acht Monaten hatte die Frau genug Wein getrunken, um alle Hemmungen abzustreifen und Mut zu gewinnen. Sie zog immer noch die Blicke der Männer auf sich, stand auf dem Gipfel ihrer Schönheit und körperlichen Reife, und ihr dichtes nußbraunes Haar fiel ihr in Wellen den Rücken hinab. Als der Zauberer sah, wie sie über die Lichtung auf ihn zukam, kniff er erst die Augen zusammen und riß sie dann weit auf. Aber er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. Sein Blick hielt den ihren fest, sie nahm seine Finger in die ihren und genoß es, wie samtig weich sie sich anfühlten – ganz im Gegensatz zu ihren von der Arbeit schwielig gewordenen Händen. Für einen Zauberer besaß er sehr viel Wärme und Freundlichkeit. Er flüsterte ihr auch zärtliche Worte zu, ehe er sie zu einer abgelegenen Stelle unter den funkelnden Sternen führte.

»Sternenströmer«, hatte die Frau geflüstert und sich mit der Zunge über die spröde Haut ihrer Lippen geleckt.

Der Schnee, der in den letzten Stunden leicht gefallen war, kam nun in immer dichteren Flocken herunter. Die Frau riß sich aus ihren Tagträumereien und mußte feststellen, daß sie durch das wirbelnde Weiß die Baumreihe kaum noch erkennen konnte. Sie mußte sich beeilen. Das Kind zog sie nach unten, und sie geriet ins Taumeln, als sie schneller vorwärtszukommen versuchte. Seine Hände waren stark und sicher über ihren Körper gefahren, und da hatte es sie nicht verwundert, daß ihr Leib unter diesen Berührungen sein Kind empfangen wollte. Ein Kind von einem Zauberer wäre etwas Erstaunliches und Ungewöhnliches. Beide Völker begrüßten zwar die Feierlichkeiten und duldeten auch die Gelage und die gemischten Paare, die sich in der Beltidennacht fanden. Aber ein daraus entstehendes Kind wurde sowohl von den Baumals auch den Bergmenschen als etwas Widernatürliches angesehen. Ihr Leben lang hatte die Frau miterlebt, wie vier bis sechs Wochen nach dem Fest einige Frauen hinaus in den Wald gingen und dort die nötigen Kräuter suchten, um ihren Körper von der Frucht zu befreien, die sie in jener Nacht empfangen hatten.

Doch irgendwie hatte die Frau es nicht über sich gebracht, den dampfenden Sud zu trinken, den sie sich immer wieder kochte. Endlich hatte sie beschlossen, das Kind in ihrem Bauch auszutragen. Wenn der Säugling erst einmal das Licht der Welt erblickt hätte und die anderen sehen könnten, daß er genau so aussah wie alle anderen auch, würden sie ihn auch annehmen. Bei einem Kind von diesem Zauberer konnte es sich um keine Widernatürlichkeit handeln; es würde, da es einen Magier zum Vater hatte, nur schöner und mächtiger als andere Kinder sein.

Doch dazu mußte die Frau die letzten Monate ihrer Schwangerschaft allein verbringen, sonst hätte ihr Volk sie gezwungen, das Kind aus dem Leib zu entfernen. Und heute fragte sie sich, ob der Kleine wirklich so prachtvoll werden würde, wie sie ursprünglich geglaubt hatte; oder ob sie nicht vielleicht einen Fehler begangen hatte.

Die Frau biß die Zähne zusammen, um der Pein zu widerstehen, und zwang die Füße, einen Schritt nach dem anderen durch die Schneewehen zu setzen. Sie würde es schaffen. Ihr blieb auch gar nichts anderes übrig; denn sterben wollte sie nicht.

Plötzlich schwang ein eigenartiges Wispern im Wind mit, der immer stärker blies.

Sie blieb stehen, und jede Faser in ihrem Körper schien sich in flüssiges Feuer zu verwandeln. Die Frau schob sich mit den behandschuhten Händen eine feine Strähne aus dem Gesicht, spähte angestrengt in das Halbdunkel und lauschte auf alles Ungewöhnliche.

Da war es wieder. Ein leises Flüstern, herangetragen vom Wind … wie ein Wispern mit Schluckauf … Skrälinge!

»O nein«, stöhnte die Frau, und Furcht klumpte ihr den Magen zusammen. Nachdem sie für ein paar Momente wie erstarrt im Schnee gestanden hatte, zerrte sie an den hinderlichen Gurten, mit denen das Holzbündel am Rücken befestigt war. Sie mußte die Last unbedingt loswerden. Ihre einzige Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, bestand darin, schneller als die Skrälinge zu laufen. Sie mußte die Bäume vor ihnen erreichen. Im Wald gefiel es ihnen nicht.

Aber in ihrem hochschwangeren Zustand konnte sie nicht rennen. Und erst recht nicht mit einem so zornigen Kind im Leib.

Endlich hatte sie die Gurte von den Schultern gelöst, und das Holz fiel um sie herum zu Boden. Sofort ging sie los, stolperte schon nach den ersten Schritten und fiel der Länge nach hin. Der Aufprall traf sie hart, preßte ihr die Luft aus der Lunge, und sie spürte einen stechenden Schmerz im Bauch. Der Säugling trat wütend um sich.

Der Wind trug wieder das Wispern heran. Und es klang schon viel näher.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als hilflos im Schnee herumzurudern, verzweifelt zu versuchen, wieder zu Atem zu kommen und am trügerischen Boden nach einem Halt für die Hände oder einem Tritt für die Füße zu suchen.

Leises, gluckerndes Lachen, das sich im pfeifenden Wind nur matt vernehmen ließ, ertönte wenige Schritte links von ihr.

Die Frau schluchzte jetzt vor Angst, kam irgendwie wieder hoch und hatte keinen anderen Wunsch, als die Sicherheit des Waldes zu erreichen.

Schon nach zwei Schritten hörte sie wieder das Flüstern, diesmal unmittelbar hinter ihr. Sie wollte schon schreien, aber das Kind trat ihr so unvermittelt und heftig ins Zwerchfell, daß ihr ebenso wie zuvor nach dem Sturz die Luft wegblieb.

Und dann, um so entsetzlicher, erklang das Wispern vor ihr.

»Schönchen, Schönchen … Lecker, lecker …« Das formlose Gesicht des geisterhaften Wesens tauchte für einen Moment im fahlen Licht auf. Seine silbrigen großen Augen glühten so intensiv, daß es der Frau durch Mark und Bein ging, und seine zahnbewehrten Kiefer waren fraßlüstern geöffnet.

Danach fand sie Luft genug, um einen Schrei auszustoßen. Der Laut zerriß das Dämmerlicht, und sie stolperte verzweifelt nach rechts, kämpfte sich durch den Schnee und ruderte mit den Armen, um die Feinde abzuwehren. Dabei schwante ihr längst, daß sie schon so gut wie verloren war. Die Wesen nährten sich ebenso von Furcht wie von Fleisch, und in dem Maße, wie ihre Angst stärker wurde, wuchsen auch die Geister. Sie spürte, wie alle Kraft sie verließ. Schon bald würden die Wesen sie jagen, sie verhöhnen und alles aus ihr heraussaugen, bis selbst das Entsetzen vergangen wäre. Und dann würden sie sich über ihren Leib hermachen.

Das Kind wütete in ihrem Bauch, als wolle es dem Gefängnis ihres armseligen, zum Untergang verurteilten Körpers entkommen. Und dennoch mühte die Frau sich weiter voran. Der Säugling hieb mit Fäustchen, Füßchen und Ellenbogen um sich. Jedesmal, wenn das schreckliche Wispern der Geister ihn durch das Fruchtwasser erreichte, wand er sich stärker und hieb noch zorniger um sich.

Auch wenn der Frau nur zu bewußt war, wie schlecht es um sie stand, trieb der kreatürliche Überlebenswille sie doch voran. Weiter schob sie sich durch die Schneewehen, bei jedem Schritt keuchte und schnaufte sie, und ständig hinderten Krämpfe sie am Vorwärtskommen, weil der Säugling wieder gegen die Mauern seines Gefängnisses trat. Doch mittlerweile hatte der Drang zu entkommen das Kind ebenso stark erfaßt wie seine Mutter.

Die fünf Wesen hielten sich noch etwas zurück und ergötzten sich an der Furcht der Frau. Sie mußten sich nicht beeilen, denn die Beute war ihnen gewiß. Doch seltsamerweise zuckte die Frau mitten im Schritt zusammen, drehte sich um sich selbst und fiel zu Boden. Dort wand sie sich und hielt sich den auf und ab schwellenden Leib. Diese unerwartete Entwicklung verblüffte die Geister. Sie verlangsamten ihre Schritte, um nicht in die Beute hineinzurennen, und umzingelten sie in so weitem Abstand, daß sie den schlagenden Armen entgingen.

Die Frau schrie. Ein Laut, der aus den Tiefen ihres Leibes zu kommen schien und so voller Entsetzen war, daß die Wesen vor Verzücken stöhnten.

Sie wandte sich an den nächsten Geist und streckte eine Hand aus, um Gnade zu erlangen. »Hilfe«, ächzte sie, »so helft mir doch, bitte!«

Nie zuvor hatte jemand die Skrälinge um Hilfe gebeten. Verwirrt umkreisten sie die Beute. Hatte sie am Ende keine Angst mehr vor ihnen? Das konnte doch nicht sein! Zitterte nicht jedes Wesen aus Fleisch und Blut vor ihnen? In Gedanken verständigten sie sich miteinander, und schon stellte sich ihnen die Frage, ob sie sich nicht langsam fürchten sollten.

Die Frau zuckte heftig zusammen, und der Schnee um ihre Beine und ihren Bauch färbte sich hellrot.

Der Geruch und der Anblick frischen Bluts verfehlte seine Wirkung auf die Wesen nicht und gab ihnen ihre Gewißheit zurück. Diese Beute würde rascher sterben, als sie anfänglich erwartet hatten. Ganz von selbst. Und ohne Zutun ihrer scharfen, spitzen Klauen und Zähne. Schade eigentlich, aber ihr Fleisch würde ihnen immer noch munden. Die Geister trieben im eisigen Wind um die Frau herum und beobachteten sie. Sahen zu und verfolgten ihr Tun.

Nach einer Weile stöhnte die Beute leise auf und lag dann ganz still da. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren, die Augen standen offen und wirkten glasig, und die Hände öffneten sich langsam.

Die Wesen hüpften auf und ab, während der Sturm durch sie hindurchfuhr, und berieten sich. Die Jagd hatte doch so vielversprechend begonnen, und die Beute hatte sich gefürchtet, wie man es von ihr erwarten durfte. Doch jetzt war sie auf unerklärliche Weise gestorben.

Der mutigste unter den Fünfen schwebte auf die Frau zu und betrachtete sie schweigend. Doch schließlich konnte er dem süßlichen Geruch des Blutes nicht länger widerstehen. Er beugte sich hinab, um mit seiner geisterhaften Klauenhand an den Lederriemen des Langhemds zu zerren. Nach einer Weile lösten sie sich, und der mutige Geist erlebte eine solche Überraschung, daß er rasch in den schützenden Kreis seiner Kameraden zurücksprang.

Mitten in der blutigen Masse, die einmal der Bauch der toten Frau gewesen war, lag ein Kind und starrte die Wesen trotzig an. Haß schien aus jeder seiner Poren zu strömen.

Der Säugling hatte sich nach draußen gefressen!

»Ooooh!« seufzten die Geister entzückt, und der Mutigste wagte sich wieder vor, um das bluttriefende Kind hochzuheben.

»Es haßt«, verkündete er den anderen. »Spürt ihr es auch?«

Die anderen kamen näher, und so etwas wie Zuneigung zeigte sich in ihren trüben Augen.

Der Säugling wandte ihnen das hauerbewehrte Gesicht zu und starrte sie wieder zornig an. Er rülpste, und schaumige rote Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln.

»Aaaah!« seufzten die Skrälinge und drängten sich um das Kind. In ihren Gedanken trafen sie eine spontane Entscheidung. Sie würden den Säugling zu sich nehmen. Ihn ernähren und ihn lieben lernen. Und irgendwann in der Zukunft, die noch so weit entfernt lag, daß sie die Jahre nicht zählen konnten, würden sie das Kind anbeten.

Doch jetzt hatten sie erst einmal Hunger, und gutes Futter ließ man nicht einfach liegen. Ungeachtet der späteren Verehrung warfen sie das Kind in den Schnee, wo es vor Wut schrie, während sie selbst sich über die tote Mutter hermachten.

Sechs Wochen danach …

Jenseits des Gebirges stapfte eine andere Frau, die sich in Rasse und Umständen von der ersten unterschied, durch die Schneewehen an den westlichen Hängen der Eisdachalpen.

Sie stürzte schwer über einen vom Schnee verborgenen Stein, und als sie nach einem Halt suchte, riß sie sich auch noch den letzten Nagel von ihren einst weichen weißen Händen ab. Die Frau drängte sich an den überfrorenen Fels, saugte an dem Finger, stöhnte verzweifelt und kämpfte angesichts der Kälte und der Schwere ihres Herzens mit den Tränen. Einen Tag und eine Nacht lang hatte sie mit allen Kräften versucht, am Leben zu bleiben – seit der Stunde, da man sie hier in dieser Ödnis ausgesetzt hatte. Die Berge brachten selbst dem kräftigsten und erfahrensten Jäger den Tod, und erst recht ihr, die von der schrecklichen Geburt vor zwei Tagen noch sehr geschwächt war, als sie einen Sohn zur Welt gebracht hatte.

Trotz aller Strapazen, die sie auf sich genommen hatte, und trotz aller Gebete, Tränen und Flüche war der Säugling bei der Geburt gestorben. So reglos und blau verfärbt hatte er ausgesehen, daß die Ammen ihn auf der Stelle fortgeschafft hatten. Die Mutter hatte ihn nicht einmal halten und um ihn weinen können.

Kaum hatten die Ammen ihre Kammer in aller Hast verlassen, traten zwei Männer ein. Bedachten sie mit kaltem, zornigem Blick, sprachen sie mit Abscheu an und schleiften die weinende und blutende Frau aus dem Raum. Hatten sie aus ihrem Leben voller Bequemlichkeit und Hochachtung gerissen, auf einen elenden Holzkarren geworfen und sie noch am selben Tag hinaus an den Fuß der Eisdachalpen gefahren.

Und an diesem Ort hatte man die Mutter ohne viel Aufhebens vom Karren gestoßen. Fraglos wünschte man ihren Tod, aber die Männer scheuten davor zurück, die Hände mit ihrem Blut zu besudeln. Deshalb hatten sie sich wohl für diesen Weg entschieden. Ohne Zweifel würde die Frau an diesem öden Ort einen langsameren Tod erleiden. Sei es durch die Unaussprechlichen, die hier durch die Felsen schlichen, sei es durch Kälte und Eis. Gleichwie, der Frau würde genug Zeit bleiben, um über ihre Schande nachzudenken, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt zu haben … ein totes uneheliches Kind!

Aber die Frau nahm sich fest vor, nicht hier draußen zugrunde zu gehen. Eine Hoffnung besaß sie noch, eine einzige. Sie müßte höher ins Gebirge hinaufsteigen. Auch wenn sie kaum dem Mädchenalter entwachsen war und nicht mehr als Lumpen am Leib trug. Doch würde ihr starker Wille sie dazu zwingen, am Leben zu bleiben.

Schon in den ersten Stunden fühlten sich ihre Füße wie Eis an, und sie spürte sie nicht mehr. Die Zehen hatten sich schwarz verfärbt, und an den Fingerkuppen hatte sich Eis gebildet. Sie schienen sich ebenfalls zu schwärzen. Die trockenen Lippen hatten sich von den Zähnen zurückgezogen und waren zu einem gespenstischen Lachen erstarrt.

Die Frau kauerte sich unter einen Fels. Voller Hoffnung und Entschlossenheit hatte sie den Aufstieg begonnen, doch jetzt mußte sie sich trotz ihres starrköpfigen Überlebenswillens eingestehen, daß ihre Lage aussichtslos war. Vor langem schon hatte sie aufgehört, vor Kälte zu zittern. Ein sehr schlechtes Zeichen.

 

Das Wesen beobachtete die Frau nun schon seit Stunden. Verfolgte voller Neugier, was sie trieb. Es hockte hoch oben auf den Hängen des Bergs und spähte aus Augen hinunter, die noch auf fünf Meilen eine Maus sich kratzen sahen. Nur der Umstand, daß die Menschin sich genau auf seinen Tagesruheplatz zu bewegte, brachte das Wesen dazu, sich überhaupt zu rühren. Es spreizte die Federn in der eisigen Luft, breitete die Schwingen aus und erhob sich, verärgert über die Störung, in die Lüfte. Viel lieber hätte das Wesen den Tag damit verbracht, sich in der schwachen Sonne das Gefieder zu putzen; denn es war ein eitles Geschöpf.

 

Die Mutter sah den Flieger hoch über sich. Während sie in die Sonne äugte, versperrten ihr graue Wölkchen die Sicht.

»Sternenströmer?« flüsterte sie, und neue Hoffnung erfüllte ihr Herz und ihre Stimme. Langsam und zögernd hob sie eine schwarze Hand in den Himmel. »Seid Ihr es?«

1 DER TURM DES SENESCHALLS

Neunundzwanzig Jahre später …

Der gefleckte blaue Adler trieb hoch über den Hoffnungen und Taten der Menschen am Himmel. Mit seiner Flügelspannweite von Mannsgröße schwebte er träge auf den Aufwinden, die von den riesigen Binnenebenen des Königreichs Achar emporstiegen. Unmittelbar unter dem Tier erstreckte sich die silbrig blaue Weite des Gralsees, der sich in den großen Strom Nordra ergoß. Dieser wiederum schlängelte sich durch das Land Achar auf das Meer von Tyrre zu. Der See breitete sich nach allen Seiten weit aus, und es lebten Fische in Hülle und Fülle darin. Der Adler fand hier stets genug Nahrung. Doch noch mehr als zu den Flossenträgern trieb es ihn zu den Abfallhaufen der am See gelegenen Stadt Karlon. So sauber und rein die uralte Stadt mit ihren rosafarbenen und altweißen Steinwällen sowie den goldund silbergedeckten Dächern auch sein mochte, so hübsch und schmuck die Zehntausende von Bannern, Wimpeln und Fahnen auch aussahen, die im Wind flatterten, die Karloniter aßen und verdauten ebenso wie alle anderen Geschöpfe. So ernährten die Müllgruben vor der Stadt zahllose Mäuse und Ratten, und diese wiederum dienten Tausenden von Adlern und Falken als Nahrung.

Der große Vogel hatte sich schon früh am Morgen ausreichend gesättigt, und nichts drängte ihn danach, sich jetzt schon wieder den Bauch vollzuschlagen. So ließ er sich ostwärts über den Gralsee treiben, bis er die Stelle erreichte, wo der weißgekälkte siebenseitige Turm des Seneschalls über hundert Schritt hoch in den Himmel ragte, um die Sonne zu begrüßen.

Hier verlagerte der Vogel sein Gleichgewicht, stellte die Flügel senkrecht und bog langsam nach Norden ab, um dort ein schattiges Plätzchen für den Nachmittag zu suchen. Der Adler war alt, weise und erfahren. Daher wußte er, daß er sich in diesem fast baumlosen Land wahrscheinlich wieder auf irgendeinem Bauernhof mit der Regenrinne eines Schuppens zufriedengeben müßte.

Auf dem Weg dorthin dachte der Aar über die Gedanken und Taten der Menschen nach, die Bäume so sehr fürchteten, daß sie fast alle Wälder abgeholzt hatten, die einst dieses weite Land dicht bedeckt hatten. Denn so verlangten es von ihnen Axt und Pflug.

 

Tief unter dem sinnenden Adler lief Jayme in seiner Kammer in den oberen Stockwerken des Seneschallturms auf und ab.

»Diese Neuigkeiten sind höchst beunruhigend«, murmelte der Bruderführer der religiösen Bruderschaft des Seneschalls und damit oberster Vermittler zwischen dem guten Gott Artor dem Pflüger und den Herzen und Seelen der Achariten. Tiefe Sorgenfalten durchzogen sein gütiges Gesicht. Jahrelang hatte er sich geweigert, das Amt anzutreten, mochten seine Mitbrüder ihn noch so sehr drängen. Heute, fünf Jahre nachdem er sich endlich ihren Wünschen gebeugt und eingesehen hatte, daß es Artors eigener Wille war, ihn auf dem Vermittlerstuhl zu sehen, plagten ihn grundlegende Sorgen. Vielleicht wäre gerade er es, der den Seneschall – nein, das ganze Reich – durch dessen größte Krise seit tausend Jahren führen mußte.

Jayme blieb stehen und schaute aus dem Fenster. Obwohl der Todlaubmond gerade erst begonnen und den Herbst eingeläutet hatte, wehte schon seit Tagen ein frostiger Wind. Man mußte bereits die Fensterläden geschlossen halten, um die Kälte auszusperren. Ein Feuer prasselte in der mit gesprenkeltem Marmor verkleideten Feuerstelle hinter seinem Schreibtisch, und das Licht der Flammen hob die goldenen Verzierungen am Stein hervor, ebenso wie das Silber, das Kristall und das Gold auf dem Kaminsims.

Der jüngere seiner beiden Gehilfen trat vor. »Glaubt Ihr denn, Bruderführer, daß die Berichte der Wahrheit entsprechen?«

Der oberste Vermittler wandte sich vom Fenster ab, um Gilbert zu beruhigen. Der junge Bruder schien noch dazu zu neigen, allzuleicht in Panik zu geraten. Aber wer wußte schon, ob ein solcher Hang ihm in den nächsten Monaten nicht noch von Nutzen sein könnte? »Mein Sohn, so viele Generationen sind vergangen, seit jemand zuverlässig Unaussprechliche gesehen hat. Wer vermag da schon zu sagen, ob diese Kunde nicht von abergläubischen Bauern herrührt, die sich in der Dämmerung vor herumtollenden Hasen erschrocken haben?«

Gilbert rieb sich das geschorene Haupt und warf einen Blick auf Moryson, den obersten Gehilfen und ersten Ratgeber des Vermittlers, bevor er wieder das Wort ergriff. »Aber viele dieser Berichte stammen von unseren Brüdern, Bruderführer!«

Jayme unterdrückte die Entgegnung, daß die meisten der Brüder in der Nordzuflucht bei der Stadt Gorken selbst kaum mehr als abergläubische Bauern waren. Aber der Gehilfe hatte noch viel zu lernen und hatte sich noch nie weit von der Pracht und Behaglichkeit Karlons wegbewegt. So kannte er nur die fromme und geistige Atmosphäre des Seneschallturms, wo man ihn aufgezogen und dem Orden übergeben hatte, um fortan Artor zu dienen.

Davon abgesehen befürchtete Jayme, daß die verängstigten Brüder in Gorken doch mehr als ein paar herumspringende Hasen gesehen hatten. Schließlich waren auch Meldungen aus dem Dorf Smyrdon eingetroffen, das hoch oben im Nordosten lag, und die galt es ebenfalls zu berücksichtigen.

Der Vermittler seufzte noch einmal und ließ sich in seinem bequemen Sessel hinter dem Schreibtisch nieder. Zu den Annehmlichkeiten des höchsten religiösen Amtes im Reich gehörte zweifellos die Behaglichkeit der Behausung. Jayme gehörte nicht zu den Eiferern und Heuchlern, die vorgaben, auf Bequemlichkeit verzichten zu können. In seinem Alter wußten seine schmerzenden Glieder es durchaus zu schätzen, auf hervorragend angefertigten und gepolsterten Möbeln in seinen Gemächern zu ruhen, deren gute Verarbeitung nicht nur den Körper, sondern auch das Auge erfreute. Auch hatte der Vermittler durchaus nichts gegen die Einladungen in die ersten Häuser der Stadt, wo die erlesensten Speisen aufgetischt wurden. Wenn Jayme nicht mit den Verwaltungsaufgaben des Seneschalls beschäftigt war oder den sozialen und geistigen Pflichten seines Amts nachgehen mußte, standen ihm zur geistigen Anregung Tausende ledergebundener Bände auf den vielen Regalbrettern in seinen Räumlichkeiten zur Verfügung. An den freien Stellen standen oder hingen religiöse Ikonen oder Porträts, die von seinen Vorgängern zusammengetragen worden waren und seinem Geist Frieden und seiner Seele Erquickung schenkten. Der Blick aus den strahlendblauen Augen des Vermittlers, die auch nach vielen Jahren der Sündenerforschung unter den Achariten noch wenig von ihrer Sehkraft eingebüßt hatten, wanderte genießerisch über eine besonders schöne Darstellung des guten Gottes. Artor war dort zu sehen, wie er der Menschheit das Geschenk des Pflugs machte. Die Gabe, der die Sterblichen die Befähigung zu verdanken hatten, sich aus ihrer Barbarei zu erheben und sowohl das Land wie auch ihren Geist zu kultivieren.

Bruder Moryson, ein großer, hagerer Mann mit zerfurchter Stirn, betrachtete den Bruderführer mit brüderlicher Liebe und Achtung. Die beiden kannten sich schon seit vielen Jahrzehnten und waren bereits in ihrer Jugend zu den Repräsentanten des Seneschalls am königlichen Hof bestimmt worden. Später waren sie dann in die königliche Hofhaltung selbst übernommen worden. Zu viele Jahre sind vergangen, dachte der oberste Gehilfe mit Blick auf Jaymes Haupthaar und Bart. Beides war vollständig weiß geworden. Sein eigenes schütteres braunes Haar wies zahlreiche graue Stellen auf, wie er nur zu gut wußte.

Als Jayme endlich eingewilligt hatte, das Amt des Bruderführers anzutreten, das er bis an sein Lebensende einnehmen würde, hatte er sogleich verlangt, daß sein alter Freund und Weggefährte Moryson ihm als oberster Gehilfe und Ratgeber zur Seite stehen solle. Sein zweiter Wunsch hatte nicht nur am königlichen Hof für Unruhe gesorgt, sondern auch in der königlichen Familie selbst Bestürzung ausgelöst. Jayme forderte tatsächlich, daß sein Schützling Axis zum Anführer der Axtschwinger berufen werden solle – der Elitetruppe des Seneschalls, die auch sein militärischer Arm war. Mochte König Priam noch so wüten, die Axtschwinger unterstanden allein dem Seneschall, und in diesem Orden war das Wort des Bruderführers Gesetz. Und so war Axis allem königlichen Mißvergnügen zum Trotz zum jüngsten Befehlshaber der Elitetruppe aller Zeiten bestimmt worden.

Moryson, der sich bislang nicht an der Unterredung beteiligt hatte, trat nun vor, wußte er doch, daß der Freund auf seinen Rat wartete. »Bruderführer«, begann der Berater, verbeugte sich tief aus ehrlich empfundener Hochachtung und schob die Hände in die weiten Ärmel seines Habits, »vielleicht wäre uns allen am ehesten damit gedient, wenn wir zuerst einen Blick auf die vorliegenden Fakten werfen. Nehmen wir uns die Berichte vor, die in den letzten Monaten bei uns eingegangen sind. Womöglich stoßen wir dabei auf Gemeinsamkeiten und ein Muster.«

Jayme nickte und bedeutete den beiden Gehilfen, auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die Möbel waren vor vielen Generationen aus einem der uralten Bäume gezimmert und verziert worden, die einst die Weiten von Achar beherrscht hatten. Das gut geölte Holz glänzte anheimelnd im Feuerschein. Besser das Holz diente auf diese Weise dem Menschen, als auf dem Land im Weg zu stehen, das man dem Pflug übergeben wollte. Gehölze oder gar Wälder hackte man lieber ab, statt sie stehen zu lassen, da sie doch zu nicht mehr nutze waren, als den Dämonen der Unaussprechlichen Schutz zu bieten und Schatten zu spenden.

»Wie stets kann ich mich auf die Logik deiner Worte verlassen, Bruder Moryson. Gilbert, erhelle uns doch bitte mit einer Zusammenfassung der Ereignisse, wie sie sich dir bislang darstellen. Schließlich bist du derjenige, der alle Meldungen aus dem Norden gelesen hat.«

Weder Jayme noch Moryson hatten den jungen Bruder sonderlich tief ins Herz geschlossen. Beide wußten zwar, daß dies keine überaus brüderliche Einstellung war, aber er ließ sich leider nur zu deutlich anzumerken, daß er einer der hochgestellten Familien Karlons entstammte. Zu seiner anmaßenden Art kamen eine ungesunde Gesichtsfarbe, dürre Beine und ständig schwitzende Handflächen, was ihn nicht liebenswerter machte. Doch der junge Mann besaß einen äußerst scharfen Verstand, mit dem er auch die unzusammenhängendsten Daten aus den unterschiedlichsten Quellen aufzunehmen vermochte, um sie dann rascher als jeder andere zu verarbeiten, zu ordnen und zu gliedern. Daneben zeichnete ihn ein ungeheurer Ehrgeiz aus. Der Bruderführer und sein Erster Ratgeber waren daher zu dem Schluß gelangt, daß Gilbert sich am ehesten unter ihrem wachsamen Auge bewähren könne.

Der junge Gehilfe ließ sich auf seinem Stuhl nieder und verrenkte sich, bis sein Rückgrat eine Linie mit der Rückenlehne bildete. Erst danach fühlte er sich bereit, dem Wunsch seines Herrn Folge zu leisten. Moryson und Jayme unterdrückten ein Grinsen, als sie geduldig den Bemühungen Gilberts zusahen.

»Brüder unter Artor«, begann der Jüngling traditionell, und seine beiden Zuhörer verdrehten die Augen, »seit dem in diesem Jahr ungewöhnlich spät einsetzenden Tauwetter sind hier im Seneschall zahlreiche Nachrichten des Inhalts eingegangen, daß es in den Grenzprovinzen des Reiches zu, äh, ungewöhnlichen Aktivitäten gekommen ist. Zunächst sind da die Berichte unserer Brüder in der Zuflucht nahe der Stadt Gorken zu nennen, denen zufolge der Befehlshaber von Gorken im zurückliegenden Winter mehr Soldaten als üblich auf Patrouillen verloren habe.« Der kleine Flecken Gorken, der zweihundert Meilen weiter nördlich lag, drängte sich schutzsuchend an die Garnison von Gorken. Schon vor Jahrhunderten hatten die Herrscher von Achar auf dem Gorkenpaß in Ichtar eine starke Befestigung errichtet, die auch heute noch das Hauptverteidigungsbollwerk der nördlichen Provinzen darstellte.

»Wer rechnet auch damit, daß jeder einzelne Soldat von einer Streife zurückkehrt«, murmelte der Bruderführer gereizt, »vor allem dann, wenn man sie im tiefsten Winter in die Ödländer des Nordens aussendet?« Aber Gilbert runzelte bei dieser Unterbrechung nur die Stirn und führte seine Rede ungerührt fort.

»Mehr Männer als üblich kehrten nicht zurück, Bruderführer. Und die Soldaten, die man in der Festung Gorken stationiert hat, gehören zu den besten des Reiches. Der Herzog von Ichtar stellt sie aus seiner eigenen Grenzwehr zur Verfügung. Sowohl Herzog Bornheld als auch Fürst Magariz, der Festungskommandant, wissen, daß man bei Winterpatrouillen immer mit Ausfällen rechnen muß. Doch nie zuvor haben sie dabei sechsundachtzig Männer verloren. Gewöhnlich stellt der Winter den größten Feind der Garnison dar, doch in diesem Jahr befürchten der Herzog wie auch der Fürst, daß sich ein neuer Gegner in den Schneemassen verbirgt.«

»Besitzt Bornheld irgendwelche Beweise dafür? Hat er diesen neuen Feind mit eigenen Augen gesehen, Bruder?« fragte Moryson übertrieben nachsichtig. »Im vergangenen Jahr ist der Herzog lieber um den König herumscharwenzelt, statt sich um seine Nordfestung zu kümmern.«

Gilberts Augen blitzten kurz auf. Diese beiden alten Männer mochten ihn ja für einen eingebildeten Narren halten, aber er hatte sich gut vorbereitet und konnte sich auf seine Quellen verlassen.

»Herzog Bornheld ist im Blumenund im Rosenmond nach Ichtar zurückgekehrt, Bruder Moryson. Dabei hat er nicht nur in Hsingard und Sigholt geweilt, sondern auch den hohen Norden besucht, um sich mit Fürst Magariz zu beraten. Bei dieser Gelegenheit hat er auch die Soldaten der Garnison angehört, um von ihnen zu erfahren, was an der Grenze geschieht. Vielleicht, ehrwürdiger Ratgeber, warst du ja zu beschäftigt damit, den reichlich hereinströmenden Zehnten zu zählen, und hast darüber gar nicht mitbekommen, was draußen in der Welt geschieht.«

»Gilbert!« tadelte der Bruderführer den Jüngling mit scharfer Stimme. Der Gehilfe senkte sofort das Haupt und entschuldigte sich auf diese Weise bei Moryson. Der Ratgeber warf Jayme über den Kopf des Jünglings hinweg einen ernsten Blick zu. Sobald der Bruderführer mit Gilbert allein wäre, würde dieser eine scharfe Zurechtweisung erhalten.

»Wenn ich jetzt fortfahren darf …«, murmelte der Jüngling demütig.

Jayme nickte nur knapp, aber seine altersfleckigen Hände verloren fast alle Farbe, so fest umfaßte er die Lehnen seines Sessels.

»Fürst Magariz konnte die Leichen einiger seiner verlorenen Soldaten bergen. Allem Anschein nach hat man sie verspeist … aufgefressen … zur Mahlzeit gemacht.« Der Jüngling schien einen unerwarteten Hang fürs Makabre zu besitzen. Mit trockener Stimme fuhr er fort: »Im Norden Ichtars und in Rabenbund kennen wir keine Tiere, die einen erwachsenen Mann in Rüstung und mit Schwert und Speer ernsthaft gefährden oder gar verschlingen könnten.«

»Vielleicht einer der großen Eisbären«, vermutete der Bruderführer. Sein Zorn auf den Jüngling verrauchte bei dieser Überlegung. Gelegentlich bekam man von Eisbären zu hören, die im hohen Norden von Rabenbund einen Menschen angefallen hatten.

»Dafür liegen Stadt und Festung Gorken doch zu weit landeinwärts, Herr. Da müßten die Eisbären schon die sechzig Meilen über den Gorkenpaß trotten und eine Abkürzung durch das Eisdachgebirge kennen.« Der Jüngling dachte kurz nach, als sei ihm gerade etwas in den Sinn gekommen. »Soweit wir wissen, lieben Eisbären keine Höhen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich fürchte, die Eisbären können wir für diese Verluste nicht verantwortlich machen.«

»Dann stecken vielleicht die Rabenbundmänner selbst dahinter«, meinte Moryson. Rabenbund gehörte offiziell zum Reich Achar und unterstand dem König. Herzog Bornheld verwaltete die Provinz in dessen Namen. Aber das Land hatte sich immer schon als so unwirtlich und wild erwiesen – und wurde lediglich von ungeschlachten Stämmen bewohnt, die Robben und Eisbären jagten –, daß der König und sein getreuer Statthalter es für gewöhnlich sich selbst überließen. Und damit stellte die Festung Gorken praktisch den nördlichsten Punkt der Herrschaft und Macht des Reiches dar. Für gewöhnlich sorgten die Rabenbundmänner kaum für Unruhe; dennoch betrachteten die Achariten sie als barbarische Wilde.

»Auch das ist, fürchte ich, auszuschließen, Bruder Moryson. Offenbar haben die Rabenbundmänner ebenso schwere Verluste zu beklagen wie unsere Garnisonssoldaten, wenn nicht sogar noch schlimmere. Viele ihrer Stämme sind bereits in den Süden nach Ichtar gezogen und haben fürchterliche Geschichten zu erzählen.«

»Welche zum Beispiel?« wollte Jayme wissen und zupfte sich ungeduldig am Bart.

»Daß der Winter verrückt spielt und der Wind lebendig geworden ist. Von nahezu unsichtbaren Eiswesen, die im Wind leben und auf Menschenfleisch aus sind. Die Rabenbünder berichten, die einzige Warnung, die man vor einem solchen Angriff erhalte, sei ein leises Wispern im Wind. Doch auch wenn die Wesen vor dem Zuschlagen kaum auszumachen sind, so erweisen sie sich danach als ziemlich sichtbar. Haben sie erst einmal ihre Beute verschlungen, zeigen sie sich über und über mit dem Blut ihres Opfers besudelt. Die Rabenbünder fürchten sich vor ihnen. Sie haben so schreckliche Angst, daß sie sogar ihre angestammte Heimat verlassen. Das muß man sich einmal vorstellen! Diese Wilden haben sich noch nie vor etwas gefürchtet.«

»Aber haben sie sich denn nicht gegen diese Wesen gewehrt?«

»Doch, natürlich. Aber der Feind erweist sich als, nun, substanzlos. Stahl fährt ungehindert durch ihren Körper. Und sie scheinen keine Angst zu kennen. Wenn ein Krieger ihnen nahe genug kommt, um sie mit der Waffe anzugreifen, dürfte dies die letzte Tat seines Lebens gewesen sein. Nur eine Handvoll Männer hat die Begegnung mit einem solchen Wesen überlebt, mit diesen …«

»Unaussprechlichen?« flüsterte der Ratgeber, und auf seinem gütigen Gesicht zeichnete sich jetzt die Sorge ab, die jedermann bei der Nennung dieses Namens befiel. Dabei hatte Moryson nur das zum Ausdruck gebracht, was allen im Raum längst in den Sinn gekommen war – nur hatte es niemand auszusprechen gewagt.

»Nicht so voreilig, Moryson«, mahnte der Bruderführer.

»Warten wir lieber erst ab, was Gilbert uns noch zu berichten hat.« Der Ärger über die Unbotmäßigkeit des Jünglings war nun endgültig von allen abgefallen.

»Magariz’ Soldaten sind ähnlichen Erscheinungen begegnet. Allerdings weilt keiner von denen, die einen genaueren Blick auf die Wesen werfen konnten, mehr unter den Lebenden …« Gilberts Stimme wurde immer leiser. »Einen Mann haben die Soldaten mehr tot als lebendig gefunden, und er verschied wenige Minuten, nachdem der Fürst eingetroffen war. Der Sterbende berichtete, und so hat Magariz es auch an uns weitergegeben, daß sie von Bestien angegriffen worden seien, die keine feste Form besessen hätten und denen eine Schwertschneide keine Wunde beibringen könne.«

»Aber wie konnten die Wesen denn diesen Soldaten verwunden? Ich dachte, die Besatzung des Festung gehöre zu den bestgerüsteten im ganzen Reich.«

»Bruderführer, der Fürst glaubte den letzten Worten des Mannes entnehmen zu dürfen, daß die Kreaturen ihn umzingelt hätten und dann durch die Ritzen in seiner Rüstung eingesickert seien, bis sie sich zwischen ihr und seiner Haut befunden hätten. Und daraufhin hätten sie begonnen, ihn aufzufressen.«

Gilbert schwieg für einen Moment, und alle drei Männer versuchten, sich einen so gräßlichen Tod vorzustellen. Jayme schloß die Augen und betete, daß Artor den Mann bei sich aufnehmen und in seiner Obhut behalten möge.

»Ich frage mich, warum die Wesen ihn am Leben gelassen haben«, murmelte Moryson.

Der Jüngling antwortete mit bitterer Stimme: »Sie hatten bereits alle anderen Männer der Streife verspeist. Man darf davon ausgehen, daß sie sich bereits sattgefressen hatten.«

Jayme stieß sich unvermittelt aus seinem Sessel hoch und schritt zum Wandschrank. »Ich glaube, Artor wird es uns nachsehen, wenn wir zu dieser frühen Nachmittagsstunde bereits ein wenig Wein zu uns nehmen, meine Brüder. Da uns auch noch die Berichte von Smyrdon erwarten, dürfte eine kleine Stärkung dringend geboten sein.«

Er füllte drei Glaskelche mit rotem Wein und reichte zwei davon den Gehilfen, ehe er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.

»Furche weit, Furche tief«, sagte er.

»Furche weit, Furche tief«, sprachen Gilbert und Moryson im Chor die Worte, die allen artorfürchtigen Achariten als Segensund Grußformel dienten und die bei jeder Gelegenheit verwendet wurden.

»Und was gibt es sonst noch aus dem Norden zu vermelden?« wollte der Bruderführer erfahren. Er hielt den Kelch zwischen den Handflächen, um den Rest des Inhalts zu wärmen. Gleichzeitig hoffte er, der bereits genossene Wein möge die Kälte besiegen, die sich in seiner Seele ausbreitete.

»Nun, man hat dort einen ausgesprochen harten Winter hinter sich. Selbst hier litten wir unter der ungewohnten Kälte, die der Rabenund der Hungermond mit sich brachten. Das Tauwetter setzte erst im Blumenmond ein, einen Monat später als üblich. Der Norden litt unter noch grimmigerem Frost. Wie mir berichtet wurde, haben sich Schnee und Eis an Orten wie den Urqharthügeln den ganzen Sommer über gehalten.« Der Norden von Ichtar erlebte in der Regel einen frostfreien Sommer.

Jayme zog die Brauen hoch. Auf Gilberts Nachrichtenbeschaffung konnte man sich stets verlassen, und er hatte sich fürwahr einen den Umständen entsprechenden umfassenden Überblick verschafft. Besaß der Jüngling möglicherweise Quellen, von denen Jayme nichts wußte? Die Beantwortung dieser Frage mußte einstweilen warten. Viel wichtiger war jetzt die Neuigkeit, daß der Norden Ichtars den Sommer unter einer Eisdecke verbracht hatte. Warum waren Schnee und Eis dort im Taumonat nicht geschmolzen?

»Wenn der Frost sich schon oberhalb der Urqharthügel gehalten hat, muß man auch in Gorken winterähnliche Zustände erlebt haben«, meinte der Bruderführer. »Sag uns, Gilbert, ob die Angriffe sich auch während der wärmeren Monate fortgesetzt haben.«

Der Gehilfe schüttelte den Kopf und trank noch einen Schluck Wein. »Nein. Die Wesen erschienen nur während der kältesten Tage im tiefsten Winter. Vielleicht haben sie sich ja inzwischen wieder verzogen.«

»Vielleicht aber auch nicht. Wenn hoch im Norden die Eisdecke auch im Sommer nicht geschmolzen ist, befürchte ich für den kommenden Winter das Schlimmste. Sofern die Kreaturen von frostigen Wintertemperaturen abhängig sind, sollten wir dann nicht davon ausgehen, daß sie bei Eis und Schnee zurückkehren?«

»Wir sollten die Berichte unserer Brüder in der Zuflucht von Gorken nicht außer Betracht lassen, Bruderführer.« Die Bruderschaft des Seneschalls unterhielt bei der Feste eine Niederlassung für die Mitglieder, die ein asketisches Dasein dem üppigen Leben im Turm vorzogen und ihre Tage lieber in artorgefälliger Kontemplation verbringen wollten.

»Ja, Gilbert, das sollten wir nicht.«

»Unsere dortigen Brüder glauben, daß die Unaussprechlichen dahinterstecken.«