V Vorwort der Herausgeber

Seit einiger Zeit kann man sich vor Legal Tech kaum noch retten. Jeder redet darüber, die Zahl der Konferenzen nimmt ständig zu und vor allem online stößt man immer wieder auf die verschiedensten Publikationen zu dem Thema. Eine Gesamtdarstellung von Legal Tech, verstanden als Schlagwort für die Digitalisierung der juristischen Branche, gibt es nicht, und vermutlich könnte man alle Facetten in einem Buch auch gar nicht behandeln. In diesem Buch geht es deshalb hauptsächlich um die Frage, was Legal Tech für die juristische Profession bedeutet, weniger in rechtlicher Hinsicht, sondern mit Blick auf den Rechtsmarkt. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es (noch) nicht, zumal die Entwicklung von Legal Tech noch am Anfang steht. Es können aber heute schon vielfältige Ausprägungen von Legal Tech in der juristischen Praxis beobachtet werden, die erahnen lassen, wohin die Reise geht. Neben allgemeinen Überlegungen zur Digitalisierung im Rechtsmarkt kommen daher in diesem Buch vor allem Praktiker zu Wort, die zeigen, wie Legal Tech jetzt und in der Zukunft konkret eingesetzt werden kann und die den Begriff dadurch auch etwas entmystifizieren. So wollen wir dazu beitragen, dass es gelingt, die juristische Arbeit und den Zugang zum Recht allgemein mit Hilfe von Technologie zu verbessern, zu vergünstigen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass das System der Rechtspflege durch Technologie nur besser werden kann – das gilt nicht nur für die Anwälte, sondern auch für die Justiz.

Der Fokus dieses Buchs liegt dabei allerdings auf der Anwaltschaft, ob Inhouse oder in Kanzleien. Anwälte finden in diesem Buch konkrete Anleitungen und Beispiele, wie man eine Strategie zur Digitalisierung auf- und umsetzt. Das sind natürlich alles keine Patentrezepte, sondern die Erfahrungen, die die Autoren dieses Buches als Praktiker und Berater gemacht haben. Auch Anbieter von Legal Tech-Lösungen kommen zu Wort. Man mag das als Product Placement kritisieren, aber wir sind der Auffassung, dass sich aus der Darstellung von Produkten, Lösungen und konkreten Umsetzungsbeispielen viel lernen lässt. Legal Tech, nicht nur verstanden als theoretische Kategorie, lebt davon, dass man sich praktische Lösungen anschaut und dadurch für den eigenen Prozess der Digitalisierung inspiriert wird. Daher hoffen wir, dass Sie nach der Lektüre nicht nur einen guten Überblick über die Materie, sondern auch genügend praktisches Anschauungsmaterial für Ihren weiteren Weg in die Digitalisierung bekommen haben.

Allen Autorinnen und Autoren danken wir herzlich für die Mitwirkung an diesem Buch. Sie haben sich nicht nur bereit erklärt, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu teilen, sondern ihre Beiträge auch in einem kurzen, der Aktualität des Themas angemessenen Zeitfenster zu verfassen. Ohne ihren Einsatz wäre ein umfassendes Werk wie dieses nicht möglich gewesen.

Ihr Feedback, positiv und kritisch, ist herzlich willkommen! Schreiben Sie uns an markus.hartung@law-school.de, micha.bues@law-school.de oder gernot.halbleib@law-school.de.

Berlin, im September 2017

Markus Hartung

Micha-Manuel Bues

Gernot Halbleib

XX Im Einzelnen haben bearbeitet:

Barth

2.1 Legal Tech in Deutschland – zwischen Buzz Word und Anwaltsschreck

Bernard

3.3 Law Firms as Incubators: Lessons learned from the first initiatives

Braegelmann

6.1 Online-Streitbeilegung (Online Dispute Resolution – ODR)

Brtka/Keller/Levien

5.2 Legal Tech nach Maß – der Vertragserstellungsprozess mit dem Audi DocCreator

Bues

1.2 Auswirkungen und Erfolgsfaktoren der Digitalisierung von Kanzleien;

7.3 Artificial Intelligence im Recht

Cohen

3.7 The Clearspire Story

Curle

6.2 Legal Publishers, Legal Technology, and the New Legal Landscape

Damelet/Smatt

Pinelli/Blanc

6.5 The Paris Bar Incubator: a story of breaking new boundaries

Glatz

7.4 Blockchain und Smart Contracts – Eine neue Basistechnologie im Recht?

Goodman

2.3 The UK legal tech scene

Greisbach

4.2 Legal Tech – Einsatz in einer kleinen Kanzlei

Grupp

7.1 Wie baut man einen Rechtsautomaten? Modellierung juristischer Entscheidungsstrukturen mit Lexalgo

Halbleib

1.3 Der Weg zur Legal Tech-Strategie;

7.2 Automatisierte Dokumenterstellung in der juristischen Praxis

Hartung D.

6.3 Judex Calculat – Neue Berufsbilder und Technologie in der juristischen Ausbildung

Hartung M.

1.1 Gedanken zu Legal Tech und Digitalisierung;

6.4 Legal Tech und anwaltliches Berufsrecht;

8 Vier Thesen für die Zukunft

Hartung/Bues/Halbleib

Vorwort

Was Sie in diesem Buch erwartet

Jacob

5.3 From Contract Management to Legal Content Management

Klock

4.1 Legal Tech – Das digitale Mindset

Krause/Hecker

3.2 Wirtschaftskanzleien unter dem Einfluss von künstlicher Intelligenz – Bestandsaufnahme und Ausblick am Beispiel der Analyse-Software KIRA

Magrini/Blase

5.5 Digitalisierung des internationalen Auftrags- und Vertragswesens von Unternehmen durch Lawforce (Incodis) mit Praxisbeispielen

Northoff/Gresbrand

3.5 „Deloitte + Legal + Tech“

Quade

5.1 Legal Tech in Rechtsabteilungen

Rackwitz/Corveleyn

5.4 Automatisierung von Workflows

XXIScheicht/Fiedler

3.4 Norton Rose Fulbright ContractorCheck: Von der Entwicklung bis zur Nutzung eines online Tools zur Abgrenzung zwischen freien Mitarbeitern und Arbeitnehmern

Solmecke

4.3 Mit dem Rücken zur Wand! Wie die Digitalisierung unsere Kanzlei rettete – und uns nebenbei massenhaft Mandanten bescherte

Vogl

2.2 Changes in the US Legal Market Driven by Big Data/Predictive Analytics and Legal Platforms

von Busekist/Glock/Mohr

3.6 Die Big Four und die digitale Revolution

Wenzler

3.1 Big Law & Legal Tech

1 Was Sie in diesem Buch erwartet

Markus Hartung, Dr. Micha-Manuel Bues, Dr. Gernot Halbleib

1

In diesem Buch finden Sie Legal Tech in den meisten seiner Facetten beschrieben, und diese kurze Einführung soll Sie an die Hand nehmen und zeigen, was Sie erwartet.

2

In Teil 1 finden Sie Beiträge der Herausgeber zum Thema Digitalisierung im Rechtsmarkt, beginnend mit grundsätzlichen Überlegungen, Definitionen und Kategorien, sodann eine Schilderung von Herausforderungen und Erfolgsfaktoren der Digitalisierung allgemein und im Rechtsmarkt und schließlich eine konkrete Anleitung dazu, wie eine Digitalisierungsstrategie in Kanzleien aufgesetzt wird.

3

In Teil 2 finden Sie Länderberichte – Beschreibungen der Legal Tech-Szene in Deutschland, den USA und in Großbritannien. Es gibt auch in vielen anderen Ländern sehr lebendige Legal Tech-Szenen, aber das hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt. Die USA und Großbritannien sind am weitesten in ihrer Entwicklung, und die Lektüre dieser Kapitel gibt Ihnen einen Eindruck davon, was auf uns noch zukommen kann.

4

In den dann folgenden Teilen 3 und 4 befassen wir uns mit Legal Tech in Kanzleien. Dabei teilen wir die Betrachtungen auf in große wirtschaftsberatende Kanzleien sowie Kanzleien der großen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften einerseits (Teil 3) und mittlere und kleinere Kanzleien andererseits (Teil 4). Es sind keine allgemeinen theoretischen Schilderungen, sondern sehr konkrete Beispiele, wie sich bestimmte Kanzleien aufgestellt haben und wie sie Legal Tech heute schon einsetzen. Dies reicht von der Automatisierung interner Prozesse, der Kommunikation mit Mandanten, dem Einsatz künstlicher Intelligenz, der Entwicklung eines „digital mindset“ bis hin zur Errichtung eines kanzleieigenen Inkubators für Legal Tech-Start-Ups. Dabei wird deutlich, dass Legal Tech kein Privileg der „Großen“ sein muss, sondern dass auch kleine Kanzleien viel gewinnen können, wenn sie die Chancen aus Legal Tech konsequent verfolgen.

5

In diesem Teil findet sich auch ein besonderes Kapitel über die ehemalige Legal Tech-Kanzlei Clearspire, die vor Jahren so spektakulär gestartet wie dann gescheitert ist. Wenn Legal Tech heute sehr viel mit Hoffnung zu tun hat, zeigt diese Fallstudie, wie auch vielversprechende Ideen scheitern können. Da das in den USA aber nicht als Versagen gilt und der Autor damit sehr offen umgeht, betrachten wir dieses Kapitel als Lehrbuchbeispiel dafür, was man als anwaltlicher Unternehmer oder Manager einer Kanzlei heute anders machen oder auf jeden Fall beachten sollte.

6

Legal Tech spielt in Unternehmen eine ebenso wichtige Rolle wie in Kanzleien – damit befasst sich der Teil 5, wiederum mit konkreten Beispielen aus Rechtsabteilungen und von Legal Tech-Unternehmen, die Lösungen für Rechtsabteilungen anbieten.

7

Außerhalb von Kanzleien und Rechtsabteilungen betrifft Legal Tech auch andere Akteure im Rechtsmarkt und angrenzenden Bereichen. Das behandeln wir in Teil 6 und schauen auf die Justiz und mögliche private Schlichtungsstellen („Online Dispute Resolution“), Verlage und Universitäten. In diesem Teil geht es auch um die rechtlichen Rahmenbedingungen. Dazu finden Sie zwei Beiträge: zum einen eine Behandlung des Status Quo der berufsrechtlichen Regulierung in Deutschland, und zum anderen einen ganz anderen, sehr modernen Ansatz der Pariser Rechtsanwaltskammer, die einen eigenen Inkubator zur Förderung von Innovation und Legal Tech gegründet hat.

8

Mit Technologie als solcher befasst sich Teil 7 – dort lesen Sie etwas über Rechtsautomaten, über Dokumentenautomatisierung, über Systeme künstlicher Intelligenz und über die Blockchain.

9

2In einem Epilog schließlich finden Sie vier Thesen zur Zukunft – als Annahmen, wie es sein könnte. Ansonsten werden Sie kein Kapitel darüber finden, wie es denn nun genau werden wird, denn das weiß niemand. Unsere Autoren haben aber bei ihren Schilderungen durchaus nach vorne geschaut und beschrieben, wie die nächsten Entwicklungen aussehen könnten. Legal Tech ist ein so vielfältiges Thema, dass es die eine Antwort auf die Frage des „Was wird?“ nicht gibt. Was wir aus den ganzen Möglichkeiten machen, die Legal Tech uns bietet, hängt von uns ab.

31 1.3 Der Weg zur Legal Tech-Strategie

Dr. Gernot Halbleib1

A. Einführung

126

Trotz aller Euphorie im Hinblick auf Legal Tech ist es unwahrscheinlich, dass eine komplexe anwaltliche Beratung in naher Zukunft vollständig durch Technologie ersetzt werden wird. Doch Anwälte können schnell das Nachsehen haben, wenn andere Kanzleien oder alternative Anbieter durch Technologie einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Dass die Digitalisierung der Rechtsbranche nicht erst in ferner Zukunft beginnt, sondern bereits voll im Gange ist, belegen die Beispiele in diesem Buch. Der Beitrag von Bues2 zeigt, dass man schnell abgehängt ist, wenn man der Digitalisierung seiner Branche tatenlos zusieht. Daher sind Anwälte gut beraten, für sich und ihre Kanzlei jetzt eine Legal Tech-Strategie zu definieren. Der Blick geht dabei in zwei Richtungen. Erstens: Anwälte machen ihre Arbeit produktiver und kostengünstiger, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Zweitens: Durch digitale und skalierbare Rechtsprodukte erschließen sich Anwälte komplett neue Geschäftsmodelle. Bevor in diesem Beitrag der Weg zur Legal Tech-Strategie betrachtet wird, sollen einige Beispiele verdeutlichen, wie Kanzleien mit Legal Tech bereits erfolgreiche Strategien und Produkte entwickelt haben.

B. Beispiele für Legal Tech-Strategien und Legal Tech-Produkte

127

Wie Effizienzsteigerungen für Kanzleien zum Wettbewerbsvorteil werden können, zeigt die britische Kanzlei Pinsent Masons mit ihrem Konzept „Smart Delivery“3, das zu einer Kostenersparnis beim Mandanten von 25 % bei gleicher Leistung und Qualität führen soll. Was auf den ersten Blick nach blumigen Marketingaussagen klingt, scheint durchaus Substanz zu haben: Obwohl Pinsent Masons nicht zu den 10 größten Kanzleien in Großbritannien gehört, ist es der Kanzlei unter anderem mithilfe dieses Ansatzes gelungen, namhafte Unternehmen als Mandanten zu gewinnen.4 Auch die Maßnahmen, die hinter „Smart Delivery“ stehen, lassen sich sehen. Für standardisierbare Aufgaben hat die Kanzlei so genannte „process workflows“ eingeführt, etwas, von dem viele Anwälte in Deutschland noch nie etwas gehört haben. Um repetitive Arbeiten zu vermeiden, wurden 490 Dokumente automatisiert. Wer einmal auch nur wenige Dokumente für die automatische Erstellung vorbereitet hat5, weiß, wie viel Aufwand hinter dieser Zahl steckt. Im einzelnen Mandat sorgen spezialisierte Projektmanager dafür, dass die definierten Workflows eingehalten werden, während die Kommunikation mit dem 32Mandanten über ein eigens eingerichtetes Mandantenportal stattfindet. Schließlich wirbt Pinsent Masons auch damit, an manchen Stellen im Workflow unter anderem Systeme künstlicher Intelligenz einzusetzen, um noch effizienter zu werden.6 All dies zeigt, dass Pinsent Masons das Potenzial von Legal Tech früh erkannt hat und mit der strategischen Ausrichtung, durch den Einsatz von Technik und durch andere Maßnahmen effizienter zu werden, einen erfolgreichen Weg eingeschlagen hat.

128

Ein digitales Produkt mit skalierbarem Geschäftsmodell hat CMS Hasche Sigle mit dem „onlinebasierten Produkt FPE (Fremdpersonaleinsatz)“7 auf den Markt gebracht. Mit diesem Tool können Mandanten ihre Verträge mit freien Mitarbeitern auf das Risiko einer Scheinselbständigkeit hin überprüfen.8 Bei der automatischen Ermittlung des Ergebnisses ist kein Anwalt involviert, der dem Mandanten Stundensätze in Rechnung stellen könnte. Mandanten zahlen stattdessen eine feste Gebühr für jeden geprüften Vertrag. Auch Clifford Chance hat mit dem „MiFID-Toolkit“9 eine bewusste Entscheidung getroffen, seinen Mandanten bestimmtes Wissen nicht mehr in Form von stundenweise abgerechneten Gutachten, sondern als pauschal bepreistes Lizenzangebot zur Verfügung zu stellen. Der Mandant erhält nach der Beantwortung von Fragen sofort die benötigten Informationen und passende Standardformulierungen zur eigenen Verwendung.

129

Allen & Overy geht bei der Vermarktung seines Spezialwissens noch einen Schritt weiter und hat mit dem Portal „aosphere“ ein Abo-Modell geschaffen.10 Für eine feste Jahresgebühr können Abonnenten jederzeit auf ständig aktuelle Informationen zu Rechtsbereichen wie Meldepflichten am Kapitalmarkt (shareholding disclosure), Marketingvorschriften bei internationalen Finanzprodukten und Regulierung von Derivaten zugreifen. Das Portal verfolgt einen globalen Anspruch: Nutzer finden z. B. zu Meldepflichten am Kapitalmarkt Übersichten der wichtigsten Regelungen aus über 90 Jurisdiktionen. Zweck dieser Informationen ist nicht, jede Spezialfrage zu lösen, sondern dem Nutzer – typischerweise Anwälten in Rechtsabteilungen mit eigenen Spezialkenntnissen – einen schnellen Zugriff auf relevante Regelungsinhalte und Vorschriften für die eigene Erstprüfung internationaler Sachverhalte zu ermöglichen. Die Inhalte sind dabei für jede behandelte Jurisdiktion in derselben Struktur aufbereitet, was einen sehr einfachen Zugriff auf die jeweils relevanten Informationen ermöglicht. Knapp 30 Personen sorgen dafür, dass die Inhalte stets aktuell verfügbar sind. Ein spezielles Team ist für den globalen Vertrieb zuständig und arbeitet offenbar sehr erfolgreich – aosphere hat nach eigenen Angaben bereits über 300 Kunden mit mehr als 10.000 individuellen Nutzern.

130

Ähnlich wie das FPE-Tool von CMS Hasche Sigle hilft aosphere seinen Anwendern, rechtliche Prüfungen nicht mehr von externen Anwälten, sondern inhouse („Self-Service“) durchzuführen. Der Mehrwert dieser Angebote liegt darin, dass der Nutzer in die Lage versetzt wird, in allen Fällen, in denen er dies selbst kann, mit möglichst geringem Aufwand eine richtige und verwendbare Antwort zu finden. Nur Fragen, die dann noch offen bleiben, gehen an den Anwalt. Dies wird in der Regel ein Anwalt der Kanzlei sein, die das Self-Service-Tool zur Verfügung gestellt hat. Denn dieser weiß genau, welche Informationen der Mandant bereits erhalten hat und kann gegebenenfalls auf eingegebene Sachverhaltsinformationen zugreifen, 33um mit seiner individuellen Beratung nahtlos an das Ergebnis der automatischen Beratung anzuknüpfen.

131

Mit Beispielen von erfolgreichen Legal Tech-Anwendungen konfrontiert, fangen viele Anwälte an, sich Fragen zu stellen. Betrifft mich das überhaupt? Muss ich damit rechnen, dass in meinem Tätigkeitsfeld eine neue, mit digitalen Mitteln ausgerüstete Konkurrenz entsteht, die mir Geschäft wegnimmt? Wie kann ich selbst effizienter werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Wenn ich mich entschieden habe, Legal Tech einsetzen zu wollen: Wo fange ich an?

132

Viele glauben, sobald sie eine (möglicherweise teure) Legal Tech-Software angeschafft haben, für Legal Tech und die damit verbundenen Herausforderungen gerüstet zu sein. Diese Vorgehensweise führt nur selten zum Erfolg. Vor der Auswahl von Software muss Anwälten klar sein, was sie mit Legal Tech erreichen möchten und welche Probleme dabei gelöst werden sollen. Die Entwicklung einer Legal Tech-Strategie sollte daher mit einem Blick nach innen beginnen und zuerst die mögliche Effizienzsteigerung bei bestehenden Produkten analysieren (dazu sogleich), bevor über die Entwicklung neuer Produkte und Geschäftsmodelle nachgedacht wird (siehe Abschnitt D.).

C. Effizienzsteigerung bei bestehenden Rechtsprodukten

133

Zur Effizienzsteigerung bei bestehenden Rechtsprodukten hat sich in der Beratungspraxis des Bucerius Center on the Legal Profession eine Vorgehensweise in drei Schritten bewährt, die Anwälten auf dem Weg zur Legal Tech-Strategie hilft.11

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Abb. 1: Drei Schritte zur Legal Tech-Strategie

I. Schritt 1: Wirtschaftliche Analyse und Ermittlung des Potenzials für Effizienzsteigerungen

134

Am Anfang steht eine wirtschaftliche Analyse der Kanzlei, um den richtigen Fokus zu setzen: Investitionen in Effizienzsteigerungen werden sich in den Bereichen am ehesten amortisieren, die bereits jetzt signifikant zu Umsatz und Gewinn beitragen. Daher sollten sich Anwälte zunächst darüber klar werden, welche Bereiche dies sind:

• Welche Rechtsberatungsprodukte oder Dienstleistungen12 verkaufen Sie am häufigsten (in Prozent des Gesamtumsatzes)?

• Womit machen Sie den meisten Gewinn? Erstellen Sie ein Ranking der umsatzstärksten Rechtsprodukte nach Profitabilität.

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34Mit Fokus auf die wichtigsten Rechtsprodukte ist sodann das Potenzial für Effizienzsteigerungen zu identifizieren. Dabei hilft ein gewisses Verständnis für Legal Tech-Lösungen, um Potenziale zu erkennen. Aber auch ohne besondere Kenntnisse werden die meisten Anwälte die Fragen in diesem Schritt der Analyse selbst beantworten können und bei Bedarf kann ein Legal Tech-Berater hinzugezogen werden. Ziel ist es, die Rechtsprodukte zu ermitteln, bei denen sich Effizienzsteigerungen am ehesten anbieten und lohnen. Zunächst richtet sich der Blick auf die Standardisierbarkeit der Erstellungsprozesse von Rechtsprodukten. Dabei können die folgenden Fragen helfen:

• Bei welchen Ihrer Dienstleistungen haben Sie das Gefühl, dass die Lösung oder zumindest der Weg zur Lösung trotz unterschiedlicher Mandanten und Sachverhaltskonstellationen oft ähnlich ist?

• Wo arbeiten Sie bereits jetzt mit häufig eingesetzten Mustern, Vorlagen, Checklisten oder Textbausteinen?

• Bei welchen Mandaten haben Sie häufiger den Eindruck, dass bestimmte Arbeitsschritte nicht unbedingt von einem hochqualifizierten Bearbeiter mit zwei Staatsexamina ausgeführt werden müssten?

136

Wie eine solche erste Selbsteinschätzung in der Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel in Abb. 213, das auch Antworten zu zwei weiteren, sogleich erläuterten Fragestellungen enthält. Entscheidend ist bei diesem Schritt 1, dass sich Anwälte (i) überhaupt darüber klar werden, dass sie einen gewissen Teil ihres Umsatzes in Bereichen erzielen, in denen eine Standardisierung möglich ist14 und (ii) erkennbar wird, welche Bereiche das größte Potenzial bieten, mit Maßnahmen zur Effizienzsteigerung erfolgreich zu sein. Auf diesen Bereichen sollte der 35klare Fokus in den folgenden Schritten 2 und 3 liegen, denn hier ist für Anwälte einerseits am meisten zu gewinnen. Andererseits ist es hier am ehesten zu erwarten, dass eine mit Legal Tech ausgerüstete Konkurrenz den Markt verändern wird und diese Bereiche wirtschaftlich unter Druck geraten. Wer einem potenziellen Wegfall dieses Geschäfts nicht tatenlos zusehen möchte, sollte hier ansetzen.

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Abb. 2: Beispiel für Schritt 1: Wirtschaftliche Analyse und Ermittlung des Potenzials für Effizienzsteigerungen

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Bei den Bemühungen, effizienter zu werden, sollten Anwälte sicherstellen, dass sie von einer gesteigerten Effizienz auch selbst profitieren. Bei stundenbasierten Abrechnungsmodellen bedeutet weniger Zeit, die für eine bestimmte Aufgabe verwendet wird, zunächst unmittelbar weniger Umsatz. Selbst wenn Mandanten Produktivitätssteigerungen erkennen und schätzen, wird es kaum gelingen, die Stundensätze so zu erhöhen, dass die erhöhte Effizienz 1:1 abgebildet wird.15 Die Lösung dieses Problems liegt in einer Abkehr von Preisvereinbarungen, die nur den Input betrachten, hin zu Output-basierten Abrechnungsmethoden. Solche Modelle reichen von aufgabenbezogenen Festpreisen, transaktions- oder zeitbezogenen Flatrates, erfolgs- oder provisionsbasierter Bemessung bis hin zu einer Vergütung, die sich unmittelbar am Wert der Leistung für den Mandanten orientiert („value-based fees“).16 Daher sollten Sie sich folgende Frage stellen:

• Wie gut eignen sich Ihre häufig nachgefragten Rechtsprodukte mit Standardisierungspotenzial für Abrechnungsmodelle jenseits der Stundenvergütung, bei denen sich eine Effizienzsteigerung zu Ihren Gunsten auswirkt?

138

Um mit alternativen Modellen erfolgreich zu sein, müssen Anwälte ihren Aufwand gut abschätzen können und lernen, Preise im Vorhinein richtig zu kalkulieren. Nicht alle Rechtsprodukte sind hierfür gleich gut geeignet und in manchen Mandaten wird sich ein Mischmodell anbieten, bei dem ein gut kalkulierbarer, abgegrenzter Teil der Aufgaben zum Festpreis angeboten wird und zusätzlicher Aufwand stundenweise abgegolten wird. Dennoch verbleibt ein Risiko für den Anwalt, im Einzelfall auch einmal „draufzuzahlen“, wenn die Kalkulation nicht aufgegangen ist. Entscheidend ist eine Portfoliobetrachtung: Wenn sich über alle Mandate hinweg das Verhältnis von Aufwand und Umsatz durch Effizienzsteigerungen zugunsten des Anwalts verschiebt, wird er am Ende mit mehr Gewinn dastehen. Die Einführung alternativer Abrechnungsmodelle setzt natürlich auch die Bereitschaft des Mandanten voraus, sich hierauf einzulassen. Da eine größere Kostensicherheit dem Mandanten aber grundsätzlich entgegenkommt, sollte von dieser Seite eher weniger mit Widerstand zu rechnen sein.

139

An diesem Punkt der Analyse lassen sich die Rechtsprodukte mit dem größten Effizienzsteigerungspotenzial in der Regel schon gut erkennen. Ein weiteres Kriterium sollte allerdings noch beachtet werden:

• Wie bewerten Sie das Potenzial für Umsatzsteigerungen bei diesen Produkten, a) bei bestehenden Mandanten und b) bei neuen Mandanten?

140

Damit sich der Aufwand für Maßnahmen zur Effizienzsteigerung lohnt, bietet sich eine Spezialisierung und Ausweitung des Geschäfts in diesen Bereichen an. Das setzt voraus, dass es die entsprechende Nachfrage gibt und Anwälte es schaffen, diese Nachfrage mit ihrem Angebot zu erreichen.17 Die zusätzliche Nachfrage kann von bestehenden Mandanten kommen, etwa 36wenn weiterer ähnlicher Beratungsbedarf besteht, der nicht an externe Anwälte vergeben wird oder aus bestimmten Gründen (auch) an andere Anwaltskanzleien geht. Beim Blick auf neue Mandanten ist entscheidend, wie groß der Markt für ein bestimmtes Rechtsprodukt ist und wie sich die Wettbewerbssituation darstellt. Sind die Probleme, die gelöst werden, auch bei anderen potenziellen Mandanten vorhanden und was wären diese bereit, für eine Lösung zu zahlen? Wenn diese neuen Mandanten bereits andere Kanzleien engagiert haben, sollten Anwälte eine Vorstellung davon haben, unter welchen Voraussetzungen (günstigerer Preis, bessere Qualität etc.) diese bereit wären, mit dem Mandat zu ihnen zu wechseln, und wie viel Aufwand diese Akquise bedeuten würde. Geben potenzielle Mandanten für Rechtsberatung im fraglichen Bereich noch kein Geld aus, ist abzuschätzen, unter welchen Voraussetzungen sie dies tun würden und wie aufwändig es wäre, sie davon zu überzeugen. Um diese Fragen zu beantworten, kann es hilfreich sein, Mandanten oder potenzielle Mandanten schon früh in die Überlegungen mit einzubeziehen und nach ihren Wünschen und Ideen zu fragen.

II. Schritt 2: Workflow-Analyse

141

Nachdem die Rechtsprodukte mit dem größten Potenzial für Effizienzsteigerungen identifiziert worden sind, folgt die Betrachtung des Entstehungsprozesses dieser ausgewählten Rechtsprodukte als Workflow. Dabei wird jeder Schritt von der Beauftragung bis zur Abrechnung des Rechtsprodukts betrachtet und genauer beschrieben. Wichtig ist es dabei, die eigene Tätigkeit einmal nicht nur im einzelnen Mandat, sondern aus übergeordneter Perspektive zu sehen und zum Teil auch stark ins Detail zu gehen. Da diese Perspektive für die meisten Anwälte ungewohnt ist, bietet es sich an, spätestens für diesen Schritt (gegebenenfalls auch bereits bei Schritt 1) mit einem externen Legal Tech-Berater zusammenzuarbeiten. Eine externe Beratung bei Fragen zur Strategie – die in anderen Branchen bereits etabliert ist – ist in vielen Kanzleien ein Novum, und es gibt nicht wenige Anwälte, die dazu neigen, „dies selbst zu machen“. Da die Entwicklung einer Legal Tech-Strategie aber an vielen Stellen technisches Spezialwissen erfordert, das in den meisten Kanzleien so nicht vorhanden ist, können Anwälte von externer Expertise stark profitieren.

142

Einen Rahmen für die Workflow-Analyse kann das folgende Schema bieten, mit dem sich die Prozessschritte bei der Entstehung (nahezu) jedes Rechtsprodukts beschreiben lassen:

img

Abb. 3: Workflow-Analyse

143

Ziel dieser Betrachtung ist es, für jeden einzelnen Prozessschritt darzustellen, was bei der Erstellung eines Rechtsproduktes passiert, welche Fragen beantwortet und welche Informationen benötigt werden. Diese Aufteilung in einzelne Prozessschritte mag auf den ersten Blick künstlich oder wenig praxisnah erscheinen, doch es geht hier bewusst (noch) nicht darum, konkrete Arbeitsabläufe im Team oder deren zeitlichen und organisatorischen Ablauf darzustellen. 37Im Vordergrund steht die Aufteilung komplexer Vorgänge in logische Teilschritte, die bei der tatsächlichen Mandatsbearbeitung oft in einem Schritt vorgenommen werden. Um das Potenzial für Automatisierungen in diesem Prozess zu erkennen, müssen diese Schritte einzeln betrachtet werden.18 Denn nur so wird ganz konkret erkennbar, an welchen Stellen welche Maßnahmen zur Effizienzsteigerung ansetzen können. Stellt man sich bei der Workflow-Analyse die richtigen Fragen, werden diese Anknüpfungspunkte sichtbar:

• Bei welchen Prozessschritten werden welche Informationen benötigt und von wem erhalten Sie diese Informationen in welcher Form?

• Wie lässt sich sicherstellen, dass alle Beteiligten auf alle benötigten Informationen zugreifen können, wenn sie diese benötigen? Durch welche Maßnahmen kann dies optimiert werden?

• Welche Bearbeitungsschritte lassen sich mit technischen Mitteln automatisieren?

• Wie lassen sich die benötigten Informationen so erfassen, dass sie im Rahmen einer automatisierten Bearbeitung verwendet werden können?

• Was müssen Sie tun, um bestimmte Prozessschritte nicht mehr von Anwälten, sondern kostengünstiger innerhalb oder außerhalb der Kanzlei erledigen zu lassen?

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Durch die Beantwortung dieser Fragen wird klar, welche Probleme in jedem einzelnen Prozessschritt gelöst werden müssen, um effizienter zu werden. Das Ergebnis kann je nach betrachtetem Vorgang ganz unterschiedlich ausfallen, die Anknüpfungspunkte für technische Lösungen sind aber oft ähnlich. So gibt es bei der Informationseinholung beim Mandanten in fast allen Rechtsbereichen großes Potenzial, diese zu standardisieren. Selbst wenn dabei nicht alle in jedem Einzelfall benötigten Sachverhaltsinformationen in ein Schema passen, ist es bereits sehr hilfreich und der erste Schritt zur Automatisierung19, zumindest einen – meist überwiegenden – Teil der Informationen standardisiert zu erfassen. Dies kann zum Beispiel über elektronische Formulare geschehen, die dem Mandanten über eine gesicherte Internetverbindung zur Verfügung gestellt werden.20 Wenn es um die Verarbeitung großer Datenmengen bei der Erfassung, Analyse und rechtlichen Interpretation des Sachverhalts geht, haben Systeme künstlicher Intelligenz großes Potenzial.21 So lässt sich eine Due Diligence in bestimmten Anwendungsbereichen bereits heute mit künstlicher Intelligenz erheblich vereinfachen.22 Bei der strukturierten rechtlichen Entscheidungsfindung können programmierte Automaten zum Einsatz kommen.23 Sobald man mit standardisierten Informationen arbeitet, ist auch die Erstellung von Dokumenten jeder Art weitgehend automatisiert möglich.24 Um Rechtsprodukte und andere Informationen an Mandanten zu übermitteln, gibt es deutlich komfortablere Methoden als die übliche E-Mail mit Anhang, z. B. Mandantenportale oder automatische Schnittstellen. Ebenso braucht die Weiterverarbeitung (Signing, Archivierung etc.) eines fertigen Produktes längst nicht mehr händisch zu erfolgen, hierfür gibt es so genannte Contract Lifecycle Management Systeme und zahlreiche e-Signing-Lösungen. Auch für die Verteilung von Aufgaben und Informationen im Team lassen sich die unterschiedlichsten technischen Lösungen einsetzen, die erheblich zum Effizienzgewinn beitragen können und auch das Outsourcing einfacher machen.

38III. Schritt 3: Umsetzung von Maßnahmen

145

Im dritten Schritt geht es schließlich um die Einleitung und Umsetzung von technischen ebenso wie organisatorischen Maßnahmen, die regelmäßig Hand in Hand gehen:

• Entwickeln, dokumentieren und implementieren Sie Standard-Arbeitsabläufe für die Erstellung Ihrer wichtigsten Rechtsprodukte.

• Richten Sie gezielt Legal Tech-Lösungen ein, die Ihnen bei der Standardisierung und Automatisierung bestimmter Arbeitsschritte helfen können.

• Führen Sie ein Projektmanagement (und vielleicht eine Projektmanagement-Software) ein.

• Prüfen Sie die Zusammenarbeit mit Outsourcing-Dienstleistern.

146

Erst in diesem letzten Schritt geht es um die Auswahl und Implementierung neuer Legal Tech-Software. Typischerweise sind dies keine Lösungen, die den kompletten Prozess betreffen, sondern für jeden einzelnen Prozessschritt sind viele technische und organisatorische Maßnahmen denkbar und erforderlich, um diesen zu optimieren. Passende Software-Tools lassen sich oft lizenzieren, in der Regel gibt es eine Vielzahl von Anbietern entsprechender Produkte. Um diese umfassend zu beschreiben, bietet dieses Buch weder ausreichend Platz noch Aktualität, da ständig neue Anbieter und Lösungen auf den Markt kommen. Da es selbst technikaffinen Rechtsanwälten schwerfallen kann, sich hier einen Überblick zu verschaffen, bietet es sich an, bei der Auswahl auf die Erfahrung eines internen IT-Spezialisten oder eines externen Legal Tech-Beraters zurückzugreifen. Spezialisten werden auch dann benötigt, wenn aus der Gesamtheit der benötigten Tools eine einheitliche Software-Landschaft entwickelt werden soll.25 Das maximale Potenzial entfalten die Lösungen nämlich erst, wenn sie vollständig in die bestehende Kanzleisoftware integriert werden, z. B. über Schnittstellen für den automatischen Datenaustausch.

147

Die in diesem Abschnitt beschriebene Geschäftsmodell- und Problemanalyse zahlt sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie die Kommunikation zwischen Anwälten und IT-Spezialisten deutlich vereinfachen kann. Wer genau beschreiben kann, welches Problem bei welchem Arbeitsschritt er lösen möchte und welches wirtschaftliche Ziel er damit verfolgt, wird zu einem besseren Ergebnis kommen als derjenige, der seiner IT-Abteilung den unspezifischen Auftrag gibt, sich „diese neuen Entwicklungen im Legal Tech“ anzuschauen und herauszufinden, welche Programme die Kanzlei jetzt anschaffen soll. Ein guter Überblick über mögliche Anknüpfungspunkte von Digitalisierungsmaßnahmen hilft auch bei der Priorisierung von deren Umsetzung. Oft ist es sinnvoll, zunächst die Maßnahmen anzugehen, die bei dem geringsten Umsetzungsaufwand den größten Mehrwert bieten („low hanging fruits“). All dies zeigt, wie wichtig eine Legal Tech-Strategie als Fahrplan für eine erfolgreiche Digitalisierung ist. Denn Innovation kann man nicht kaufen – man muss sie sich erarbeiten und die Entwicklung eines strategischen Fahrplans nach der hier beschriebenen Methode ist ein guter erster Schritt.26

D. Entwicklung neuer, digitaler Rechtsprodukte

I. Wie entstehen Ideen für neue Rechtsprodukte?

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Der systematische Blick nach innen zur Effizienzsteigerung bestehender Angebote kann eine gute Vorübung sein für das, was notwendig ist, um neue digitale Rechtsprodukte zu entwickeln. Hier ist ein hohes Maß an Kreativität und unternehmerischem Denken gefragt, um das notwendige Level an Innovationskraft zu erreichen. Ausgangspunkt der Überlegungen kann 39das Kundenbedürfnis sein. Es gibt bewährte Kreativitätstechniken wie „Design Thinking“27 oder die „Business Model Canvas“28, bei denen man ein Kundenproblem oder den Mehrwert für den Kunden („value proposition“) in den Mittelpunkt stellt, um neue Ideen für Produkte oder Geschäftsmodelle zu entwickeln. Ein anderer Ansatz geht von den bestehenden Produkten aus. Dabei ist die Frage zu beantworten, was an diesen Produkten verändert werden müsste, um Produkte mit größerem Skalierungspotenzial zu entwickeln: Welche Schritte bei der Entstehung des Produktes sorgen dafür, dass es nur mit manuellem Aufwand im Einzelfall reproduzierbar ist? Welches Produkt würde entstehen, wenn man diese Schritte weglassen oder anders erledigen könnte? Welche Probleme des Mandanten könnten durch ein solches Produkt gelöst werden, und wie wird diese Lösung im besten Fall besser, schneller, kostengünstiger, leichter verständlich, einfacher verwertbar etc. als die des Ausgangsprodukts?

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Bei dem schon beschriebenen Fremdpersonaleinsatz-Tool von CMS liegt der Schlüssel der Skalierbarkeit darin, dass zwei Schritte, die die manuelle Prüfung durch den Anwalt aufwändig machen, anders erledigt werden: Die Erfassung des Sachverhalts wird an den Mandanten ausgelagert, der einfach verständliche Fragen in einer Online-Maske beantwortet. Die Ermittlung der rechtlichen Einschätzung anhand der Antworten übernimmt ein Algorithmus und das Ergebnis wird dem Nutzer direkt angezeigt. Wichtig ist zu verstehen, dass dieses Produkt nicht für alle denkbaren Fallkonstellationen des Einsatzes von Fremdpersonal eine automatische Problemlösung schaffen soll, sondern nur für die Fälle, bei denen eine eindeutige Antwort im Rahmen der erfassten Informationen automatisch ermittelt werden kann. Das adressierte Kundenbedürfnis ist daher, in genau diesen Fällen eine schnelle und kostengünstige Antwort zu erhalten, ohne einen Anwalt einschalten zu müssen.

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Bei Rechtsprodukten wie dem Wissensportal aosphere wird die rechtliche Subsumtion zur Lösung von Fällen an den Mandanten ausgelagert. Das (anwaltliche) Produkt beschränkt sich darauf, die hierfür erforderliche Wissensgrundlage abstrakt in einer für den fachkundigen Anwender optimal verwendbaren und über viele verschiedene Rechtsordnungen hinweg einheitlich aufbereiteten Form bereitzustellen und aktuell zu halten.29 Der Mehrwert für den Kunden besteht also nicht in der Prüfung eines Einzelfalles durch den Anwalt mit einem Ergebnis, für das der Anwalt haftet, wie dies bei einem sonst in vergleichbaren Konstellationen üblicherweise beauftragten Gutachten der Fall wäre. Der Erfolg von aosphere zeigt, dass auch mit einem deutlich weniger weitgehenden Produkt ein bestehendes Kundenbedürfnis befriedigt werden kann, und dass Mandanten auch bereit sind, hierfür zu zahlen.

II. Digitale Produkte erfordern neue Abrechnungs- und Geschäftsmodelle

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Wenn bei Rechtsprodukten die anwaltliche Leistung im Einzelfall eine geringere oder gar keine Rolle mehr spielt, eröffnen sich Abrechnungs- und Geschäftsmodelle, die für digitale, skalierbare Produkte typisch sind. Bei Self-Service-Produkten bieten sich Nutzungsgebühren oder Flatrates an. Nutzungsgebühren sind meistens leistungsbasiert, z. B. eine feste Gebühr für jeden Download oder jede Verwendung eines bestimmten Dokuments oder für die Ermittlung eines bestimmten Ergebnisses wie bei dem Fremdpersonal-Tool von CMS. Flatrates sind oft zeitbasiert, z. B. als Monats- oder Jahresgebühr, und hängen in ihrer Höhe oft von der Anzahl der Personen ab, die das Produkt nutzen können (nutzerbasierte Abrechnung). Es gibt auch 40Mischformen, z. B. eine einmalige Nutzungsgebühr verbunden mit einer zeitbasierten Aktualisierungsgebühr, wie bei dem MiFID-Produkt von Simmons & Simmons.30

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Für viele Anwälte ist es ein großer gedanklicher Schritt vom traditionellen stundenbasierten Geschäftsmodell zu digitalen Abrechnungsmodellen. Wer diesen Schritt wagt, eröffnet sich Chancen auf Gewinne, die den meisten Anwälten verwehrt bleiben. Das wirtschaftliche Potenzial digitaler Produkte liegt darin, dass sie skalierbar sind, also mit wenig Aufwand und Kosten im Einzelfall immer wieder produziert werden können. Die laufenden Kosten eines Angebots wie aosphere für den Kundenservice, die Aktualisierung der Inhalte und die Wartung der Plattform steigen nicht oder nur sehr gering, wenn neue Abonnenten gewonnen werden. Man spricht betriebswirtschaftlich von geringen Grenzkosten. Schaffen es Anwälte, ein skalierbares Rechtsprodukt erfolgreich zu vermarkten, können sie Gewinne in einer Dimension erzielen, die man sonst nur von erfolgreichen Unternehmen der Digitalwirtschaft kennt. Dies gleicht auch einen Kannibalisierungseffekt aus, der kurzfristig eintreten kann, wenn zuvor lukrative stundenbasierte Tätigkeiten durch digitale Angebote ersetzt werden. Die Aussicht auf große Gewinne kann helfen, einen durch mögliche Kannibalisierungseffekte hervorgerufenen internen Widerstand zu überwinden.

III. Hohe Anfangsinvestitionen sind notwendig

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Wer zu Gewinnen aus digitalen Produkten kommen möchte, muss neue Risiken in Kauf nehmen, die es beim traditionellen anwaltlichen Geschäftsmodell nicht gibt. Die Entwicklung digitaler Produkte erfordert hohe Anfangsinvestitionen. Ein Kostenblock ist die notwendige technische Ausstattung. Je nach Produkt kommt man hier mit vorhandener Software aus, die lediglich konfiguriert werden muss. Ein Beispiel ist das Tool Neota Logic31, das die technische Grundlage unter anderem für den „ContractorCheck“ von Norton Rose Fulbright32 sowie das MiFID-Tool von Clifford Chance ist. Solche Tools bieten einen Rahmen, innerhalb dessen mit verschiedenen Werkzeugen einfache juristische Anwendungen („Apps“) erstellt und z. B. auf der Kanzleihomepage veröffentlicht werden können. Auch für die Entwicklung eines Prototyps („rapid prototyping“) können diese Tools gut geeignet sein. Kommt man mit diesem Werkzeugkasten aus, fallen an Kosten für Software lediglich Lizenzgebühren an, die je nach Tool aber auch schnell fünfstellig pro Jahr werden können.

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Oft sind die Anforderungen an juristische digitale Produkte so individuell, dass lizenzierbare Software allein nicht ausreicht. In diesem Fall bleibt nur der Weg der Eigenentwicklung. Einige Kanzleien in Deutschland haben hierfür bereits eine eigene Abteilung mit angestellten Software-Entwicklern etabliert oder planen dies, andere greifen auf Agenturen oder Freelancer zurück. Im Regelfall sind die Kosten für eine Individualprogrammierung deutlich höher als bei lizenzierten Softwareprodukten. Hinzu kommt, dass die Kosten – anders als bei regelmäßig fällig werdenden Lizenzgebühren – anfallen, bevor das Produkt am Markt eingesetzt werden kann. Hier bietet es sich an, nicht in einem Schritt die alles könnende Lösung produzieren zu wollen, sondern in kleinen Schritten vorzugehen. Startpunkt wäre ein sogenanntes MVP (= „minimum viable product“), das gerade so gut ist, dass es ein minimales Kundenbedürfnis zufriedenstellend löst.33 Dieses Produkt wird bereits zum Einsatz beim Kunden gebracht und damit so früh wie möglich einer Bewertung am Markt ausgesetzt. Besteht es diese Bewährungsprobe, wird es den Kundenwünschen entsprechend weiterentwickelt. Dabei bietet sich 41die Methode der agilen Softwareentwicklung34 an. Besteht das Produkt den ersten Test dagegen nicht, wird es noch einmal grundlegend verändert oder die Entwicklung wird komplett eingestellt – in diesem Fall hat die falsche Einschätzung des Kundenbedürfnisses nur minimale Fehlinvestitionen verursacht.35

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Neben dem Aufwand für Softwareentwicklung gibt es bei der Erstellung von digitalen Rechtsprodukten Aufwand, den Anwälte betreiben müssen, um ihr Spezialwissen so zu dokumentieren und aufzubereiten, dass daraus ein skalierbares Produkt entstehen kann. Bis zum Beispiel mithilfe der automatischen Dokumenterstellung Schriftsätze, Verträge, Gutachten etc. so produziert werden können, dass diese als Rechtsprodukt am Markt bestehen, ist eine Menge juristische Arbeit nötig. Diese juristische Arbeit müssen Anwälte als Spezialisten in ihrem Rechtsgebiet selbst erbringen, denn das in vielen Kanzleien wenig oder nicht einheitlich dokumentierte und daher nur in den Köpfen vorhandene Erfahrungswissen muss in eine neue, universelle Struktur gebracht werden. Nur dann kann es in einer automatisierten Anwendung genutzt werden. Besondere Anforderungen hat die Entwicklung von Self-Service-Produkten, bei denen die manuelle anwaltliche Beteiligung im Einzelfall so weit wie möglich reduziert werden soll. Hier muss der gesamte Interaktionsprozess zwischen Anwalt und Mandant auf ein automatisches Software-Interface verlagert werden. Vieles von dem, was Anwälte im persönlichen Dialog intuitiv können, z. B. die für die Erfassung des Sachverhalts geeigneten Fragen zu stellen oder bei Bedarf passende Erläuterungen zu geben, muss in allen möglichen Facetten vorgedacht und vorbereitet werden und in einen Online-Dialog integriert werden.36

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Beim Design eines digitalen Produkts müssen Anwälte es daher schaffen, sowohl für die Sachverhaltserfassung mit dem Kunden als auch für die rechtliche Bewertung von der gewohnten Einzelfall-Perspektive auf eine abstrakte Ebene zu wechseln, die alle denkbaren Einzelfälle (die das Produkt bedienen soll) in den Blick nimmt und diese in ein übergeordnetes System bringt. Der hierfür erforderliche anwaltliche Aufwand ist bei den meisten Legal Tech-Projekten höher als die Kosten für Lizenzen und Softwareentwicklung, wenn man den Wert dessen betrachtet, was Anwälte in der verwendeten Zeit sonst hätten erwirtschaften können (Opportunitätskosten). Im Vorfeld wird dieser Aufwand von Anwälten oft unterschätzt und auch hier bietet es sich an, mit einem möglichst kleinen, genau abgegrenzten MVP zu starten. Für angestellte Anwälte oder Partner von (großen) Sozietäten kann ein zu großer Aufwand schnell zum Problem werden, wenn die in ein Legal Tech-Projekt investierte Zeit in die Kategorie der „non-billables“ fällt. Ein innovationsfreundliches Umfeld in einer Kanzlei setzt daher Anreizstrukturen voraus, in denen die Investitionen Einzelner honoriert und auch bei der Verteilung der daraus entstehenden Erträge berücksichtigt werden.

IV. Return on Investment

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Um hohe Anfangsinvestitionen digitaler Rechtsprodukte zu refinanzieren und im laufenden Betrieb in die Gewinnzone zu kommen (Break-Even), ist ein gewisses Umsatzvolumen notwendig. In den meisten Fällen wird es nicht ausreichen, ein digitales Rechtsprodukt nur an bestehende Mandanten zu verkaufen, sondern es müssen neue Kunden außerhalb des bestehenden Vertriebsnetzwerks gewonnen werden. Dies setzt Marketing und Vertrieb in einer Weise voraus, die für fast alle Anwälte ungewohnt ist. Hierfür gibt es jedoch Spezialisten, die dies gut können. Anwälte werden diese Herausforderungen am besten bewältigen, wenn sie sich auf 42Arbeitsteilung im Team auf Augenhöhe auch mit Nicht-Anwälten einlassen37 oder komplett neue Strukturen für die Vermarktung digitaler Produkte schaffen, wie dies Allen & Overy mit aosphere getan hat.

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