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Dracula jagt Mini-Mädchen

Sie kamen nachts und sie kamen in Schwarzweiß. Irgendwo in einem Kinderzimmer in der schwäbischen Provinz lehrten sie einem Jungen, der an diesem Abend zu lange aufgeblieben war, das Fürchten. Warum hatten ihm seine Eltern nur einen eigenen Fernseher ins Zimmer gestellt? Ihn, obwohl er noch zur Grundschule ging, jetzt mit dieser Gruselmaschine allein gelassen? Dracula jagt Mini-Mädchen. So hieß der Vampirfilm. Sein erster Vampirfilm. Die Mattscheibe des TV-Geräts war zwar klein und musste das Rot des Blutes noch mühsam in Grautöne übersetzen. Doch das reichte für eine Nacht des Schreckens. Obwohl er die meiste Zeit wegschaute, sich unter einem Kissen vergrub, nur immer wieder vorsichtig hervorschielte. Als Dracula endlich aufgespießt war, sich erst in ein ekliges Skelett und dann in Staub verwandelte, konnte der Junge trotzdem nicht schlafen. War der Vampir wirklich für alle Zeiten vernichtet? Weil kein Knoblauch oder Weihwasser zur Hand war, ließ er das Licht an und das Radio den schlimmen langen Rest der Nacht laufen. Doch am nächsten Tag auf dem Schulhof war er der Held. Er hatte zwar nicht selbst Dracula, den Fürsten der Finsternis, besiegt, hatte ihm nicht mit eigener Kraft einen Pfahl ins Herz gerammt, ihn der Sonne ausgesetzt, ihn brennen oder ertrinken lassen oder ihm wie dieser Dr. van Helsing mit einem Spaten den Rest gegeben. Es genügte aber, seinen Mitschülern von diesem überstandenen Vampirfilm zu berichten, um als tollkühn und furchtlos zu gelten. Zumindest eine große Pause lang.

Natürlich ließe sich heute mehr Eindruck schinden, wenn ich behaupten könnte, dass ich das erste Mal einem Vampir bei der Lektüre von John Polidori, Sheridan Le Fanu oder Bram Stoker begegnet wäre, beim Schauen der Filmklassiker von Friedrich Murnau oder Tod Browning. Doch so läuft die »Vampir-Sozialisation« in der Regel nicht ab. Seit dem 19. Jahrhundert versorgt die Unterhaltungsindustrie jede Generation eifrig mit Trash- und Trivial-Vampiren. Für mich war es irgendeine Wiederholung des von dem britischen Schundspezialisten Hammer Films produzierten Streifens Dracula jagt Mini-Mädchen aus dem Jahr 1972. Für frühere Generationen waren es die Schauermelodramen, die Mitte des 19. Jahrhunderts die europäischen Bühnen überschwemmten, oder die penny dreadfuls, die Grusel-Groschenromane, die folgten. Anderen ist der Blutsauger vielleicht das erste Mal in der Trickfilmreihe Graf Duckula, in Kinderbüchern wie Der kleine Vampir oder in zahnlosen Teenie-Romanzen wie Vampire Diaries, Twilight oder House of Night begegnet.

Der berühmteste Vampir ist zwar immer noch der transsilvanische Graf Dracula aus Bram Stokers Klassiker – jener Graf also, den später Bela Lugosi und Christopher Lee zu einer Gruselmarke machten –, doch Dracula hat inzwischen zahllose Nachfolger gefunden, die Lestat de Lioncourt, Edward Cullen, Rüdiger von Schlotterstein, Damon Salvatore, Zoey Redbird, Selene, Spike, Blade oder Graf Zahl heißen, und die mal in einer kindlich-spaßigen, mal in einer kitschig-pubertären, mal in einer düster-erwachsenen Vampirwelt zu Hause sind. Der Vampir hat sich seit dem 18. Jahrhundert immer weiter ausgebreitet und dabei mehrere Metamorphosen erlebt: Erst war er mythisch-folkloristisches Grabgespenst, dann Objekt wissenschaftlich-publizistischer Diskussionen und Polemiken, er verwandelte sich in eine literarische und in eine filmische Figur, wurde schließlich zum Superstar der Popkultur.

Der berühmteste aller Vampire: Bela Lugosi als Graf Dracula mit Helen Chandler als Mina Seward in Tod Brownings Film Dracula aus dem Jahr 1931.

Wie es dazu gekommen ist, erzählt dieses Buch. Es verfolgt den Vampir zurück in das Jahr 1725, als die Leiche eines serbischen Bauern namens Peter Plogojowitz gepfählt und verbrannt wird und erstmals das slawische Lehnwort Vampyri in einem historischen Bericht auftaucht. Es lässt ihn nicht aus den Augen, als sich im 18. Jahrhundert das »Vampirfieber« auf der europäischen Landkarte ausbreitet und sich der Blutsauger bald schon als politische Metapher verkleidet. Es schaut genau hin, wie der Vampir in der Romantik als (Anti-)Held Karriere macht, wie er im 19. Jahrhundert in John Polidoris Kurzgeschichte Der Vampyr, Joseph Sheridan Le Fanus Novelle Carmilla und Bram Stokers Roman Dracula zum Bestseller wird. Es blickt staunend auf die vielfältigen Verwandlungen, die der Vampir im 20. und 21. Jahrhundert in Filmen, Romanen und TV-Serien erlebt hat und weiterhin erlebt. Und es zeigt, dass sich der Blutsauger nun auch in Lovestorys, Coming-of-Age-Dramen, Science-Fiction-Thrillern, Komödien, Kampfsport- oder Actionspektakeln heimisch fühlt und dass die literarischen und filmischen Vereinnahmungen des Vampirmythos, egal wie weit sie sich ins Fantastische wagen, stets auch etwas über die Zeit verraten, in der sie entstanden sind.

Zwar kommen viele Bücher, Filme und TV-Serien in diesem Band vor – Stephen Kings Brennen muss Salem und Anne Rice’ Chronik der Vampire ebenso wie Stephenie Meyers Twilight-Saga, Roman Polanskis Tanz der Vampire oder Joss Whedons Buffy – Im Bann der Dämonen; den Vampir in allen seinen Verstecken aufzustöbern ist aber unmöglich: Dazu gibt es inzwischen zu viele. Schon der kleine Junge, den Dracula jagt Mini-Mädchen das Fürchten lehrte, wusste: Ihn einmal in Staub zu verwandeln, reicht garantiert nicht aus, um einen Vampir totzukriegen.

Vampire tun so was: Typologie eines europäischen Monsters

Der Vampir als Mythenmix

Falls Sie diesen Band gekauft haben, weil Sie bei dem Titel Vampire auf ein zoologisches Handbuch getippt haben, muss ich Sie enttäuschen. Hier geht es nicht um eine Fledermausart, die auf dem amerikanischen Kontinent heimisch ist, sondern um einen in Europa entstandenen Mythos. Die Vampirfledermäuse (Desmodontinae) sind zwar nachtaktiv und die einzigen Säugetiere, die sich vom Blut anderer Lebewesen ernähren, – aber wenn sie gefürchtet werden, dann nicht, weil ihr Biss tödlich wäre (ist er nämlich nicht), sondern weil sie Krankheiten übertragen können. Sie sind auch nicht wirklich Blutsauger, sondern sie ritzen mit ihren scharfen Zähnen die Haut ihrer Opfer auf und lecken dann deren Blut. Warum nennt man sie dann Vampire? Weil Biologen Humor haben. Auch für ein Protein im Speichel einer südamerikanischen Fledermausart haben sie den Namen vom Nachtgespenst aus den Schauergeschichten geborgt und es Draculin getauft. Nerds lieben solche Scherze.

Sie werden in diesem Buch auch nichts über Batman lesen. Obwohl sich dieser Comicheld nachts gerne in ein Fledermauskostüm zwängt, ist er kein Vampir und will auch keiner sein. Einziger Berührungspunkt zur Vampirmythologie ist eine Graphic-Novel-Trilogie von Doug Moench und Kelley Jones, die aus den Bänden Red Rain (1991), Bloodstorm (1994) und Crimson Mist (1999) besteht, in der Batman auf Dracula trifft und in einen Vampir verwandelt wird.

Außerdem werden Sie hier nichts über uralte Vampirlegenden erfahren. Die gibt es nämlich nicht. Der Vampir, wie wir ihn heute kennen, ist kein Dämon, der altertümlichen Überlieferungen entsprungen ist, sondern eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, also der Frühmoderne. Er ist ein Monster, das davon zehrt, dass sich die Welt in einem immer schneller werdenden sozialen Transformationsprozess befindet, ein Ungeheuer, dessen Wesen von Verwandlung und Eroberung bestimmt ist.

Zwar werden gerne antike Mythen hervorgezerrt, die vampirähnliche Heimsuchungen andeuten: die babylonische Gottheit Lilith, der Maya-Fledermausgott Camazotz, der Ghul Aswang der philippinischen Mythologie. Natürlich kann man bei archaischen Dämonenmythen oder Einverleibungsritualen, bei denen es mal um das Trinken des Bluts, mal um Kannibalismus geht, Aspekte des Vampirmythos entdecken. Auch lassen sich Parallelen zwischen dem Vampirismus und dem mittelalterlichen Nachzehrer- und Wiedergänger-Glauben, der vor allem im slawischen Raum, aber auch in Deutschland verbreitet war, erkennen. Der Begriff Vampir taucht aber erst im 18. Jahrhundert auf – und mit ihm entsteht eine ganz eigene dämonische Spezies, die, wie der Kulturwissenschaftler Norbert Borrmann feststellt, ein hybrides Fantasiewesen ist, das Merkmale von mindestens fünf Kreaturen magischer Glaubensvorstellungen in sich vereint: »erstens die Wiedergänger; zweitens die Alp-ähnlichen, nächtlich heimsuchenden Geister; drittens Wesen von der Art der blutsaugenden Stryx des Altertums; viertens Hexen aus slawischen und balkanischen Gebieten, die auch nach ihrem Tod noch Schaden anrichten, und fünftens die Werwölfe.«

Dieser absonderliche Mythenmix, aus dem der Vampir als europäisches Monster der Moderne entstanden ist, macht es schwer, ihn mit Definitionen einzufangen. Der Kulturwissenschaftler Erik Butler versucht zum Beispiel, ihn mit vier Eigenschaften einzukreisen: 1) der Vampir befindet sich in einem metaphysischen Zustand zwischen Leben und Tod; 2) er raubt anderen die Lebenskraft und nimmt sie in sich auf (in der Regel, indem er ihr Blut trinkt); 3) der Vampir tötet seine Opfer oder verwandelt sie in Wesen, die ihm selbst gleichen; 4) er trotzt den Gesetzen von Raum und Zeit und hat das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten. Für den Duden, der es offensichtlich nicht so abstrakt mag, ist der Vampir ein »Toter, der nachts als unverwester, lebender Leichnam dem Sarg entsteigt, um Lebenden, besonders jungen Mädchen, Blut auszusaugen, indem er ihnen seine langen Eckzähne in den Hals schlägt«. Das klingt zwar griffig, weil sich aber Romanautoren, Filmemacher, Showrunner oder Comiczeichner nicht unbedingt darum scheren, was im Duden steht, trifft diese Definition oft nicht zu – etwa bei der Wahl des Schlafplatzes, der bevorzugten Jagdzeit und beim Beuteschema. Und auch die Waffen der Vampirjäger variieren. Nicht jeder Vampir verabscheut Knoblauch, kann mit Weihwasser und einem Kruzifix geschwächt und durch Tageslicht, Köpfen und einen Holzpflock, der durchs Herz gerammt wird, getötet werden.

Tatsächlich begnügen sich die meisten Vampir-Definitionen damit, die Eigenschaften aufzuzählen, die sich Bram Stoker für seinen Graf Dracula ausgedacht hat. Lord Ruthven aus Polidoris Der Vampyr schläft dagegen wie die meisten Vampire nicht in einem Sarg, Edward Cullen aus Stephenie Meyers Twilight-Saga hat kein Problem mit religiösen Symbolen, und obwohl er entsetzlich bleich ist, schadet ihm ein Sonnenbad nicht. Und um einen Strigoi aus Richelle Meads Vampire Academy-Reihe umzubringen, bedarf es mindestens eines Silberpflocks.

Da halte ich mich dann doch lieber an Erik Butlers abstrakte Vampir-Definition und möchte sogar noch zwei Kategorien ergänzen, an die man vielleicht nicht sofort denkt, wenn man diesen Dämon beschreiben will, die ihn aber auf mehreren Bedeutungsebenen bestimmen: der Vampir als Verwandler und der Vampir als Eroberer. Was damit gemeint ist, lesen Sie in den nächsten beiden Abschnitten. All jenen, die lieber endlich Blut spritzen sehen wollen, empfehle ich, zum nächsten Kapitel vorzublättern.

Der Vampir als Verwandler

Der Vampirstoff zählt zu den Lieblingsmythen der Trivialliteratur und der Popkultur. In Romanen, Filmen, Fernsehserien, Comics, Videospielen, Rocksongs trifft man auf den Vampir. Er kann sich als Gruselmonster, dämonischer Verführer, als Witzfigur oder Teenieschwarm verkleiden. Er ist ein Verwandlungskünstler, der alles sein und alles bedeuten kann. »Der Kern dieses Monsters besteht in seiner Affinität zu Brüchen, zum Wandel und zur Veränderung«, stellt Erik Butler fest. Für Norbert Borrmann verkörpert der Vampir »Sexualität, Machtgier, Schmarotzertum, Sucht, Verbrechertum, Dämonie, aber auch den Traum vom ewigen Leben«. Der Germanist Hans-Richard Brittnacher spricht von der »Elastizität« des Vampirs. Er erscheine mal »als Sinnbild einer entmachteten und rachsüchtigen Aristokratie, mal als Symbol nymphomanischer Weiblichkeit, mal als das eines maßlosen Don-Juanismus, mal wird mit ihm der Stalinismus gebrandmarkt, mal das Franco-Regime, mal die Jesuiten, dann wieder sind es Bürokratie, venerische Krankheiten oder die Furcht vor neueren wissenschaftlichen Entdeckungen wie Hypnose und Magnetismus, die im Vampir ihr Bild gefunden haben«. Man kann dem Vampir mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse, mit der feministischen Theorie und dem Dekonstruktivismus zu Leibe rücken oder ihn als Phänomen des Postkolonialismus historisch erklären. Kein Wunder also, dass Erik Butler zu dem Schluss kommt: »Vampir ist eine Metapher, die Amok läuft.«

Aber nicht nur metaphorisch ist der Vampir ein Verwandlungskünstler: »Was ist das für ein Mensch, oder vielmehr, was für eine Kreatur verbirgt sich da in Menschengestalt?«, fragt Jonathan Harker in Bram Stokers Dracula, nachdem er beobachtet hat, wie der Graf eidechsenartig an der Mauer entlanggekrochen ist und wie sich sein Mantel wie ein Paar großer Flügel um ihn ausgebreitet hat. Dracula, der zu einer Art attraktiv-aristokratischem Prototyp des Vampirs avanciert ist, wird zu Beginn des Romans greisenhaft geschildert, ist später seltsam verjüngt. Er ist mal Fledermaus, mal Wolf, mal Nebel.

Dracula ist in Stokers Roman ein bösartiges Chamäleon, ein Meister der Assimilation, ein Gestaltwandler. Er führt damit exemplarisch die Metamorphosen vor, die das Bild des Vampirs seit dem 18. Jahrhundert erfahren hat. Zwar wird der Vampir oft mit Adelstiteln bzw. -prädikaten ausgestattet – Lord Ruthven, Sir Frances Varney, Gräfin Mircalla Karnstein, Graf Dracula, Lestat de Lioncourt, Rüdiger von Schlotterstein –, trotzdem: »Die aristokratische Kleidung und das lässig-elegante Auftreten, die heute üblicherweise mit dem Vampir in Verbindung gebracht werden, sind nur zwei von vielen Attributen, die ihm zugeschrieben werden«, stellt Butler fest.

Der Vampir ist stets ein Kind seiner Zeit: ein aus seinem Grab wiederkehrender rosig aufgeblähter Bauernleichnam, ein geheimnisvoll-schwermütiger Graf, ein untoter New-Wave-Rebell mit cooler Frisur, ein blasser Teenager mit guten Manieren. »Der Schrecken, den der Vampir ausübt, beruht auch darauf, dass er sich genauso schnell wie das moderne Leben bewegt und verwandelt«, schreibt Erik Butler, »es ist unmöglich zu wissen, in welcher Form der Vampir das nächste Mal zuschlägt.« Diese Fähigkeit unterscheidet ihn von den meisten anderen Ungeheuern und Dämonen, die sich die Menschheit ausgedacht hat: Während sich Geister und Werwölfe zum Beispiel im Lauf der Zeit relativ wenig verändern, »passen sich Vampire den Kulturen an, in denen sie leben«, schreibt die Anglistin Nina Auerbach, »sie teilen mit uns unsere intimsten Beziehungen; sie sind scheußliche Eindringlinge ins Normale«.

Zwar ist der Vampir stets flexibel, sucht und findet immer wieder die Schwachstellen der Gesellschaft, um sich an diesen zu nähren, er bleibt aber »Grenzgänger zwischen zivilisatorischer Normalität und archaischer Ausschweifung«, wie die Kulturwissenschaftlerinnen Julia Bertschik und Christa A. Tuczay schreiben. Es gibt stets einen Bruch zwischen ihm und dem Rest der Welt. Trotz aller Assimilationsbemühungen fällt er zum Beispiel durch fremdartiges Aussehen, seinen exotischen Akzent, sein aristokratisches Auftreten oder seine