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ERIKA WIMMER MAZOHL

Meran

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise durch die Stadt der Villen und Promenaden

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2017

Fotos: © Erika Wimmer Mazohl

ISBN E-Book: 978-3-99100-208-6

Inhalt

Meran, du Schöne

Das Steinachviertel

Rundgang durchs alte Meran I

Hier flanierten sie alle: Künstler vergangener Zeiten

Die Lauben

Rundgang durchs alte Meran II

Spaziergang auf den Spuren des „Fremden“

Die jüdische Gemeinde in Meran

Vom schwierigen Zusammenleben

Vielstimmige Szene in einer offenen Stadt

Treffpunkt Untermais

Rundgang durchs andere Meran

Villenbesuche

Camping, Pferdegalopp und Lido

Radwege durchs andere Meran

Über die Leute zur Gegend–Ausflüge

Empfehlungen

Danke!

Literatur

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Merano è un laboratorio di idee, una città sperimentale /
Meran ist ein Ideen-Laboratorium, eine experimentelle Stadt

Gigi Bortoli

Meran, du Schöne

Warum fährt man nach Meran? Wegen die schianen Platzln. Und warum kehrt man nach Meran zurück? Wegen die schianeren Platzln. Die schöneren Plätze sind die interessanten, lebendigen und ganz und gar gegenwärtigen Plätze, und davon gibt es in Meran tatsächlich viele. Diese Orte sind vor allem bewegt – oft auch geschaffen – von Menschen, die sich etwas mehr einfallen lassen, als nur vom Tourismus zu leben. Es sind Orte, an denen kulturelle Werte durchaus im Widerspruch, auf jeden Fall aber in engagierter Auseinandersetzung entstehen.

Meran, einst Sitz der Grafen von Tirol, hat seine politische Bedeutung längst eingebüßt und ist mit knapp 39.000 Einwohnern nicht gerade groß. Doch die viel besuchte alte Kurstadt ist ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum Südtirols und eine Kulturstadt mit Tradition. Baumeister, Literaten, Künstler, Musiker haben sich, so sie es sich leisten konnten, hier aufgehalten, einige haben Meran porträtiert – in Schrift und Bild. Und noch heute erweist sich die Stadt als überraschend vielstimmig, wenn es um Kunst und Kultur geht; zahlreiche Meraner Künstlerinnen und Künstler haben längst Anschluss an die internationalen Kunstzentren gefunden.

Wer nach Meran kommt und sich einlesen will, erfreut sich an einer großen Palette ausgezeichneter Literatur über den Ort und seine Geschichte; einiges davon konnte in dieses Buch einfließen, wofür ich zu danken habe – siehe die Literaturliste im Anhang. Daneben ist es dieser spezielle Mikrokosmos, der seine Anziehungskraft ausübt, und den kann man nur selbst erkunden – einige persönlich gefärbte Tipps werden die Leserinnen und Leser hier immerhin finden. Im Kleinen gibt es noch zahlreiche Aspekte und Nischen, die nicht in die Meran-Bücher Eingang gefunden haben, die unspektakulären Dinge oder auch Orte, die sich im Verborgenen entfalten oder nicht als herzeigbar gelten – nicht alles, was interessant ist, ist auch im herkömmlichen Sinn schön.

In diesem Buch steht das Meran der Meranerinnen und Meraner im Mittelpunkt – und das heißt zuallererst: Wir haben es mit einem Ort zu tun, der gleichermaßen italienisch wie deutsch ist. Dafür spricht die Geschichte: Das faschistische Regime hat in der Zwischenkriegszeit die urbanen Zentren Südtirols durch eine Reihe von Italianisierungs-Maßnahmen, darunter die Ansiedlung von Arbeitern aus dem Süden Italiens, nachhaltig verändert. Die wenigsten wissen, dass Meran noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine „Heeres-Stadt“ war (worauf noch heute die vielen, meist leer stehenden Kasernen hinweisen), dass auffallend viele Soldaten das Straßenbild prägten – was erst so richtig auffiel, als sie abgezogen waren: Die abgestürzten Umsätze der Meraner Gastronomie machten die Absenz des Heeres schmerzlich spürbar.

Die Stadt ist ein beliebtes Urlaubsziel. Man lebt hier nolens volens mit dem Tourismus, manche umschiffen ihn, andere machen ihn für das eigene Tun nutzbar. Von den Meraner-Innen kann man jedenfalls lernen, wie man Touristenströmen ausweicht – am Beispiel des Schlosses der Schlösser lässt sich das exemplarisch zeigen.

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Schloss Tirol

… über der Stadt thronend und weithin zu sehen – ein absolutes Muss für alle Besucherinnen und Besucher? Ja, unbedingt. Aber bitte nicht zur Hauptsaison im Tross mit Jederneckermann – es sei denn, man will den fünfzehnminütigen Fußweg von Dorf Tirol bis zum Schloss (zwischen Dorf und Schloss besteht Fahrverbot) im Rudel mit anderen Touristen zurücklegen, um dann die Schlossmuseumsmeile wieder mit all den anderen Besuchern zu durchlaufen – oder nach einer halben Stunde den Museumsshop aufzusuchen, um ein Buch zu kaufen, das einem weitere Besichtigungsbemühungen erspart.

Warum nicht gleich anders? Es gibt Gelegenheiten für einen ganz anderen Schlossbesuch – zu einer Zeit, da der Touristenstrom nicht gar so groß ist. Im Spätherbst zum Beispiel, wenn die Landschaft einen herben Reiz verströmt, oder im Herbst bei stürmischem Wetter, wenn Nebelfetzen den mächtigen Bergfried umtanzen. Man muss den Turm, den Bergfried, in dem Tirols Geschichte der letzten hundert Jahre von ganz unten bis ganz oben Vitrine für Vitrine dokumentiert ist, unbedingt erklimmen, schon allein, um den sagenhaften Ausblick auf das Meraner Becken zu genießen und die Schlossanlage von oben in den Blick zu nehmen. Schloss Tirol ist von 15. März bis 10. Dezember täglich außer Montag von 10 bis 17 Uhr geöffnet, im August von 10 bis 18 Uhr.

Oder man nutzt einen der Anlässe, der die MeranerInnen zu ihrem Schloss hinaufzieht, weil es etwas Spezielles zu sehen gibt, zum Beispiel eine der hochkarätigen Ausstellungen, die droben immer wieder gezeigt werden. Wenn in Meran Hochsaison ist, geht man allerdings am besten erst abends aufs Schloss: Die Sommer-Soireen sind seit vielen Jahren wohlüberlegte Kulturangebote mit dem Ziel, den eindrucksvollen Rittersaal nicht museal, sondern ganz normal für die Allgemeinheit zu öffnen, ihn mit Musik oder einer literarischen Darbietung zu beleben. Den Schlosshof, den man sonst vielleicht nur durcheilt, kann man in der Pause bei einem Glas Weißwein als angenehm umfriedeten Aufenthaltsort genießen und ganz nebenbei dem Südtiroler Slang rundum ein Ohr leihen. Der nächtliche Rückweg nach Dorf Tirol wird im ersten Teil von Fackeln beleuchtet; die Aussicht auf Merans Lichtersee ist ebenso schön wie der Ausblick am Tag. Hat man bequeme Schuhe an (oder zum Wechseln dabei) und ist nicht mit dem eigenen Auto, sondern mit dem Bus nach Tirol gefahren, geht man in einer Sommernacht am besten überhaupt zu Fuß in die Stadt zurück – Taschenlampe nicht vergessen! Hat man erst einmal die von Hotels gesäumten Straßen der Ortschaft hinter sich gelassen, um in den Segenbühelweg, später den Tirolersteig einzufädeln, steht einer romantischen kleinen Wanderung nichts mehr im Weg. Der Tirolersteig endet bei der Pfarrkirche St. Nikolaus, also ganz im Zentrum.

Auch für das Hinauffahren bietet sich eine sehr zu empfehlende Variante an: Man nähert sich Schloss Tirol nicht von Dorf Tirol, sondern von der Westseite her. Da es oben keine Parkplätze gibt, steigt man im Zentrum in den Bus nach Schloss Thurnstein, wo man im Sommer auf der Terrasse sitzend einen Kaffee trinken kann; von hier führt ein Fußweg in zwanzig bis dreißig Minuten zum Schloss. Auf dem Weg liegt der sonnige Weiler St. Peter, ein echtes Kleinod, das man wie nebenbei, doch nicht in Eile mitnimmt: Man sollte sich ein wenig Zeit nehmen, die kleine romanische Kirche mit Fresken aus dem dreizehnten Jahrhundert und den lauschigen Friedhof zu besuchen.

Meran, die Schöne. Die Stadt ist sowohl, was das Klima, die Lage und die Umgebung, als auch, was die Architektur und das städtische Leben angeht, in der Tat etwas Besonderes: Das Raue, die hohen Berge, die nahe gelegenen Gletscher und das südlich Weiche gehören gleichermaßen zu Meran. 300 Sonnentage im Jahr lassen den hiesigen Wein allerfeinst gedeihen, und wunderschön ist Merans submediterrane Vegetation, die ungewöhnlich ist für die alpine Lage. Die Gärten und Spazierwege und der Großteil des Baumbestandes wurden hier in einer Zeit, als die mittelalterlichen Bäder und der Luftkurort von Trinkkuren verdrängt wurden und der Tourismus im neunzehnten Jahrhundert ähnlich wie im Schweizer Davos überregionale, ja internationale Dimensionen erreichte, gezielt angelegt.

Auch für mich als Boznerin mit reichlich Meraner Verwandtschaft ist Meran der schönere Ort meiner Kindheit. Dass meine Verwandten in einem berühmten Luftkurort wohnten, interessierte mich damals nicht, und die Information, dass Palmen und Glyzinien hier deshalb so gut gedeihen, weil die Winter mild und trocken sind, hätte mich gelangweilt. Doch die für Meran charakteristische Vegetation faszinierte mich schon als kleines Mädchen; die Bäume, die am dichtesten den Stadtteil Obermais, aber auch viele andere Bezirke in auffallender Weise prägen1, lösten Geschichten und die eine oder andere Fantasterei in mir aus. Heute schätze ich die prachtvollen Baumriesen als Augenweide und Schattenspender auf meinen Spaziergängen. Während man in Scharen zu den Gärten von Schloss Trauttmansdorf pilgert, wende ich auf meinen Wegen den Blick einfach nach oben und erfreue mich der mächtigen Baumkronen oder der bizarren Zweigformationen einzelner Baumexoten. Und dann diese herrlich sprechenden Namen, schon allein darüber ließen sich viele Geschichten erzählen: Atlaszeder, Stieleiche, Arizona-Zypresse, Gelbkiefer, Sommerlinde, Spitzahorn, Südlicher Zürgelbaum, Judasbaum, Stechpalme, Italienische Zypresse, Seestrandkiefer, Glanzmispel, Libanon-Zeder …!

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Große Araukarie mit Blick zur Kapelle der Zenoburg

1Im digitalen Baumkataster der Gemeinde Meran erhält man Informationen zu jedem einzelnen Baum und zu den Meraner Naturdenkmälern: http://www.umwelt.gemeinde.meran.bz.it/baeume

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1Pfarrkirche St. Nikolaus

2Postbrücke

3Sandplatz

4Ansitz Kallmünz

5Bozner Tor

6Museum Palais Mamming

7Passeirergasse

8Hallergasse

9Steinachplatz

10Passeirer Tor

11Steinerner Steg

12Santer Klause

13ost west club

14Moujo

15Offizin S.

16Steinachpassage

17Wandelhalle

18Café Darling

Das Steinachviertel

Rundgang durchs alte Meran I

Wo die Uhren anders gehen – Spaziergang mit Franz Pichler

Sähe man die Stadt als Körper, wäre der Fluss Passer die Wirbelsäule Merans, die die Teile zusammenhält und stützt. Zwischen den beiden zentralen Flussübergängen, der Theater- und der Postbrücke, könnte man Merans Kopf lokalisieren, denn hier befindet sich der Kern dessen, was die Identität eines Fremdenverkehrsortes ausmacht: Freiheitsstraße mit Kurhaus, Cafés und Stadttheater einerseits, seit 2005 die Therme Meran andererseits. Die Berg- und Wasserlauben wären zwei kräftig ausgreifende Arme, und das historische Steinachviertel das Herz, von dessen unablässigem Schlagen mehr abhängt, als man sich gemeinhin bewusst ist.

Kommt man in eine fremde Stadt, so sucht man zuallererst nach der Altstadt, die in der Regel auch das Zentrum ist. Das Steinachviertel mit der Pfarrkirche, zu Füßen des Küchelberges gelegen, ist der älteste Teil Merans und auch von seinem Flair her die eigentliche Altstadt. Es entstand einst auf den steinigen Ablagerungen der Passer, die von Norden her ins Meraner Becken fließt und dort in die Etsch mündet. Der Flur- und Siedlungsname „Steinach“ kommt auch in der Nachbargemeinde Schenna vor, wo der Ortskern am Schnuggenbach mundartlich „Schtuenich“ heißt, außerdem in Algund, wo sich das Kloster Maria Steinach an der Etsch befindet. „Schtuene“ oder „Schtoaner“ – die Steine wurden vom Wasser aus dem Tal geschoben und hier abgelagert, der Name Steinach bedeutet so viel wie „eine Menge Steine“.

Als die Grafen von Vinschgau sich im zwölften Jahrhundert hier niederließen und sich Grafen von Tirol nannten, begann die kleine und bis dahin unbedeutende römische Siedlung zu wachsen und zu prosperieren, wurde im Lauf der Jahrzehnte zur befestigten Ansiedlung, bekam eine Münzpresse und schließlich im Jahr 1317 eine Stadtordnung. Adelige und Bürger siedelten sich in Steinach an, die Bautätigkeit nahm zu, Gewerbe und Handwerk blühten. Parallel zum Aufstieg der Grafen von Tirol wurde Meran zu einem wichtigen Zentrum und zur Hauptstadt von Tirol. Die Stadt lag ja zu Füßen von Schloss Tirol, das war das eine. Andererseits war es die verkehrsgeografisch günstige Lage an der Kreuzung der wichtigen Straßenverbindung von Bozen zum Reschenpass mit dem uralten Talweg durch das Passeiertal und den Jaufenpass nach Sterzing, wodurch Meran zunehmende Bedeutung erlangte. Doch die politischen Verhältnisse änderten sich rasch, das Land Tirol wurde 1363 durch Margarete Maultasch den Habsburgern zugesprochen, in der Folge der Hof nach Innsbruck, die Münzpresse nach Hall verlegt. Das bedeutete für Meran den Niedergang; die Stadt fiel in einen jahrhundertelangen Dornröschenschlaf und erwachte erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als sich genau hier ein Gesundheitsund damit ein Fremdenverkehrszentrum entwickelte. Es war ausgerechnet eine Habsburgerin, die den Wandel einläutete: Einer der bekanntesten frühen Gäste war Marie-Louise von Habsburg, die zweite Frau Kaiser Napoleons. Keine Frage, dass sich daraufhin weitere prominente Gäste einstellten – doch davon später und an anderer Stelle. In den engen Gassen des Steinachviertels mag man sich weniger an die Belle Époque erinnern als eher in das Mittelalter und seine Lebensart zurückversetzt fühlen.

Obwohl in unmittelbarer Nähe des Pfarrplatzes, bleibt das Viertel von sehr vielen Touristen unentdeckt. Und das ist wohl auch gut so, denn wer hier zu Hause ist, wer hier seine Gaststätte aufsucht oder sein Atelier betreibt, legt Wert darauf, etwas abseits vom Rummel zu leben. Andererseits kann man den Eindruck bekommen, dass das Viertel im Verhältnis zum sonst so gepflegten Meran etwas vernachlässigt wird, was daran liegen mag, dass hier keine touristisch verwertbare Infrastruktur unterzubringen ist.

Die Touristen jedenfalls werden vom Süden kommend über die Postbrücke und linker Hand zum Kurhaus geführt. Oder sie überqueren die Brücke und gehen dann geradeaus, lassen den Sandplatz rechter Hand liegen und gelangen über das Bozner Tor zum Pfarrplatz, wo sie zunächst bei drei Marktständen verweilen und sich schließlich nach links Richtung Lauben wenden. Allenfalls besuchen sie noch die Pfarrkirche und das benachbarte, frisch renovierte Palais Mamming, einen der schönsten Frühbarockbauten Südtirols und seit Kurzem als Museum der Öffentlichkeit zugänglich. Doch dann kehren die meisten Touristen um und tauchen in das pulsierende Geschäftsleben im historischen Ambiente der Lauben ein.

Mich zieht es aber meistens als Erstes in die Gassen des Steinachviertels. Es ist von überschaubarer Größe, besteht im Wesentlichen aus der Passeirergasse, der Valentin-Haller-Gasse, dem Bozner und dem Passeirer Tor sowie dem Ansitz Kallmünz und dem Steinachplatz. Einen ersten Rundgang hat man schnell gemacht, doch im Steinachviertel tut man gut daran, nicht durchzueilen, sondern sich aufzuhalten. So klein es ist, so eindrücklich sind die Erlebnisse, die man hier haben kann, wenn man sich nur Zeit lässt. Will man wirklich etwas erleben, muss man hinter die Fassaden blicken und die eine oder andere Schwelle übertreten, um mit denen, die hier leben und arbeiten, ins Gespräch zu kommen.

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Das Passeirer Tor, Blick von Süden

Zunächst aber ein Blick auf die historischen Häuser, die die Gassen säumen: In der Passeirer- und der Hallergasse ist die alte Bausubstanz noch weitgehend erhalten, einige Gebäude wurden sorgfältig restauriert, andere hätten einen gewissen Aufputz nötig, wieder andere stehen in ihrer historischen Substanz da – außen wie innen komplett erhalten. Diese Häuser sind Denkmäler alter Zeiten, deren Schönheit sich erst auf den zweiten und dritten Blick erschließt, sie liegt im Schrägen, Schiefgewordenen und in vielen aus den Jahrhunderten herübergeretteten Details an Türen, Toren, Fenstern und Dachsimsen; in manchen Häusern sind unter dem Putz noch gotische Malereien zu finden. Einige Gebäude stehen augenscheinlich leer – man erkennt die Patina von Jahrhunderten und erfreut sich an dem etwas morbiden Charme. Auch die teilweise noch erhaltene, aus unterschiedlich großen Steinen bestehende Pflasterung der Gassen ist bemerkenswert, daneben auch aufschlussreich: Der Bach, der hier durchging, die Steinach, wird heute unterirdisch zur Passer geleitet – jenem Fluss, der Meran in zwei Teile teilt. Die mittigen großen Steinplatten, die die Ritschen – alte Wasserkanäle – abdecken, deuten den unterirdischen Bachverlauf an. Eine der Ritschen verlief vom Passeirer Tor bis zum heutigen Bahnhof.

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Die Passeirergasse mit Blick Richtung Norden

Über Passeirer- und Hallergasse gelangt man zum Passeirer Tor, dem Kern des alten Meran, einem optisch reizvollen Ort. Über dieses Tor kamen die Bauern „vom Pseier“ in die Stadt herein, wanderten Arbeiter und Handwerker hinaus, und diese arbeitsbedingten Fußmärsche liegen noch gar nicht so lange zurück. Während des Krieges wanderte meine Großmutter väterlicherseits, eine Witwe mit vier Kindern, durch das Passeirer Tor und weiter zu den Höfen rund um Kuens oder Riffian, um Butter und Speck gegen andere Waren oder auch gegen Arbeit einzutauschen. Mein Vater, der sehr jung im Krieg war und nach einem langen Lazarettaufenthalt einigermaßen heil nach Meran zurückkehrte, brachte eineinhalb Kilo Salz mit. Salz war ein begehrtes Tauschmittel zu jener Zeit, es ermöglichte der Familie das Überleben. Meiner Großmutter, dieser von mir hochgeschätzten Frau, werden wir noch einmal begegnen, wenn von den alten Laubenhäusern die Rede ist.

Man ist aber auch hier nicht immer zu Fuß gegangen; zu Zeiten, als wie an anderen Orten auch in Meran der Individualverkehr zunahm, gab es Stau, Lärm und Hektik. Der Transitverkehr von und in das Passeiertal wurde bis in die 1960er-Jahre durch das enge Tor geleitet, wodurch auch ganz Steinach bis zum Pfarrplatz von regelrechten Blechlawinen heimgesucht wurde. Das ist heute kaum noch vorstellbar, und ebenso wenig nachvollziehbar ist es, dass es offenbar in der Gemeinde den Vorschlag gab, das Passeirer Tor abzureißen, um die Straße verbreitern zu können. Hätte man nicht nach anderen Lösungen gesucht, gäbe es einen der lauschigsten Plätze Merans heute nicht mehr. Es wurde schließlich eine Straßenvariante entwickelt, die unweit der Gilf über eine neue Brücke führt und zumindest das alte Viertel entlastet. Für andere Stadtviertel, etwa Untermais, ist das allerdings immer noch keine befriedigende Lösung.

Heutzutage ist es im Steinachviertel ziemlich ruhig. Wollte man von der Stadt ins Grüne gelangen, könnte man durch das Passeirer Tor nach kurzer Wegstrecke über den Steinernen Steg zur gegenüberliegenden Seite der Passer und zurück in die Stadt gelangen. Das Passeirer Tor erinnert an die Stadtmauern, die im Mittelalter da verliefen, wo heute die Häuser dicht aneinanderstehen. Ich überschreite diese Grenze nicht, sondern verweile noch im Steinachviertel. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Gebäudeensemble Santer Klause und Hohes Haus. Die Santer Klause am Eck war bis vor wenigen Jahren ein Gasthaus mit getäfelter Stube, Kachelofen und einem Gastgarten mit altem Rebstock – hier konnte man zur Hausmannskost gemütlich einen Krug Wein genießen. Derzeit ist das Wirtshaus bedauerlicherweise und hoffentlich nur vorübergehend zugesperrt. Im gegenüberliegenden Haus mit gelber Fassade und der Aufschrift „Antiquariat“ wohnte der Henker der Grafschaft von Tirol, im Mittelalter wurde also nicht nur bei einem Krüglein Wein, sondern auch zu Gericht gesessen. Neben dem Scharfrichter in Hall bei Innsbruck gab es in ganz Tirol nur diesen einen Henker, dessen Arbeitsplatz wie üblich etwas außerhalb der Stadtmauern lag: Hingerichtet wurde in Sinich bei Meran. In der Nähe des Hauses, in dem der Henker sich von einer Vollstreckung erholte, gab es übrigens auch zwei Freudenhäuser – das obere und das untere Frauenhaus, wie sie genannt wurden. Die Prostituierten mussten als Erkennungszeichen blaue Maschen am Kleid tragen, wenn sie in die Stadt gingen. Im ehemaligen unteren Frauenhaus wohnte zuletzt der erfolgreiche Skirennläufer Erwin Stricker, der schon während seiner aktiven Zeit und auch danach durch technische Neuerungen zur Entwicklung des alpinen Skisportes beigetragen hat und damit erst recht bekannt wurde. Er entwickelte gebogene Skistöcke, einen aerodynamischen Helm für die Abfahrtsläufer und vor allem die sogenannten Geierschnabel-Skispitzen. 1979 ließ er die erste Schneekanone Südtirols aufstellen.

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Gilfschlucht, Blick von der Gilfpromenade

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Von der Sommerpromenade gelangt man über den Steinernen Steg nach Steinach.

Doch im Mittelalter wurde in dieser Ecke des Steinachviertels nicht nur zu Tode verurteilt, gesoffen und gehurt, schon damals blühte hier auch allerlei Handwerk. Bei Aushubarbeiten in einem jahrhundertealten Keller an der rechten Torseite wurde eine alte Färberei entdeckt, ein Betrieb, den man bereits von Bildern her kannte: Der über viele Jahre und bis zu seinem Tod 1886 in Meran lebende Hamburger Maler Friedrich Wasmann hatte diese auf einigen seiner Gemälde verewigt.

Der Bildhauer Franz Pichler, mit dem ich eine Runde drehe, wohnt seit vierzig Jahren in Steinach und erinnert sich an zahlreiche frühere Geschäfte und Handwerksbetriebe im Viertel. Einst gab es hier einen Schuster, eine Schmiedewerkstätte und eine Metzgerei, außerdem einen Antiquitätenladen, der gesteckt voll mit Waren war. Die Inhaberin des Ladens erzählte Pichler, einmal seien Leute aus Deutschland gekommen und hätten nach langem Suchen um wenig Geld einen Rahmen erstanden, in dem noch ein altes Bild steckte. Ein Jahr später seien sie wiedergekommen, um das ganze Geschäft umzudrehen. Nach Stunden gestanden sie der Besitzerin, in dem Rahmen, den sie gekauft hatten, habe sich ein echter Picasso befunden.

Pichler weiß Geschichten zu erzählen, er weiß, in welchem Haus der Blumenladen, wo der Krämer oder der Tischler untergebracht war. Alles, was man für das tägliche Leben brauchte, konnte man vor dreißig Jahren noch in Steinach kaufen. Hier hatte man sogar das Trachtengeschäft der Stadt, man konnte authentische Trachtenstoffe und sämtliches Zubehör erstehen und sich das Gewand bei einem Trachtenschneider nähen lassen. Allmählich aber verschwand ein Geschäft nach dem anderen, auch die Handwerksbetriebe sperrten zu. Das war auch die Zeit, in der man hier verhältnismäßig billig ein Haus erwerben konnte.

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Der Künstler Franz Pichler auf dem Oberen Pfarrplatz

Heute stehen zwar immer noch viele der ehemaligen Häuser leer, doch es leben und arbeiten in den Gassen des Viertels wieder mehr kreativ tätige Menschen: Es gibt ein paar Läden, in denen Kunsthandwerk verkauft wird, die Schneiderin Gabriele Bertagnolli, die in ihrem Atelier Moujo afrikanische Stoffe zu tragbar schönen Kleidern verarbeitet, der Drucker und Betreiber der literarisch und künstlerisch affinen Offizin S. Meran, Siegfried Höllrigl, die Buchbinderin Brigitte Maria Widner, der in Österreich und Norditalien gut vernetzte Künstler Jakob de Chirico und der Aktionskünstler Matthias Schönweger. Wechselnde Kulturarbeiter im ost west club sorgen dafür, dass Musikveranstaltungen, Lesungen und Ausstellungen über die Bühne gehen. Meinhard Graf Khuen stellt sein Schloss Kallmünz samt dessen Gärten immer wieder auch für Kulturveranstaltungen zur Verfügung. Dass man im Steinachviertel sogar an einem buddhistischen Zentrum vorbeikommt, verwundert kaum.

Doch vieles ändert sich auch sehr rasch: Die Milchbar am Eck, ehemals ein Lokal für Junge und Junggebliebene, ist verschwunden. Eine Zeitlang wurde mittels eines Plakates für eine entsprechend würdige Nachfolge geworben: „die ehemalige milchbar als treffpunkt im herzen des charismatischen steinachviertels sucht einen guten geist, der die vision, ein lebhaftes steinachegg entstehen zu lassen, in die tat umsetzen möchte.“ Jetzt hat hier Tara, ein Architektenduo, das Büro. Ein Althaus, das ebenfalls einem Architekten gehört, wurde renoviert, sehr schöne Ferienapartments werden dort vermietet. Und in einem im Hinterhof errichteten Neubau in der Ortensteingasse 4 gibt es seit Mai 2016 die exquisite OOA Gallery, doch schon im Dezember 2016 wurde klar, dass ihr Standort von kurzer Dauer sein würde: Die Räume wurden verkauft und werden demnächst als Wohnung genutzt.

Künstler haben immer wieder in Steinach gewohnt und gearbeitet. Der impressionistische Maler Leo Putz, dessen wunderbares Werk von den Nazis als entartet klassifiziert wurde, ist hier geboren (Steinachplatz 23). Der Zeichner, Dichter und Kunstkritiker Peter Lloyd besaß und bewohnte das Haus Santer Klause. Und Pichler hatte gemeinsam mit Matthias Schönweger und Jakob de Chirico ein Atelier in der Hallergasse – die drei mischten in den 1970er-Jahren als linke Rebellen das Meraner Kulturleben auf und waren nicht überall gern gesehen. Während Pichler mich auf meinem Spaziergang durch Steinach begleitet, erzählt er, er habe mit Gilbert von Gilbert & George, dem berühmten britischen Künstlerpaar, an der Akademie in München studiert. Von St. Martin in Thurn aus startete der Ladiner Gilbert Proesch eine internationale Karriere. Doch Pichler neidet ihm den Erfolg nicht, er zieht dem hektischen Kunstbetrieb die ruhige Lebensqualität und die Nähe zu geschätzten Menschen vor. Gute Nachbarschaft wird in Steinach großgeschrieben; tatsächlich treffen wir auf unserem Weg immer wieder einen von Pichlers Bekannten und alle haben Zeit für ein Gespräch. Auch ich verhalte mich schon ein bisschen wie die Steinacher.

Wann immer ich in dieser Gegend vorbeikomme, statte ich dem Moujo in der Passeirergasse 25, wo sich früher die Metzgerei Moosmaier befand, einen Besuch ab, nicht zuletzt der Begegnung mit sympathischen Leuten wegen. Doch auch der Ladeninhalt zieht an: Farbenfrohe Kleidungsstücke im african style – vorwiegend für Damen, daneben auch Herrenhemden – leuchten einem hier entgegen. Gabriele Bertagnolli bezieht ihre Stoffe aus England, weil diese die traditionellen afrikanischen Muster aufweisen, aber farbecht hergestellt werden; so kann das Kleidungsstück mit der Waschmaschine gewaschen werden. Bertagnolli hat dreißig Jahre lang als Restauratorin für Plastiken und Gemälde gearbeitet, schon ihr Vater war Restaurator. Doch dann die Wende: Wie ihre Mutter wurde sie Schneiderin, nähte und verkaufte Heimtextilien, Pölster und Tischwäsche. Seit sie Sidi Diallo begegnet ist, wird hier Kleidung genäht, alljährlich eine neue Kollektion gefertigt und öffentlich vorgestellt. Das Schöne ist: Man kann sich nach diesen Modellen ein Kleid maßanfertigen lassen, und das auch noch zu erschwinglichem Preis.

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Gabriele Bertagnolli und Sidi Diallo vor ihrem Geschäft in der Passeirergasse

Direkt nebenan befindet sich der nonkonformistische ost west club est ovest, so der vollständige Name, der von der politisch gewollten sauberen ethnischen Trennung in Südtirol nichts hält und Wert darauf legt, Kultur für beide Sprachgruppen, die deutsche wie die italienische, anzubieten. Der ost west club versteht sich als Kultur- und Kommunikationszentrum, hierher kommen die alternativen MeranerInnen, nicht die Touristen. Ein jeder, der in dem kleinen Lokal im Beisl-Stil ein Bier trinken will, muss – so verlangt es die Gewerbeordnung – Clubmitglied werden. Um wenig Geld kann man den Touristenstatus ablegen, einfach dazugehören und damit zum Beispiel einen vergnüglichen Abend mit einer Live-Jazzband verbringen. Vom ost west club wird noch öfter die Rede sein.

Im Steinachviertel gehen die Uhren ein wenig anders, hier herrscht der Geist einer Gruppe von Menschen, die mehr in der Selbstverwirklichung als dem reinen Gelderwerb ihre Lebensqualität suchen, abseits von Konsum und Hektik einem alten Handwerk nachgehen oder Kunst und Kultur von der Basis her pflegen wollen. Es sind Menschen, die noch ihre Nachbarn kennen und mit ihnen in Austausch stehen wollen, die sich in ihrem Tun und Lassen immer wieder neu erfinden. Das bedeutet allerdings, dass nicht alle Unternehmungen, die heute gedeihen, auch morgen noch an derselben Stelle zu finden sind.

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Murales in der Passeirergasse, 2006 gemalt von den Künstlern Blu und Erica il Cane aus Bologna

Vom Handwerk zur Kunst – zu Besuch in der Offizin S.

Die vielen verschiedenen Handwerksbetriebe – Metzger, Bäcker, Schuster –, die bis in die 1960er-Jahre in Steinach vertreten waren, sind verschwunden. Doch da und dort wird verschüttetes Wissen wieder ans Tageslicht geholt und der heutigen Zeit angepasst – so etwa in der Offizin S. von Siegfried Höllrigl, Valentin-Haller-Gasse 5. Hier, im Elternhaus des Druckers, wird das Druckerhandwerk nach altem Stil, doch keineswegs rückwärtsgewandt betrieben: Seit 1985 wird es als Werkstatt für Literatur, Typographie und Graphik belebt, seit 1984 außerdem als Galerie geführt. Die Galerietätigkeit wurde zuletzt mit regelmäßigen Frühjahrs- und Herbstausstellungen mit Künstlern aus der Region und dem Ausland intensiviert.

Bei aller Pflege, derer ein so altes Haus immer bedarf, wird hier bewusst nichts verändert; Bausubstanz und Innenausstattung sind noch ganz so, wie sie früher waren: im Erdgeschoss die zwei Räume der Druckerwerkstatt, in der Höllrigl bibliophile Lyrikausgaben und Einzeldrucke mit Texten namhafter Autorinnen und Autoren von Hand mit Bleilettern setzt. Das Inventar besteht aus originalen Bleisetzkästen, Typen, verschiedenen Druckpressen und Druckmaschinen, die Höllrigl sich von überallher beschafft hat. Er hat sogar zwischen 1993 und 2000 das historische Original einer Druckpresse aus dem sechzehnten Jahrhundert renovieren lassen, um dann eine ebensolche Presse aus Nussholz nachbauen zu können – die sogenannte Rigoberta.

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Im Fenster der Offizin S. hängen die jeweils neuen Plakate von Siegfried Höllrigl.

Siegfried Höllrigls Ausstattung mit Seltenheitswert dient Erlesenem aus Literatur und bildender Kunst. Jedes Druckwerk basiert auf einem persönlichen Kontakt. Seine Beziehungen hat Höllrigl seit 1993 vornehmlich beim Lyrikpreis Meran geknüpft, bei dem immer wieder namhafte Dichterinnen und Dichter anwesend sind. Höllrigl hat Texte von bekannten Autorinnen wie Sarah Kirsch und Margarete Hannsmann gedruckt, seine Beziehungen reichen bis zu Friederike Mayröcker in Wien oder Kurt Drawert in Darmstadt. Doch gedruckt werden nicht nur Texte, sondern auch Zeichnungen, Holzschnitte und andere Grafiken von Künstlern aus dem In- und Ausland. Darüber hinaus ist Höllrigl nicht nur ein zu gepflegter Typografie neigender Drucker, sondern selbst auch Schriftsteller, u. a. Verfasser von Gedichten. Als Sechzigjähriger ging er in drei Monaten zu Fuß von Meran nach Istanbul und führte dabei Tagebuch, was sich in einem literarischen Reisebericht – 2011 unter dem Titel Was weiß der Reiter vom Gehen als Buch erschienen – niedergeschlagen hat.

Vom Erdgeschoss führt das Treppenhaus nach oben, wo eine Küche, ein Depot und zwei weitere Räume entweder für größere Einladungen oder für Kunstausstellungen zur Verfügung stehen. Nicht nur das Gespräch über Kunst, Literatur und Gesellschaft, auch die Gastfreundschaft ist in diesem Haus ein deutliches Thema. Und am Ende ist es vor allem das Gespräch unter Freunden, das man von einem Besuch in der Offizin S. mitnimmt.