MURIEL MARONDEL

Lieber Tod, wir müssen reden

Für alle Väter und potenziellen Väter. Ihr seid wichtig.

Und für alle Trauernden und potenziell Trauernden, also eigentlich für alle. Ihr seid nicht allein, auch wenn es manchmal so scheinen mag.

MURIEL MARONDEL

Lieber Tod wir müssen reden

WARUM TRAUER VOLL OKAY IST

Inhalt

Vorwort

30. April 2017

Kein Geplätscher

1. Mai 2015

Attacke!

Vom Sinn und Unsinn von Tapferkeitsmedaillen

Vier Wochen später – Der Absteiger der Woche

Einer flog übers Kuckucksnest

Ich bin zu viel. Viel zu viel zu viel

Was weiß ich schon von dir?

Papa ist nun acht Wochen tot – Leer getrunkene Tassen

Trauer ist nicht sexy

Zwei Wochen später

Ich wollt, ich könnt dich tragen

Klagelied

Milch und Honig

Trauer ist Liebe

Wage es, dir selbst ein Licht zu sein

Trauer, das ist ein Berg aus Schmutz und Edelsteinen

Trauer ist voll okay

Trauer kommt nicht in Schablonenform

Vom Tod meiner Texte

Eine Annäherung

Warten auf Cori – Wie man dem Tod ins Auge blicken kann

Wie wir dem Tod begegnen können – Gespräch mit Cori

Der Tod ist auch nicht mehr das, was er mal war – Sterben damals und heute

La mer

Von roten Abendsonnen und schönen Fingernägeln

Alejandra – Der Tod, das muss ein Mexikaner sein

Mindfuck – Lieber Tod, wir müssen reden

Memento mori ’17

Die neun Eigenschaften des Todes – Ein kleiner Exkurs in den Buddhismus

Wurzeln re-visited – Ich schreib mir meine eigene Versöhnung

Von der Suche nach Rauchzeichen aus dem Totenreich

Helga, die Sternenkinder-Bestatterin

Tanz, Trauer, Tanz!

Zähe Tiere

Der große Manitu

Danksagung

Literaturverzeichnis

Vorwort

»Warum gerade, du Papa?« Als mein Vater im Jahr 2013 an Krebs erkrankte, konnte ich nur erahnen, welch schwerer Weg ihm und uns in den kommenden eineinhalb Jahren bevorstehen würde. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte ich in einer Welt, in der meine Eltern für mich unsterblich waren. Niemals hätte ich geglaubt, dass er, mein großer, starker Papa, mit Mitte 50 plötzlich am Ende seines Lebens angekommen sein würde. Seinem Tod ging eine Zeit körperlicher Qualen voraus, eine Zeit des Bangens und der Hoffnung. Als er den Kampf gegen den Krebs verlor und starb, fühlte sich das schreiend ungerecht an, und ich wurde von meinem Verlustschmerz in Tiefen gerissen, die ich niemals zuvor erlebt hatte. Auf einmal war mein geliebter Vater fort. Und er würde niemals mehr zu mir zurückkommen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich mich oft. Ich fühlte mich in einer Gesellschaft, in der dem Tod und der Trauer so wenig Raum gegeben wird, orientierungslos und sogar fehl am Platz. Also begann ich, mir meine Orientierung selbst zu suchen. Meine Gefühle, meine Fragen und meine Antworten habe ich in diesem sehr persönlichen Buch niedergeschrieben. Nicht als Ratgeber, denn ich glaube fest daran, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Sondern vielmehr als Begleiter, der Anstöße zum Weiterdenken und neue Blickwinkel schenken kann. Für all jene, die sich entschieden haben, sich mit dem Tod bewusst auseinanderzusetzen. Und ganz sicher auch für jene Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Vielleicht kann meine Geschichte eine Verbündete sein, die sagt: »Ich sehe dich. Ich kenne diesen Schmerz. Komm mit, ich erzähle dir, wie es bei mir war. Vielleicht findest du auch etwas von dir in ihr. Und vielleicht kann sie dich streckenweise sogar ein wenig tragen oder dir auf der Suche nach deinen persönlichen Antworten eine Inspirationsquelle sein. Du bist mit dem, was du fühlst nicht allein.«

30. April 2017

Ich habe deinen Geruch vergessen. Manchmal, da hole ich deinen Pullover aus dem Schrank und inhaliere ihn. So tief es geht, tue ich das, in der Hoffnung, ich könne dich in seinem Stoff noch einmal finden. Jetzt sind es auf den Tag genau zwei Jahre, als ich ihn zu mir nahm. Und seitdem weiß ich, dass man nichts aufhalten kann. Auch nicht das Vergessen.

Das Licht der Sonne scheint sanft in mein Gesicht, und auf den weiten Nebelfeldern, die ich an mir vorbeiziehen sehe, drehen sich unzählige Windräder. Das, was ich sehe, mutet wie ein Sinnbild der Erfahrungen an, die ich machte – in der Zeit nach jenem Tag, an dem ich dich zum letzten Mal sah: Etwas steht ganz still, weil es muss. Und etwas dreht sich ganz schnell weiter, womöglich auch, weil es muss. Aber, was soll ich dir sagen: Die Welt von heute Morgen, die ist wieder schön.

Die Ästhetik dieser Landschaft, von der ich nicht weiß, wo sie eigentlich genau liegt, und die Musik aus meinen Kopfhörern helfen mir dabei, mich aus dem Hier und Jetzt des Zugabteils in meine Innenwelt zu stehlen. In eine Welt, in der ich noch mit dir sprechen kann. Ich möchte die Stimme des Schaffners nicht hören, nicht einen einzigen Gesprächsfetzen meiner Mitreisenden aufschnappen müssen. Keine Banalitäten. Nur heute nicht.

Es gibt Dinge, die hätte ich dir gern erzählt. Zum Beispiel, dass ich es mag, in Zügen zu reisen, aber nur in den schnellen. Langsamkeit ertrage ich nur schwer. Ich brauche den Rhythmus von großen Städten, in deren Anonymität ich mir einen eigenen Kosmos erschaffen kann. Ich mag Straßenbeleuchtungen. Ich mag die Stimmen, die aus der Bar im Erdgeschoss nachts zu mir in den vierten Stock hallen. Ich lasse das Fenster dann immer offen, und die Hintergrundgeräusche bringen mich zum Einschlafen. Ich werde ruhig, wenn ich Menschen leben höre.

Ich glaube, das ist ein Relikt aus meiner oft zutiefst langweiligen Dorfkindheit. Ich hatte das Gefühl, der Öde des Dorfes nie ganz entfliehen zu können. Und nachts, nachts, da war es oft viel zu still. Du warst zu selten da, als dass ich dir es hätte erzählen wollen. Und ich zu selten, als dass ich es dir hätte erzählen können. Wir waren beide wohl immer zu schnell unterwegs.

Wie an jenem Tag vor zwei Jahren bin ich jetzt auf dem Weg zu dir. Damals tatsächlich, heute nur sinnbildlich. Seitdem ist so vieles geschehen. Ich bin umgezogen, und du warst zum ersten Mal nicht dabei. Stell dir vor, ich habe mir sogar ein eigenes Bett gebaut! Vieles habe ich gelernt, was ich vorher nicht wusste. Weil ich es nicht wissen musste. Manches ist auch gleich geblieben: Den Tisch, den du mir aus dem alten Überseekoffer aus Südamerika gemacht hast, den habe ich immer noch. Ich glaube ja, du hast deine Liebe in Dinge hineingebaut. In diesen Stücken steckt, was du vielleicht nicht in Worte fassen konntest. So vieles hättest du noch sagen können, mit deinen großen, rissigen Händen. Oft denke ich an das bunte Holzhaus mit den Blumenkästen, das du für uns Mädchen in den Garten im öden Dorf gebaut hast. Lange war mir solch Nostalgie fremd.

Letztens, da sah ich einen Film von Almodóvar. Es war ein seltsamer Film, so wie alle seine Filme seltsam sind. Aber, weil ich weiß, dass du Almodóvar mochtest, habe ich ihn mir bis zum Schluss angesehen. Es ging um Tod, und es ging um Trauer, um Scham und um Vergebung. Es ging um sprachlose Eltern und um sprachlose Kinder, und alles war sehr melodramatisch. Das kennen wir ja selbst. Ich suche dich also auch in der Kunst, die dich begeisterte. Und denke an dich, wenn ich Kunst entdecke, die mich begeistert.

Musik. Immer. Heute Morgen höre ich Benjamin Clementine – und das passt so fürchterlich gut zu dir. Ein bisschen, aber nicht genau wie Nick Cave: entrückt, tief, voller Melancholie und Textkunst. Wunderschön und anstrengend zugleich. Getrieben singt er, manchmal sehr traurig. Wie jemand, der lange nicht genug geliebt wurde. Und deshalb die Musik machen kann, die er eben macht.

Manchmal, wenn ich in Berlin über die Kantstraße laufe, stelle ich mir vor, dich zu sehen. So, wie du einmal warst, als du hier lebtest, ich dich aber nicht kennenlernen konnte, weil es vor meiner Zeit lag. Ich stelle mir vor, wie die Straßen in den späten 70er-Jahren hier ausgesehen haben und wie du wohl so warst – jünger, als ich es jetzt bin. Ein hübscher, verlorener Junge. Ein Wehrdienstverweigerer, vielleicht auch einfach nur ein Verweigerer. Was hast du so getragen? Eine Jeans-Schlaghose? Eine Flasche Merlot unter dem Arm? Einen Moustache, der dich etwas älter aussehen ließ, als du tatsächlich warst?

Vielleicht wären wir uns begegnet und hätten uns angelächelt. Manchmal begegne ich Fremden so, ich lache sie einfach an. Spitzbübisch wäre dein Lächeln gewesen. Du hättest deine Mausezähne gezeigt, und wahrscheinlich hätten sich viele kleine Fältchen um die dunkelbraunen Augen gebildet. Vielleicht hättest du dir im Vorbeilaufen eine Strähne deiner langen Haare aus dem Gesicht gepustet. Und dann, dann wärst du schnellen Schrittes weitergezogen. Zu einem Freund, einer Vorlesung oder auf ein Konzert ins SO36. Und beim Vorbeigehen hätte ich kurz einen Windhauch deines Geruchs in der Nase gehabt. Ich hätte ihn mir zu merken versucht und wäre im gleichen schnellen Schritt wie du in die nächste Straße gebogen. Ich mag den Gedanken, dass du Teil dieser Stadt warst, dass du hier irgendwann einmal Spuren hinterlassen hast. Selbst wenn ich heute die einzig sichtbare bin.

Ich denke an die Erzählungen über deine erste Wohnung. Die mit Außenklo, auf der Sonnenallee, in der Nähe des Grenzübergangs. Und an die Geschichte von deinen Fahrten in den Ostteil der Stadt, bei denen du einen Freund besuchtest und ihm Dinge brachtest, die es dort nicht gab. Meistens waren es Schallplatten oder Bücher. Es war eine besondere Freundschaft, sagtest du. Geschichten erzähltest du gern, und ich hörte nie aufmerksam genug zu. Deshalb erinnere ich mich nicht an die Details dieser Erzählungen. Jene Details, die ich heute bis ins Kleinste aus dir herausquetschen würde – hätte ich gewusst, dass es so kommt, wie es gekommen ist. An was ich mich aber erinnere, ist, dass dein Freund starb und du ahntest, dass er nicht mehr lebte, noch bevor du es erfuhrst. Es war so seltsam und irgendwie mystisch, sagtest du mir.

»Am ersten Mai komme ich wieder«, rief ich dir noch zu. »Ja«, hast du geantwortet. Ich weiß noch, wie du am Rande deines Krankenbettes saßt und versonnen aus dem Fenster blicktest. »Erster Mai«, schobst du hinterher. Es klang, als würdest du etwas sehr Wichtiges betonen. Es war so seltsam und ja, es war irgendwie mystisch.

Am Morgen dieses ersten Tages im Mai, da küsste ich noch einmal deine Stirn und hielt deine große, rissige Hand. Und dann ging ich – vielleicht schnell, vielleicht langsam. Ich ging mit dem Wissen, dass alles, was mir von dir bleibt, die Erinnerungen sind. Und deine Geschichten, die ich zu meinen machen kann. Und der Pullover in meinem Arm, der noch nach dir roch, aber nicht für immer.

Kein Geplätscher

Papa und ich sitzen gerade bei einem späten Frühstück zusammen. Wir sehen uns gemeinsam eine Dokumentation über einen Schweizer Schriftsteller an, dessen originelle und wohlbedachte Worte uns beide erheitern. Als der alte Mann eine Anekdote aus seinem Leben erzählt, wendet sich Papa mir zu und sagt: »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann würde ich sagen, dass ich die intensivste Zeit zwischen meinem 15. und 30. Lebensjahr erlebt hatte. Wohl auch, weil man in dieser Zeit die meisten neuen Erfahrungen macht.« Später, als vierfacher Vater und Ehemann, habe er überwiegend für seine Arbeit gelebt, fürs Geldverdienen. Er dachte immer, »… dass sich das später ausbezahlt.« Und irgendwie sei dieser Arbeitsalltag – immerhin die letzten 25 Jahre –, im Nachhinein betrachtet, oft kaum mehr als ein »Geplätscher« gewesen. Er wolle, dass ich mein Leben anders lebe, betont er dann, und sein Blick geht ins Leere.

Er sieht mich an. Dann sagt er: »Du solltest dir immer neue und intensive Erfahrungen suchen oder selbst erschaffen. Und du solltest sie auskosten. Lass dich nicht vom Hamsterrad dieser Gesellschaft gefangen nehmen. Mach nicht immer nur das Gleiche. Aber lass die Dinge auch manchmal langweilig sein, und genieße es, wenn etwas langsam vorangeht. Wenn du etwas Intensives erlebst, wenn es etwas mit dir macht, dich berührt, dann halte es irgendwie (für dich) fest, schreib es auf.«

Ich sehe ihn an. Und bleibe still. Die Worte meines Vaters machen etwas mit mir. Sie tun verdammt weh. Aber ich spüre auch ein Gefühl der Verbundenheit mit ihm, eine tiefe Dankbarkeit, dass ich ihn noch bei mir habe. Dass er mir das, was er mir sagen möchte, noch sagen kann.

Am nächsten Tag nehmen wir den gleichen Zug. Ich zum Flughafen, um wieder in meinen Alltag nach Berlin zu fliegen. Er wird zur Untersuchung in die Klinik fahren.

Papa wird sterben.

1. Mai 2015

»Jetzt hat er es endlich geschafft.«

Die Worte des Palliativpflegers, der gerade den Raum betreten hat, klingen fern, und ihre unpassende Beschaffenheit schießt durch mich hindurch, ohne dass ich den Hauch eines Widerstandes spüre. Er ist ein Geist, so, wie ich gerade zum Geist geworden bin.

Neben mir liegt die Leiche meines Vaters. Wenige Momente zuvor hat er seine letzten Atemzüge genommen. Schrecklich anmutende Atemzüge. Ein lautes, tiefes, inbrünstiges Schnappen nach Luft. Verzerrt ist sein Gesicht und gezeichnet von der Qual, die er die letzten Monate ertragen musste. Er trägt nichts, außer einem Krankenhaushemd und einer Windel. Seine dünnen Beinchen sind gespreizt, der Oberkörper aufgerichtet, der Kopf abgelegt auf dem Gitter seines Bettes.

Er sieht trotz seiner stattlichen Körpergröße von einem Meter neunzig zart und zerbrechlich aus. Dieser Anblick hat wenig mit dem Mann zu tun, der mich großgezogen hat. Dennoch ist es für mich ein Anblick voller Würde. Denn ich weiß um den Kampf der vergangenen Stunden, ich war ja dabei. Ich weiß auch um die Schläuche, die er sich am Tag zuvor aus dem Mund reißen wollte.

»Nun frisst mich der Krebs ganz auf oder eben nicht«, sagte er der Schwester mit der Bitte, alle Maßnahmen einzustellen.

So lange hatte er gehofft, solange hatten wir alle gehofft. Sein Zustand hat sich dann rapide verschlechtert, und so wurde er heute Morgen auf Mamas Drängen in eine Palliativstation verlegt.

Papa wollte ja, aber Papa konnte einfach nicht mehr leben. Seine Krankheit hatte ihn bis zur absoluten Lebensmüdigkeit gequält. Er war zu diesem Zeitpunkt komplett metastasiert, hatte eine Lungenembolie überstanden und war bis auf die Knochen abgemagert. Die meiste Zeit dämmerte er in seinem Bett vor sich hin, und sein Magen war seit Wochen nicht mehr dazu in der Lage, Nahrung aufzunehmen, und so erbrach er sich ständig. Es war so schwer. All diese Monate waren so unfassbar schwer.

Als ich heute nach 600 Kilometern Fahrt im Krankenhaus ankam und in sein Zimmer eilte, warteten dort meine Mutter und meine drei Schwestern auf mich. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den Ausdruck ihrer Gesichter. Ich erinnere mich nur an den Moment, indem ich Papa erblickte. Er saß auf dem Bett, sein Kopf hing nach unten, während sein Arme und sein Oberkörper unruhig und unkontrolliert hin- und herschwenkten.

»Papa«, sagte ich und wartete auf den Klang jener Stimme, die mich mein Leben lang begleitet hatte. Keine Antwort. »Papa«, wiederholte ich, jetzt flehender. Aber Papas Kopf blieb einfach hängen. »Er reagiert nicht mehr auf uns«, sagte Mama ruhig. Ich sah ihn weiter an, unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. Und da, in diesem schrecklichen Moment, begriff ich, was ich bisher nicht begriffen hatte, vielleicht nicht begreifen wollte: Papa lag bereits im Sterben. Jetzt, nicht irgendwann. Ich wusste plötzlich, dass es keinen Abschied geben würde, wie ich ihn aus amerikanischen Filmen kannte. Ich begriff, dass ich nie mehr mit ihm sprechen würde, dass er mir nicht mehr sagen konnte, was er vielleicht noch hätte sagen wollen, und dass er auch nicht mehr in der Lage war, seine große warme Hand um meine zu legen. Papa konnte nicht mehr kommunizieren. Nie mehr.

Ich wollte mich schreiend zu Boden werfen. Ich wollte die Luft anhalten und umfallen und erst wieder aufwachen, wenn dieser Albtraum ganz sicher vorbei war. Stattdessen wurde ich in diesen dramatischsten Stunden meines bisherigen Lebens – und das war mir selbst unbegreiflich – von einer tiefen Ruhe ergriffen. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich sah es als meine Aufgabe an, ihn jetzt nicht allein zu lassen. Obwohl ich ja wusste, dass das Sterben in seiner letzten Konsequenz das Alleinsein impliziert.

Die Mediziner sagten, es könne noch einige Tage dauern, und so teilten wir uns in mehrere Gruppen auf. Zwei meiner Schwestern fuhren zum Schlafen nach Hause, und Mama, meine ältere Schwester und ich blieben im Krankenhaus. Ich hatte mir ein Bett neben Papas Bett geschoben und blieb dort, die ganze Nacht. Ich dachte nicht viel nach. Während ich dort saß, funktionierte ich einfach, meiner mir selbst erlegten Aufgabe entsprechend. Papa schlief nicht ruhig ein. Während er sich über Stunden immer wieder in seinem Bett aufbäumte, gab er Schreie und ein Wimmern von sich und war über viele Stunden sehr unruhig. Er röchelte jetzt, immer lauter und immer stärker.

»Papa, hab keine Angst«, sagte ich und streichelte seinen Rücken und seinen hängenden Kopf. Und wenn er hustete, hielt ich ihm ein Taschentuch unter den Mund, um die dunkle Flüssigkeit, die er erbrach, aufzufangen. Seine Beine schimmerten bläulich, sein Gesicht wurde grauer, und seine Augen und Wangen sanken mit jeder Stunde, die wir dort wachten, tiefer ein. Viele Stunden saßen wir bei ihm.

Dann, um vier Uhr morgens, passierte es. Auf einmal drehte sich Papa noch einmal um und sagte meinen Namen. Es war wie ein Wunder. Er wusste also doch, dass wir da waren! Blitzschnell verstand ich sein letztes Zeichen: Es war so weit.

»Kommt, schnell«, rief ich Mama und meiner Schwester zu, die sich etwas abseits zum Ausruhen hingelegt hatten.

Das, was dann passierte, war der roheste, tief greifendste, schaurigste, wahrhaftigste und schmerzhafteste Moment meines Lebens. Und obwohl ich wusste, dass Papa unheilbar krank war, hatte mich nichts wirklich auf diesen Moment vorbereiten können: Das erste Mal in meinen Leben sah ich einen Menschen sterben. Ein Mensch, der mir mein eigenes Leben geschenkt hatte, der mit meiner eigenen Existenz auf viele Tausend Arten und Weisen verwoben war, sollte aufhören zu existieren. Und obwohl wir vier dort gemeinsam zusammen waren, musste jeder Papas Leben für sich allein loslassen. Meine Schwester hielt seine Hand, Mama seine Füße und ich Papas Kopf.

Ich hörte meine Mutter Worte der Dankbarkeit für ihr gemeinsames Leben wiederholen. Ich hörte uns alle sagen, dass wir ihn lieben. Irgendwann rief meine Mutter: »Du kannst jetzt gehen.« Ich weiß, er hatte sie einmal gebeten, das zu tun, wenn seine Zeit gekommen sein würde. Aus Papas Mund kam ein tiefes Ächzen. Ich sah ihn immer nur an, die ganze Zeit. Dann machte er keine Geräusche mehr.

»Wo bist du jetzt?«, dachte ich, während ich mit einer eigenartigen Faszination seinen erstarrten, offen stehenden Mund betrachtete. »Tot. Tot.«

Der Raum war von einer seltsamen Stimmung, einer Fremdartigkeit erfüllt, die fast schon übersinnlich wirkte. Ich begriff nicht mehr, als dass hier gerade irgendetwas geschehen war, was ich zuvor noch nie erlebt hatte, was meine Realität neu erschaffen hatte. Während ich das mädchenhafte Schluchzen meiner Mutter wahrnahm – ich hatte sie noch nie so hilflos weinen gehört – erhob ich mich und sah meine Beine, die ich nicht mehr richtig zu spüren vermochte, im grellen Licht des Krankenhausgangs auf- und abgehen. Ich wollte einen klaren Gedanken fassen, wollte weinen, handeln, meine Mutter in den Arm nehmen, sie trösten. Stattdessen lief ich immer weiter. Auf und ab. Und auf und ab.

Ich lief am Zimmer des Palliativpflegers vorbei und sah ihn an. Er sah mich auch an, sagte aber nichts. Dann ging ich in die kleine Eckküche der Station und öffnete wahllos Schränke und Schubladen. Ich dachte an nichts, während ich das tat. Ich tat es einfach. Wie lange ich mich dort aufhielt, um in der erdrückenden Stille Küchentüren auf- und zuzumachen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß, dass ich mich irgendwann wieder auf dem Flur befand. Dort stand ich und horchte.

Nichts.

Die letzte Ruhe nach dem großen Sturm.

Er war fort. Und mit ihm ging mein Leben, so, wie es bisher gewesen war.

Attacke!

Mein Oberkörper fährt nach oben. Die Brust zugeschnürt.

»Atmen! Atmen!!!«, schreit es in mir, aber nicht aus mir heraus. Ich versuche, irgendwie Sauerstoff in meinen Körper zu bekommen, und schnappe mit meinem Mund nach Luft. Reflexhaft und fast animalisch hört sich das an.

Tief nach innen saugen. Nicht ersticken. Ich hole Luft. Ich zittere.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Ich glaube, ich atme. Atmen. Ruhig. Nicht aufhören zu atmen.

Es ist dunkel in diesem Raum, und ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß auch nicht, wer ich bin. Wer bin ich? Ist das echt? Panik überkommt mich in Form von Hitzewallungen und kribbelnden Händen, und ich höre, wie ein unkontrolliertes, fast hysterisches Wimmern meinen Mund verlässt, während sich mein Körper erstarrt und paralysiert anfühlt.

»Hey. Hey, Muriel! Alles ist okay«, sagt eine Männerstimme sanft, aber energisch neben mir und tätschelt meine Hand. »Ich bin da. Alles ist gut. Versuch wieder zu schlafen, mein Schatz«, murmelt die Stimme mit dem französischen Akzent neben mir in das dunkle Zimmer hinein. Langsam zu mir kommend, blicke ich in Zeitlupe in Richtung der sanften Männerstimme.

»Okay, okay Muriel, das bin ich«, schießt es mir durch den Kopf. Ich weiß wieder, wer ich bin.

Ich bin Muriel, und ich befinde mich in Berlin.

Die Männerstimme neben mir, das ist mein Freund Mathis. Ich bin in seiner Wohnung, in seinem Bett. Ich schlafe hier seit Wochen. Weil das, was gerade passiert ist, jede Nacht passiert, seitdem Papa gestorben ist. Oder mich überkommt. Und ich mich nicht mehr traue, allein zu schlafen. Am Anfang hat Mathis mich jedes Mal erschrocken in den Arm genommen. Aber jetzt, jetzt kennt er das schon.

Für einige Momente blicke ich in die Dunkelheit. Niemals zuvor hatte ich solche Zustände erlebt. Ich hatte Ängste erlebt, ja. Vor dem Fliegen oder vor Prüfungen oder einem wichtigen beruflichen Treffen. Ängste, die ich eindämmen konnte, über die ich zumindest eine gewisse Kontrolle hatte. Aber das?

Diese Angst ist etwas anderes. Sie ist eine unkontrollierte Kraft, ein Beben, ein düsterer Schrecken, der mir wie aus dem Nichts durch Mark und Bein fährt – und das, während ich schlafe. Und diese Angst, sie ist mit etwas anderem gemischt: Schmerz. Diese Angst muss aus Tiefen kommen, in die ich zuvor noch nie geblickt habe. Sie ist Ohnmacht. Pure Ohnmacht.

Ich lege meine Arme um mich, ganz fest, während ich mich langsam vor- und zurückwiege. Da sitze ich nun, minutenlang, im Schutz meiner eigenen Umarmung und spüre eine tiefe Leere.

»Was ist das nur?«, frage ich kaum hörbar und fast apathisch in den Raum und lasse mich irgendwann erschöpft zurück auf mein Kissen gleiten. Neben mir höre ich ein gleichmäßiges Schnaufen. Mathis ist bereits wieder eingeschlafen. Während ich die Augen schließe und langsam selbst wieder schläfrig werde, zieht es in meinem Herzen. Ich bin einsam. Ich bin so schrecklich einsam.

Jede Nacht, da geht die Welt unter.

Und du, du kommst nie mehr wieder, Papa.

Vom Sinn und Unsinn von Tapferkeitsmedaillen

Mein Vater starb eineinhalb Jahre nach seiner Diagnose im Alter von 57 Jahren an Speiseröhrenkrebs. Und obwohl ich wusste, dass er sterben würde, glaube ich heute, dass ich trotzdem nicht darauf vorbereitet war. Ich konnte nicht darauf vorbereitet sein, ein Elternteil zu verlieren, ganz einfach, weil ich zuvor noch nie ein Elternteil verloren hatte.

Ich bin zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, eine erwachsene Frau, die glaubt, diesen schweren Verlust mit Stärke und Willenskraft und viel Rationalität verarbeiten zu können. Ich musste kein Kind beerdigen, mein Vater starb vor mir, das ist der natürliche Lauf der Dinge. Es ist die älteste Geschichte der Welt: Ein Mensch stirbt. Menschen verlieren andere Menschen. So ist das nun einmal. Wer bin ich, dass ich mich davon komplett aus der Bahn werfen lassen würde?

In den ersten Wochen nach Papas Tod bin ich vor allem damit beschäftigt, die Fassade einer tapferen Frau aufrechtzuerhalten, die sich von den Umständen dieser Tragödie nicht in die Knie zwingen lassen will. Ich will nicht melodramatisch sein, will nicht, dass sich mein Leben auf den Kopf stellt, ich will ein funktionierender Teil dieser Gesellschaft sein, und ich will nicht das Gefühl haben, dass man sich rund um die Uhr um mich kümmern muss. Ich will normal sein.

Ich will das, was alle anderen auch wollen: etwas erreichen, etwas leisten, nichts verpassen, vielleicht sogar berühmt werden. Und ich will eine Tapferkeitsmedaille erhalten fürs Emotionenschlucken, fürs Tugendhaftsein. Irgendwie gibt mir diese Welt das Gefühl, dass ich bloß nicht ausscheren soll. Wer es wirklich will, der schafft es auch nach oben und lässt sich auch nicht von den erschütterndsten Erlebnissen von seinem Ziel abbringen. Ich denke an meine Beziehung, an meine gerade beginnende Karriere als Redakteurin und Moderatorin und an all die Dinge, die ich mir im Hinblick darauf noch vorgenommen habe. Wo werde ich landen, wenn ich das jetzt alles schleifen lasse?

»Ich kann das schon, ich muss jetzt stark sein«, sage ich mir gebetsmühlenartig immer wieder, das tat ich auch in der Zeit, als mein Vater zwar noch am Leben war, ihn die Folgen seiner Krankheit aber immer mehr körperlich zeichneten. Ich will nicht wahrhaben, wie sehr auch mich diese Zeit geschwächt hat. Wie sehr die Tatsache, dass sein möglicher Tod ständig, aber unausgesprochen als Drohkulisse über unserer Familie thronte und die Hoffnung auf eine Heilung immer geringer wurde, an mir und meiner eigenen Lebenskraft gesaugt hat. Gleichzeit fühle ich mich schuldig, fürchterlich schuldig, weil ich der Hilflosigkeit über sein Schicksal ausgeliefert war und weiterleben darf, während er am Ende doch sterben musste. Wie konnte ich einfach so weitermachen, während er wusste, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb?

Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, in dem es um die Erfüllung meiner Träume geht und ich die Möglichkeit habe, die Weichen dafür zu stellen. Ständig versuche ich, die Balance zu halten, zwischen zwei Welten, denen es immer schwieriger fällt, nicht ineinander zu verschmelzen: Im Außen bastle ich an meiner Karriere, drehe, werde auf Castings eingeladen. Ich will gute Arbeit abliefern. Ich will smart, hübsch und selbstbewusst wirken.

In mir spielt sich aber immer der gleiche Horrorfilm ab: Papa verliert seine braunen Locken. Papa kotzt. Papa wandert nachts durch die Wohnung und hat Angst. Papa am Atemgerät. Papa im Rollstuhl. Papa beugt sich zu Mama und sagt leise: »Das ist mein letzter Frühling.«

Wo bleibt die University of Life, wenn man sie braucht? Nach eineinhalb Jahren Krebszeit, die unsere gesamte Familie befallen hat, bin auch ich bis in die kleinste Zelle meines Körpers ermüdet vom Terror dieser Bilder – und dem Aufrechterhalten einer Fassade. Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich diese Bilder einfach so teilen kann. Dass es in dieser Gesellschaft viel Platz gibt für das Thema Sterben.

Als Papa dann tot war, dachte ich, ich könnte irgendwie weitermachen, ohne den großen Knall zu spüren.

Ich will der Trauer nicht zu viel Raum geben, sie macht mir Angst, ihre Rohheit bedroht mich und meine Pläne für mein Leben. Ich bin nicht mehr stark, will es aber zumindest so aussehen lassen. Aber die Kraftreserven, die ich aufbringen muss, um das Kartenhaus nicht einstürzen zu lassen, sind schon bald aufgebraucht …

Vier Wochen später – Der Absteiger der Woche

»Das sind die Aufsteiger der Woche«. Ich wiederhole die Überschrift des Posts, zu dem ich gerade in meinem Facebook-Feed gescrollt bin, in kaum hörbarer Lautstärke. Auf dem Foto zum Artikel eines Onlinemagazins, das jede Woche Köpfe und Unternehmen der Digitalbranche als besonders erfolgreich und somit als Aufsteiger kürt, ist eine hübsche, langhaarige Brünette zu sehen. Sie lächelt mit weißen Zähnen vor einem weißen Fotostudiohintergrund, ihren Kopf und die Augen direkt in die Kamera gerichtet. Die Aufsteigerin der Woche hat vor nichts Angst, das sieht man gleich. Ihr Blick sagt so etwas wie »Ich bin ein proaktiver High-Achiever mit echten Core-Values, der seinem Unternehmen die passende Rendite einfahren wird.« Oder vielleicht auch einfach nur: »Yay, yay, yay!« Die langhaarige Brünette mit dem kessen Lächeln trägt Perlenohrringe und eine perfekt gebügelte hellblaue Bluse über einem – mit Sicherheit – perfekt gereinigten dunkelblauen Blazer. Mit diesem Look würde sie jeden Contest zur Mrs.-Klischee-Unternehmensberaterin gewinnen. Die Aufsteigerin bietet keinerlei Angriffsfläche, außer vielleicht der, dass sie keinerlei Angriffsfläche bietet.

»Du tust Menschen unrecht und bist eine zynische Kuh«, denke ich mir noch, mühe mich aber dann trotzdem nicht ab zu erfahren, für welche Leistungen die Dame ihren Titel erhalten hat. Stattdessen quäle ich mich hoch in Richtung Spiegel. Beim Aufstehen wird mir wie immer schwarz vor Augen – und schon geübt darin, mich trotzdem weiter auf den Beinen zu halten, laufe ich die fünf Schritte in Richtung meines Ziels, ohne eigentlich zu wissen, warum ich es überhaupt zu meinem Ziel gemacht habe. Als Kind habe ich einmal gesehen, wie einem Huhn der Kopf abgehackt wurde. Und fand es erstaunlich und zugleich zum Gruseln, wie das Huhn immer weiterlief, ohne Kopf und ohne Ziel und Richtung. Bis es irgendwann umfiel und sich nicht mehr bewegte. Warum habe ich immerzu das Bild dieses verdammten Huhns vor Augen?

Eine andere langhaarige Brünette steht da nun vor dem Spiegel. Wie eine Gewinnerin sehe ich nicht gerade aus. Der Händedruck der Aufsteigerin würde mich in diesem Moment wahrscheinlich sofort zu Boden zwingen. Statt einer hellblauen Businessbluse trage ich Unterwäsche, die natürlich nicht zusammenpasst. Darüber meinen – immerhin auch hellblauen – Lieblings-Billigkimono, den mir meine Stewardess-Freundin Kathrin aus China mitgebracht hat und dessen Gürtel ich immer irgendwo verliere und dann nicht suche, weil es mir eigentlich auch egal ist, ob mein Lieblings-Billigkimono offen steht. Geschweige denn, wie ich im Allgemeinen aussehe. Außer ich habe eine schlechte Pizza bestellt, was sowieso nur noch selten passiert, da ich eigentlich nie Hunger habe. Ich bin sehr eitel, nicht gerade eine Eigenschaft, auf die ich stolz bin. Aber an meiner noch oder nicht mehr vorhandenen Eitelkeit kann ich zumindest festmachen, wie es um mich steht. Solange es mir noch nicht ganz egal ist, ob ich dem Pizzaboten nicht mehr ganz frisch riechend und in hässlicher Unterwäsche die Tür öffne, gibt es auch noch etwas Lebenskraft. Gerade würde ich zumindest versuchen, den Billigkimono lose zusammenzuhalten.

Meine Haare sind dennoch ungekämmt, meine Haut blass, und ein seltsam regungsloses Paar brauner Augen starrt durch mich hindurch. Ich sehe aus wie nach einer langen und durchzechten Partynacht, nur ohne Reste von Wimperntusche unter den Augen und auch ohne einen versöhnlichen Gesichtsausdruck, der verrät, dass der Qual erst Freuden vorausgegangen sind. Eine sich Quälende ohne Freuden. Das bin ich.

Ich glaube, ich habe länger nicht geduscht. Nein, ich weiß natürlich, dass ich länger nicht geduscht habe. Ich stelle mir vor, meine bleiernen Beine ins Badezimmer tragen zu müssen und mit meinen bleiernen Armen eine Shampooflasche zu öffnen, deren Inhalt ich dann auch noch mit meinen bleiernen Fingern auf meinem langsam arbeitenden Kopf verteilen muss. Urgh. Das Wasser auf meiner Haut wird sich nicht wohltuend, sondern wieder wie ein fast schmerzhafter Reiz anfühlen, weil mein Körper vom ganzen Liegen so seltsam taub geworden ist. Beim Gedanken daran, welche Energie mich das anschließende Abtrocknen und die Tatsache, dass ich mich bücken müsste, um aus meinem Schrank neue Unterwäsche zu suchen, kosten würde, steige ich aus. Ich könnte nach dem Duschen auch ganz schnell nackt und nass ins Bett rennen, denke ich. Dort würde ich dann von allein trocknen, während ich im warmen Schutz meiner Bettdecke langsam wieder einschlafe.

Der Gedanke an einen ruhigen Schlaf hat in den vergangenen Wochen wohl das einzig wohltuende Gefühl in mir ausgelöst. Wenn das Aufwachen nur nicht so schrecklich wäre.

Ich stehe immer noch wie angewurzelt vor dem Spiegel und erkenne, dass das Letzte, was mir gerade möglich ist, die Tatsache ist, nackt und nass ins Bett zu laufen. Und schon gar nicht schnell. Dazu müsste ich erst einmal einen Grund finden, warum ich mich überhaupt waschen sollte. Ich müsste einen Grund finden, warum irgendeine Handlung gerade überhaupt Sinn ergeben würde. Die Person, die mir da entgegenblickt, ist mir fremd, ich fühle mich ihr noch nicht wirklich nahe, und ich kann sie auch noch nicht wirklich verstehen.

Zwischen mir und ihr liegt die Erinnerung an eine andere Welt, die erst vor Kurzem endete. Die Welt von früher.

Früher, da konnte diese Person noch arbeiten und lachen und schlaue Sachen sagen, und außerdem duschte sie zweimal am Tag. Früher, da war sie vielleicht ein »Achiever«, so wie die Aufsteigerin. Was auch immer das bedeuten mag. Früher, da sagte man ihr, dass sie alles besäße, was ein neues TV-Talent so braucht: Witz und Charme und eine schöne Stimme. Auch ein hübsches Gesicht und die Gabe, ganz lange Schachtelsätze verständlich zu präsentieren. Und gute Fragen zu stellen. Früher war ihr wichtig, dass man ihr das gesagt hat.

Nur die, die das früher gesagt haben, haben sich auch schon lange nicht mehr gemeldet. Jetzt ist sie nicht mehr so wie früher, jetzt ist sie seit drei Wochen krankgeschrieben und sitzt die meiste Zeit in ihrer Wohnung, genau genommen liegt sie dort. Wegen der komischen Zustände, die sie in der Redaktion bekam und für die sie sich fürchterlich schämt. Weil plötzlich alles in Zeitlupe ablief und die Szenen vor ihr nicht mehr echt wirkten und sie nicht mehr atmen konnte und dachte, sie wäre verrückt geworden. Und sie aus dem Büro ins Grüne stürmte – wie ein Huhn ohne Kopf und ohne Ziel – und ihrem verwirrten Kollegen, der gerade rauchte, zurief, sie glaube, sie müsse sterben. Und weil alle sehen konnten, wie der Krankenwagen kam. Und hörten, wie die Sanitäter sagten, dass sie gar nichts habe. »Sie sind janz jesund, junge Dame. Vielleicht wat Psychisches.«

Und sie im Arm der Personalchefin lag und sich plötzlich all die ungeweinten Tränen und Unmengen an Rotz unkontrolliert ihren Weg suchten, und es schwer verständlich aus ihr herausgeplatzte: »Mein Papa. Es tut so weh. Mein Papa ist tot.«

Was keiner weiß, ist, dass sich dieser Moment wie eine schreckliche Niederlage anfühlte: Denn plötzlich wurde ich zu dieser Person, die mir jetzt im Spiegel entgegenblickt – eine ganz schrecklich schwache Frau. Die nichts mehr wollte, als stark und normal zu sein und genauso leistungsfähig wie alle anderen. Die plötzlich anders war, weil es ihr nicht möglich war, so weiterzumachen wie bisher.

Und weil sich die Trauer ihren Weg sucht. Immer.

Ich bin unfähig, Teil dieser funktionierenden Welt zu sein, in der keiner über den Tod reden will – oder es vielleicht will, aber sich nicht traut. Weil der Tod und das Sterben und dieser unsagbar unerträgliche Schmerz über den Verlust zeigen, wie fürchterlich verwundbar und fragil unser Leben doch ist. Und keiner die existenziellsten Fragen des Lebens, die ich mir auf einmal stelle, hören will. Weil sie uns aus unserem fest gestrickten Sicherheitsnetz herausmanövrieren könnten. Nein, wir vielleicht sogar entdecken würden, dass unser fest gestricktes Sicherheitsnetz eine Imagination ist. Weil wir vielleicht begreifen würden, wie banal es doch ist, eine Aufsteigerin der Woche zu sein. Und wir trotzdem alles Recht der Welt haben, Banalitäten Wert zu verleihen, weil das Leben vielleicht schlichtweg ganz banal ist. Und das ganze Problem eigentlich ist, dass ich nicht mehr damit klarkomme.

Einer flog übers Kuckucksnest

»Wann traten diese Attacken das erste Mal auf?«, fragt mich der Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes in zackigem Ton. Uns trennt ein überdimensional großer orientalischer Teppich und ein Altersunterschied von 40 Jahren. In seiner Hand hält er einen Notizblock und einen Stift, der bereit zu sein scheint, meine psychischen Leiden zu Papier zu bringen.

Der alte Mann blickt mich mit einer Mischung aus väterlicher Fürsorge und angestrengter Erwartung an. Es ist Freitagmittag, und die Sprechstundenhilfe sagte mir bereits am Telefon, dass ich nur schnell und auch nur ausnahmsweise ohne Termin vorbeikommen könne. Mathis sagte mir, ich solle mir Hilfe suchen. Ich weiß, dass ich ihn überfordere, also habe ich angerufen und bin hierher gekommen.

Im Wartezimmer saß außer mir noch eine andere Frau. Verrückt sah sie nicht aus, sie strahlte sogar eher eine gleichmütige Freundlichkeit aus. Wahrscheinlich schon medikamentös eingestellt. »Uff, hör auf, so zynisch zu sein!«, fahre ich mich selbst an. Aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich dieser Situation gerade anders begegnen soll.

»Haaaallo, hören Sie mir zu?«, fragt mich der Psychiater und macht diese Scheibenwischergeste.

»Ja, ähm«, sage ich und räuspere mich. »Als ich das erste Mal geschlafen habe, nachdem, na ja, nachdem mein Vater gestorben war. Vor fünf Wochen.«

»Mmhh«, summt der Psychiater. »Und Sie haben das seitdem jede Nacht?«

»Fast jede. Und tagsüber, da … da bekomme ich so seltsame Zustände. Ich habe das Gefühl, dass sich meine … also ich fühle mich so, als ob sich meine Realität verschiebt. Das ist etwas seltsam. Alles läuft auf einmal viel langsamer ab, und ich bekomme dann so ein Kribbeln im Körper und große Angst. Weil ich glaube, ich sterbe jetzt oder ich werde verrückt. Ich bin aber nicht verrückt, ich hoffe es zumindest. Das ist mir auch in der Arbeit passiert, und deshalb kann ich auch nicht mehr dorthin … gerade.«

Ich höre mir selbst beim Reden zu. Wie soll ich das denn erklären? Wie soll ich erklären, wie das ist, wenn man nicht mehr man selbst ist. Von heute auf morgen. Warum fühlt es sich so an, als sei ich hier bei mir in meiner eigenen Welt und er dort drüben in einer ganz anderen? Ich fühle mich wie in einem Tunnel, der viel zu eng und viel zu dunkel ist und mir diese Beschaffenheit nur erlaubt, mich Schritt für Schritt langsam zum nächsten Punkt vorzutasten. Sogar das Reden strengt mich an.

Der Psychiater sieht mich ernst an. »Na, ein Elternteil zu verlieren, ist ein großer Einschnitt in das Leben eines Menschen, nicht? Da kann man schon einmal Depressionen oder eine Panikstörung bekommen«, sagt er ein bisschen weniger zackig.

Ich fühle mich erkannt und abgestempelt zugleich.

»Und, was kann ich nun für sie tun?«, fragt er und betont dabei »ich« besonders.

Verdammt, ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er es nicht einfach wegmachen könnte, sage aber stattdessen erst einmal nichts.

»Glauben Sie, dass ich wieder normal werde?«

Der Psychiater lächelt jetzt ein wenig aufmunternd. »Bestimmt«, sagt er. »Aber wir sollten Sie ihm Auge behalten. Ich gebe Ihnen erst einmal Notfallmedikamente mit. Sie nennen sich Tavor und sind ein Beruhigungsmittel.«

»Ich will keine Medikamente. Ich will das nicht«, schießt es aus mir heraus. Ich bin wütend über seinen Vorschlag. Tabletten gegen seelischen Schmerz, mir kommt das falsch vor. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Einnahme von Medikamenten ein Eingeständnis ist, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Obwohl ich natürlich eigentlich weiß, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Der Psychiater nickt. »Na, sie müssen Sie ja nicht nehmen. Es sind auch nur ein paar, denn die können abhängig machen. Also gilt hier sowieso: Vorsicht, Vorsicht!« Er wackelt mit dem Zeigefinger. »Manchmal hilft es schon, sie in der Tasche zu haben.«

Nun nicke ich auch. Okay, für den Notfall. Ich atme tief durch.

»Wir sehen uns nächste Woche wieder, bitte machen Sie einen Termin aus«, sagt er und erhebt sich. Ich gehe mit ihm zur Tür. Wir bleiben kurz stehen, und er sieht mir in die Augen.

»Es wird besser«, sagt er und gibt mir zackig die Hand. »Trauer braucht viel Zeit, und es schmerzt erst einmal lange.«

»Danke«, sage ich und bin überrascht davon, dass mich seine Worte ein wenig erwärmen.

Ich betrete die Straße mit meinen Notfallmedikamenten in der Tasche und fühle mich ein bisschen sicherer in dieser Welt. Aber ich glaube nicht, dass es an den Medikamenten liegt. Es liegt an den letzten Worten des Psychiaters.

»Seltsam«, denke ich. »Immer wenn jemand Verständnis dafür zeigt, was ich fühle, hilft das. Ich glaube, es ist das Spiegeln, das Verstehen, das Würdigen. Es erschafft eine Verbindung, die wie ein heilender Balsam auf meinen Zustand wirkt und mich für einen Moment Geborgenheit spüren lässt.«